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Sollbruchstelle: Ein Fall von Adel
Sollbruchstelle: Ein Fall von Adel
Sollbruchstelle: Ein Fall von Adel
eBook282 Seiten3 Stunden

Sollbruchstelle: Ein Fall von Adel

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Über dieses E-Book

Ein Mann adliger Herkunft ist spurlos verschwunden. Er war nahe daran, den Stammsitz der Familie rückübertragen zu bekommen. Da war er den neuen Besitzern doch sehr im Wege.
Für Anwalt Richard-Anton Punzel verdichten sich schnell die Hinweise darauf, dass der Vermisste kaltblütig beiseite geschafft wurde. Sein Team hilft ihm mit erprobtem Spürsinn und Humor auf die Sprünge, und zusammen entdecken sie ganz nebenbei ein Netzwerk von Korruption und Niedertracht.
In Punzels zweitem Fall ist die Spannung so greifbar wie die mit allen Sinnen betriebene Freude am Ermitteln. Eine Lesegenuss - auch für diejenigen, die witzige Wendungen und Dialoge zu schätzen wissen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum2. Sept. 2021
ISBN9783347350595
Sollbruchstelle: Ein Fall von Adel

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    Buchvorschau

    Sollbruchstelle - Tom Gear

    1

    Nur wenige Minuten nach der Landung war er schon wieder startklar. Urlaub schön und gut, aber Punzel wollte wieder aktiv werden. Er hatte in den letzten Monaten richtig Spaß an der Arbeit gefunden, am Ermitteln in Strafsachen. Der Doppelmord an den Frauen aus dem Swingerclub war nur der erste spektakuläre Fall gewesen. Damit war er in die Medien gekommen, und seitdem hatten sich weitere Klienten an ihn gewandt, um mit seiner Hilfe Verbrechen aufzuklären und zu ihrem Recht zu kommen.

    Die Woche mit Gina auf Sardinien hatte seine Akkus wieder vollständig aufgeladen. Von den sonnigen Tagen musste Punzel im düsteren Berliner Herbst noch lange zehren. Aber lange konnte es ja nicht mehr dauern, dann würde die Klimakatastrophe schon für einen erneut viel zu warmen Winter und einen heißen Frühling sorgen.

    Unmittelbar nachdem er ihr Gepäck vom Band gehievt hatte, trennten er und seine Reisebegleiterin sich. Sie waren sich während der wohlverdienten Auszeit an Strand und Bar sehr zugetan gewesen. Auch hatten sie es geschafft, die ganze Zeit keinen einzigen Blick auf Handy-Nachrichten zu werfen. Jedenfalls Punzel nicht, oder jedenfalls nur ganz selten, nicht öfter als vielleicht fünfmal am Tag. Was Ginas diesbezügliche Askese anging, war er ganz sicher, sich auf sie verlassen zu können. Um so eiliger hatten sie es, sich sobald wie möglich nach dem Touchdown wieder um ihre Geschäfte zu kümmern.

    Vom Flughafen fuhr Punzel auf nur eine Stippvisite in seiner Wohnung vorbei, machte sich frisch und „headed for the office". Er hatte keine Ahnung, warum er gedanklich in diese Sprache verfiel, vermutlich, weil er auf der Mittelmeerinsel mehr Englisch zu sprechen gezwungen war, als er eigentlich beabsichtigt hatte. Sein Italienisch allerdings war auch nicht gut genug, um damit sehr weit zu kommen. Und des Sardischen war er nun absolut gar nicht kundig. Vom Anwaltsdeutsch, ja, davon verstand er was, und das würde in den nächste Monaten erst einmal wieder seine Lingua franca sein.

    Punzel, der in letzter Zeit überwiegend gut gelaunte, 1,75 Meter große, dunkelblond gelockte, etwas untersetzte Vertreter des Rechts, hatte im Urlaub seinen 36. Geburtstag begangen. Kein Deut weniger gelenkig als vor diesem Jahrestag stürmte er förmlich an der Grabmalausstellung im Vorgarten des Hauses vorbei, in dem sich seine Kanzlei mit den Kollegen Dr. Schult und Kühne befand, und flog die Treppen der ersten beiden Etagen hinauf, ehe er der ungewohnten Anstrengung Tribut zollen musste. Doch erreichte er den vierten Stock schließlich glücklich, wenn auch außer Atem. Als er in die Kanzlei eintrat, staunte er nicht schlecht, als Romy zwar mit einem entspanntem Gesicht aufblickte, dieser Ausdruck sich aber augenblicklich verdüsterte. Keine Spur von dem so lieb gewonnenen entzückenden Lächeln seiner Assistentin.

    „Romy, was ist los? Was soll dieser feindselige Blick? Ich bin's, Ihr so schmerzlich vermisster Chef, glücklich zurück von gar nicht mal so fernen Gestaden."

    „Herr Punzel", sagte Romy nur und schien sich in Papierkram vertiefen zu wollen. „Willkommen zurück! Sie wundern sich, dass ich so reserviert bin? Was würden Sie denn sagen, wenn ich einfach mit einer anderen in Urlaub fahren würde?"

    „Das würde mich gar nicht stören. Oder müsste es das, mit einer Frau?"

    „Sie wissen ganz genau, was ich meine. Sie betrügen mich, während ich hier für ein Butterbrot die Stellung halten muss. Und da verlangen Sie ein Lächeln?"

    „Aber das mit Gina, das ist doch nur …"

    „Genau davon rede ich ja, von Ihren Schweinigeleien. Pah, eine bessere Reisebegleiterin bin allemal ich."

    „Sagt wer? Ihre zahllosen Reisebegleiter? Sie werden sehen: Ich zaubere Ihnen schon wieder ein Lächeln ins Gesicht."

    „Da bin ich aber gespannt, wie Sie das anstellen wollen."

    „Heute Mittag, Sie sind eingeladen. Beim Italiener. Dem guten."

    „Um eins?"

    „Wenn ich Ihre Turtelei kurz unterbrechen dürfte." Keiner von beiden hatte bemerkt, dass Dr. Schult aus seinem Zimmer gekommen war und nun in beider Rücken stand. Eine Antwort wartete er nicht ab.

    „Willkommen daheim, Punzel! Und sicher stirbst du schon vor Hunger nach Arbeit. Siehst du: Dir, Mann, kann geholfen werden."

    Sein Kompagnon wollte etwas einwenden, doch Dr. Schult ließ keine Zwischenfragen zu.

    „Angenehmes und Nützliches verbinden ist die Devise. Dazu möchte ich dich gleich heute Abend in die sogenannten Besseren Kreise einführen. Wenn nicht gleich in die besten. Hier! – er übergab Punzel ein Billett –, „die Einladung zu einem Empfang einer gemeinnützigen Stiftung in ihrer Residenz am Stölpchensee. Bin ja öfter in der Nähe, mein Golfplatz liegt dort. Egal. Wir, also unsere Kanzlei, zeigen dort heute Präsenz. Ein bisschen gut Essen und edle Getränke und Smalltalk, du weißt schon. Kann uns auch beruflich nur nutzen.

    Punzels Begeisterung hielt sich in Grenzen. Widerspruch ließ Dr. Schult aber nicht zu.

    „Ich hole dich um sieben hier ab. Wir müssen ja mit einem angemessenen Wagen vorfahren. Zieh dir was Ordentliches an. Also, pünktlich!"

    Und damit war er auch schon wieder in seinem Büro verschwunden.

    „Um sieben, natürlich, ganz klar", hauchte Punzel dem längst Entwichenen hinterher.

    „Was ist denn jetzt? Um eins?" Romy holte ihn zurück in die Vor-Dr.-Schult-Zeit.

    „Nein, um sieben, das haben Sie doch gehört", wandte sich Punzel zu seiner Assistentin.

    „Ihre Einladung kam früher als dieser Gestellungsbefehl. Können Sie sich noch an die Vorgänge von vor zwei Minuten erinnern?"

    „Aber Romy, ich habe ein Elefantengedächtnis. Wir beide treffen uns um eins, nicht wahr? Wir gehen in …, nach …"

    „Zum Italiener. Dem guten, half Romy aus und zweifelte noch stärker an Punzels Zauberkünsten hinsichtlich des Lächelns in ihrem Gesicht. „Alles andere ist heute zweitrangig.

    „Zweitrangig, genau, die Ersten Kreise der Gesellschaft seitzen heute auf den billigen Plätzen."

    Im Zweifel war ihm Romys Gesellschaft in jedem Fall lieber als sich aufzubrezeln, um einen steifen Empfang mit seiner Gegenwart zu beehren; oder wohl eher: ihn damit zu belästigen. Aber Punzel sah ein, aussichtslos war es zu versuchen, Dr. Schult von seinem Entschluss, ihn dort einzuführen, abzubringen. Entweder hatte der begonnen, Punzels Arbeit als Anwalt wirklich zu schätzen – möglich –, oder er sah die Chance, von seines Kompagnons jüngstem Ruhm zu profitieren – sehr viel wahrscheinlicher.

    Immerhin war Punzel kürzlich schon mit einem ziemlich Prominenten, einem Landesgruppen-Chef im Deutschen Bundestag, bekannt geworden. Dem hatte er in einer Schadenersatzklage gegen ein Satireblatt zu einem Verhandlungserfolg verholfen. Punzel war bei der Angelegenheit nicht ganz wohl gewesen, denn der Politiker hatte sich die ironischen Attacken in Wort und Bild wegen seiner eitlen Art bei gleichzeitig saudummen Vorschlägen zur Verkehrspolitik mehr als verdient. Aber der Anwalt konnte es sich nicht leisten, ein so einträgliches Mandat abzulehnen. Und, tröstete er sich, der Schlimmste von allen war dieser Volksvertreter Dr. Breuer ja auch wieder nicht. Auf diese Geschichte hatte sich die Presse im übrigen auch wieder gestürzt. Punzel blieb im Gespräch.

    „Also, dann hellen Sie mal meine Stimmung auf!" Romy hatte gerade den ersten Bissen ihres Carpaccios mit geschlossenen Augen genossen, als sie von Punzel die Einlösung seines Versprechens einforderte.

    „Na, alles deutet darauf hin, dass ich auf dem besten Wege bin, antwortete der. „Die Vorspeise ist mir schon mal eine Hilfe. Und dann der Wein. Probieren Sie den Roten doch gleich mal. Dem Cannonau habe ich jeden Abend auf Sardinien zugesprochen, und er war gleichfalls ziemlich beredt. Urteilen Sie selbst! Salute!

    Tatsächlich erwies sich auch das so gelobte Getränk als Stimmungsaufheller.

    „Sommer, Sonne, Mittelmeer", fasste Romy das Ergebnis der Weinprobe zusammen und war versucht, dem ein Lächeln hinterherzuschicken. Aber so leicht darf man es untreuen Männern natürlich nicht machen.

    „Um Ihrer Absolution ganz sicher zu sein, möchte ich gleich noch die nächste Einladung aussprechen. Nicht zum Essen, nicht in eine Bar – obwohl wir mal wieder einen guten Cocktail im Think, Drink. zu uns nehmen könnten – nein. Ich sehe ja, dass Sie sich ein wenig unterfordert fühlen von der Arbeit in der Kanzlei. Was halten Sie deshalb davon, wenn Sie mich bei meinem nächsten Fall wieder unterstützen, wie damals, als wir unseren Doppelmörder im sinnLich-Club gemeinsam das Geständnis entlockt haben? Sobald wieder ein Fall hereinkommt, bei dem ich auf Ihren Esprit angewiesen bin, sind Sie dabei. Was halten Sie davon?"

    „Herr Punzel, Sie wissen, wie man eine Frau herumkriegt", erwiderte Romy, mehr anerkennend als übermäßig erfreut. Sie hob aber ihr Glas, und so stießen sie mit dem sardischen Wein an, zum Zeichen, dass die Verabredung galt.

    Jetzt endlich ließ sie ihr wohlvertrautes und anbetungswürdiges Lächeln wieder aus dem Kerker von Missgunst und Eifersucht frei.

    „Also gut, Sie haben es mal wieder geschafft. Das, mein unvergleichliches Lächeln, ist die Münze, mit der ich zahlen kann. Und ich zahle immer bar."

    „Mir allemal lieber als seelenlose Kontobewegungen, pflichtete ihr Chef Romy bei. „Dennoch: Auch finanziell wird Ihre Hilfe ganz sicher nicht Ihr Schaden sein.

    Es hatte den Anschein, auch wenn das Gespräch an dieser Stelle ins eher Geschäftliche abgedriftet war, dass sich Romys legendäres Lächeln fortan noch eine Spur zauberhafter entfaltete. Das war aber gar nicht entscheidend. Punzel jedenfalls war selig.

    Nachdem auch Hauptgericht und Dessert zur vollen Zufriedenheit beider ausgefallen waren, gab Romy fürsorglich Punzel noch zu bedenken, dass er für die prunkvolle Abendgesellschaft noch in ein angemessenes Outfit steigen müsse.

    „Und ich vermute, damit sieht es in Ihrem Kleiderschrank eher mau aus."

    Sie wusste gar nicht, in welchem Ausmaß sie recht in dieser Annahme ging. Punzels Gesicht begann augenblicklich vor Verlegenheit zu knautschen.

    „Dachte ich mir's doch. Was halten Sie davon, wenn ich Sie heute Nachmittag bei einem Anzugkauf begleite? Es sei denn, Ihre famose Reisebegleiterin erhält das Privileg."

    Ihr Arbeitgeber schüttelte noch ein Stück verlegener den Kopf.

    „Dann will ich mal nicht so sein, fuhr sie fort. „Es ist aber ein einmaliger Service, und auch nur, weil es mir ein ganz klein wenig Spaß machen wird, sie zu verkleiden.

    Sie leerte ihren Caffè und blickte ihn herausfordernd an. Punzel fiel keine sonderlich originelle Formulierung seiner Ergebenheit ein.

    „Das würden Sie tun? Sie glauben nicht – oh doch: Sie wissen ganz genau, welchen Gefallen Sie mir damit tun. Und dann, misstrauisch werdend, lauernd, fügte er an: „Sie werden mich doch nicht durch eine alberne Kostümierung in Misskredit bringen?

    Romy lachte, jetzt völlig entspannt.

    „Ihren Kredit haben Sie bei mir ohnehin erst einmal aufgebraucht. Aber keine Angst: Wir werden Ihnen einen wunderbaren Anzug von der Stange verschaffen. Und dazu ein, zwei damit aufs feinste harmonierende Binder. Halt, nein, ich weiß was viel Besseres, fast Überwältigendes. Ich wollte schon immer mal einen Mann mit Plastron haben. Sie werden es sein."

    Bevor er sich, vorsichtshalber errötend, erkundigen konnte, um was es sich bei einem Plastron handelte, drängte ausgerechnet die Angestellte zum Aufbruch. Es galt für sie und ihren Chef wieder den Ort aufzusuchen, von dem aus sie nicht nur Ihre Einkünfte aus einerseits selbständiger, andererseits abhängiger Beschäftigung erzielten, sondern auch ihren Teil dazu beizutragen, der Gerechtigkeit zu ihrem Recht zu verhelfen. Wobei es allerdings Anwälten wie auch ihren staatsexamenlosen Mitarbeitern klar sein sollte, dass ein Satz, in dem Recht und Gerechtigkeit in einen Zusammenhang gebracht werden, zu keiner sinnvollen Aussage führen kann.

    Punzel war ausreichend angeheitert, um wieder einmal einen Versuch zu unternehmen, seinen Hut mit einem Wurf aus kurzer Distanz am Garderobenhaken in seinem Zimmer zu platzieren. Das ging verlässlich schief. Bücken, Kopfbedeckung aufheben, über den Haken stülpen – alles inzwischen Routine.

    Nie gehört aber waren Romys letzte Worte, bevor er geschäftig tuend in seinem Büro verschwand.

    „Sie und diese … Sie hatten ein Doppelzimmer. Leugnen Sie nicht!"

    2

    „Der feine Herr geht also zum Bankett, spottete Gustav am Telefon. Sein Kompagnon hatte Punzel angerufen, weil er ihn willkommen heißen wollte und sie sich im Büro nicht gesehen hatten. „Klar, er ist ja jetzt auch ein Prominentenanwalt. Geh ruhig, mir bleiben immer noch die Brosamen des Arbeitsrechts.Vielleicht darf ich ja mal diesen Bayernkanzler vertreten, wenn er mal wegen groben Unfugs endlich geschasst ist.

    Punzel wollte seinem ihm lieb gewordenen Kollegen nicht die Hoffnung auf lukrative und medienwirksame Auftritte nehmen und schwieg vornehm.

    „Überhaupt hätte ich heute Abend gar keine Zeit. Ich muss mich auf eine Verhandlung morgen noch vorbereiten. Mal wieder ein Gütetermin."

    Dieses Wort alarmierte seinen Partner regelmäßig. Prüfend schaute er den um wenige Jahre älteren, kaum größeren, dafür aber deutlich korpulenteren Gustav an, der – um ebenso intensiv zurückstieren zu können – seine modische, breitrandige Brille von der Nase nahm.

    „Gütetermin! Justav, mein Justav, versprich mir, dass du dabei nicht wieder die Pferde mit dir durchgehen lässt. Es handelt sich doch, wie dir der Name vielleicht sagt, um Vermittlung, Einigung, und zwar um eine einvernehmliche. Lass das doch nicht so an dich 'rankommen."

    Ob er mit diesem Appell Erfolg haben würde, daran zweifelte Punzel mit Fug; vor allen Dingen, berufsbedingt, aber mit Recht. Er wusste ja, wie sehr seinem Kollegen und Freund die ewigen Arbeitssachen auf die Nerven gingen. Wie glücklich war Gustav im letzten Sommer gewesen, als er seinen Anteil an der Ergreifung des Frauenmörders Richie hatte leisten können.

    Rechtsanwalt Richard-Anton Punzel fühlte sich verantwortlich. Schon wieder. Denn wenn er schon Romy ein Angebot machte, dass sie, wie erwartet, nicht ablehnen konnte, so würde er auch Gustav eines in Aussicht stellen müssen.

    Fragte sich nur, woher in diesem Fall der Fall kam, also das Verbrechen, das Großdelikt, das Megaprojekt, an dem sich wieder ein größeres Team hätte abarbeiten dürfen? Er konnte ja schlecht selbst in dieser Hinsicht aktiv werden, um Arbeitsplätze und das Glück der ihm Nahestehenden zu sichern.

    Einstweilen vertröstete Punzel Gustav auf ein Feierabendbier im Absacker an einem der folgenden Abende. Dann könnten sie ihr Bündnis erneuern, auch ohne einen aktuellen, brisanten Fall.

    Derjenige, der ihm im Moment am meisten zu schaffen machte, war keiner solchen Kalibers. Es ging um einen Fall von Körperverletzung, immerhin. Sein Mandant war beschuldigt, seinen potentiellen Schwiegervater übel zugerichtet zu haben, so dass der gefallen war und sich das Handgelenk gebrochen hatte. Uwe Seiler, sein Klient, stellte die Vorkommnisse aber so dar, dass der Schwiegervater ins Stolpern gekommen sei, und als er ihn habe auffangen wollen, habe er ihn unglücklich erwischt und ihm den Arm ausgekugelt. Das Opfer, vor Schmerzen laut aufschreiend, habe er daraufhin losgelassen. Dabei sei es heftig hingeschlagen, und bei dem Versuch, den Fall mit der rechten Hand zu dämpfen, habe es dort eben böse geknackst.

    Auch wenn der Schwiegervater ein ziemliches Ekel sei und meine, seine Tochter habe etwas Besseres verdient als ihn, den Abteilungsleiter bei der Arbeitsagentur, würde er ihm doch niemals einen solchen Schaden zufügen, erst recht nicht ausgerechnet bei seiner eigenen Verlobungsfeier. Außerdem habe den Vorfall, der passiert sei, als der Schwiegervater gerade eine weitere Flasche Wein aus dem Keller holen wollte („der Geizhals holte immer nur eine Flasche"), der Bekannte seiner Frau, ein Hubert K., beobachtet und eigentlich auch bezeugen können, dass er, Seiler, unschuldig an dem Unglück sei. Dieser Augenzeuge, Hubert K., begehrte, soweit er das beurteilen konnte, immer noch seine Verlobte Berta von Binnen. Der Betriebswirtschaftler, Faustballspieler und Geschäftsführer einer bekannten Berliner Spedition sei aber ein ausgesprochener Langweiler, und seine Verlobte habe ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er, Seiler, es sei, den sie heiraten wolle.

    Punzel überlegte auf dem Weg – er hatte sich mit Romy am Bekleidungskaufhaus Beck&Quakenbrück verabredet –, dass er noch in der laufenden Woche versuchen würde, dem schwiegerväterlicherseits ungewollten Liebhaber der Braut auf den Zahn zu fühlen. Außerdem wollte er herausfinden, ob es nicht auch Videoaufnahmen von dem Geschehen gab. Das war schließlich nicht unwahrscheinlich, denn auf solchen Feierlichkeiten lief doch eigentlich ständig irgendeine Handykamera.

    Rechtzeitig stand er vor den Toren des Modehauses und konnte nach nur kurzer Wartezeit seiner Assistentin zur Begrüßung einen Wangenkuss schenken.

    Die Abendanzüge in der Herrenabteilung waren schnell gefunden. Beinahe noch schneller allerdings erlahmte Punzels Bereitschaft, all zu viel Zeit und Mühe in den Erwerb einer ihn vorteilhaft kleidenden Kombination zu investieren. Seiner Ansicht nach hatte er den Kulminationspunkt seiner stilistisch-modischen Möglichkeiten mit dem Erwerb zweier Hutmodelle erreicht, ja überschritten. Mit dem ersten dunklen Anzug, den ihm Romy reichte, war er sofort einverstanden und verzog sich in die Kabine.

    Als er aus ihr wieder herauskam, zeigte sich auch seine modische Beraterin sehr angetan von dem Modell, wollte jedoch noch einige andere Optionen testen. Punzel ergab sich in sein Schicksal. Als nach gut einer Stunde Romys – und selbstverständlich auch seine – Wahl auf einen in jeder Hinsicht passenden Anzug gefallen war, nahm Punzel ihn ihr eilig ab und stand im Nu vor der Kasse, zahlte und war mit dem Paket unter dem Arm schon wieder auf dem Weg nach draußen. Romy erwischte ihn am Ärmel und unterband so seine Flucht aus der Konsumwelt.

    „Halt, mein Freund, wer wird denn gleich an die frische Luft gehen, bremste Romy seinen Freiheitsdrang. „Wir haben doch was ganz Wichtiges vergessen.

    „Was haben wir Wichtiges vergessen?"

    „Ein Accessoire, eines, das ich an Ihnen heute nicht missen will, wie Sie wissen."

    „Ach dieses Plastikdingens." Punzel erinnerte sich nur ungenau.

    „Plastron", korrigierte sie mit Nachdruck.

    „Was um alles in der Welt ist denn das jetzt Unanständiges?", wollte Punzel endlich wissen.

    „Für unanständig halten manche Verklemmte ja sogar Schlipse. Aber ein Plastron, ja, ein Plastron", dozierte die Lohnabhängige vor ihrem in diesem Moment gar nicht sonderlich wissbegierigen Chef, „ist eine Art breite Krawatte, aber unvergleichlich viel schicker, von ganz besonderer Eleganz. Sie werden, wie so oft zuletzt, damit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Mitkommen, mitstaunen!"

    Sie riss ihn mit sich fort, eine Wahl hatte er gar nicht. Das ging ihm nicht als ersten so in den Fängen einer Frau, die ihren Liebsten nach ihrem inneren Bilde vorteilhaft auszustaffieren gewillt ist. Fündig wurden sie bei Beck&Quakenbrück allerdings nicht.

    „So etwas Edles gibt es nur im Westkaufhaus", proklamierte Romy, und schon kam Punzel endlich an die begehrte, sagenhafte Berliner Luft. Das aber auch nur für wenige Minuten, dann hatten sie das Berliner Traumhaus der exklusiven Konsumwünsche erreicht.

    Das Objekt ihrer – also Romys –, Begierde fanden sie aber nicht gleich, so dass sie sich Auskunft heischend an einen Angestellten wandten. Der sprach den Begriff übertrieben nasalierend nach, konnte mit ihm aber nichts anfangen, so dass er einen älteren Kollegen hinzuzog. Des alten Fahrensmannes grüne Augen begannen umgehend zu leuchten.

    „Welch seltener Wunsch", freute er sich. „Selbstverständlich steht Ihnen das Westkaufhaus mit einer Auswahl von Plastrons gerne zur Verfügung, nicht wahr? Bitte setzen Sie sich doch und gedulden Sie sich einen Augenblick, n'est-ce pas!"

    Romy und Punzel ließen sich auf den angebotenen Sesseln nieder. Es dauerte nicht lange, und der gute Geist des WEKAHA ließ sich schon wieder blicken, im Arm eine kleine Menge Stoff, bei dem es sich Punzels Vermutung nach um das kleidsame Etwas handelte.

    „Ich bitte um Verständnis, nicht wahr, aber soweit ich mich erinnere, haben wir in diesem Jahr noch keinen Plastron veräußert. Ich habe deshalb im Lager nachgesehen. Ich kann Ihnen eine durchaus modische, ja exquisite Auswahl zeigen. Wenn Sie bitte mal schauen möchten, möchten Sie nicht?"

    Des Verkäufers Arm, über den er die Stoffe gelegt hatte, richtete sich zwar an Punzel, doch war es Romy, die zugriff.

    „Lassen Sie mal sehen: der nicht, der ist zu bunt, der geht, der ist zu grau, und der kam ja schon mit den Streifenhosen aus der Mode."

    Romy wusste wahrscheinlich gar nicht, dass sie soeben, in Gestus und Wortwahl, die Krawattenszene aus Billy Wilders Berlin-Komödie Eins, zwei, drei nachgespielt hatte. Nur der Verkäufer überhörte sein Stichwort, weshalb die Replik „Ach, Sie wollen Streifenhosen!" unterblieb und die Szene insofern defizitär endete.

    „Dieser ist es!", jubilierte Romy endlich, und der Anwalt war drauf und dran, ihr erneut

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