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Von Einem, der auszog.: Ein Seelen- und Wanderjahr auf der Landstraße
Von Einem, der auszog.: Ein Seelen- und Wanderjahr auf der Landstraße
Von Einem, der auszog.: Ein Seelen- und Wanderjahr auf der Landstraße
eBook738 Seiten10 Stunden

Von Einem, der auszog.: Ein Seelen- und Wanderjahr auf der Landstraße

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Über dieses E-Book

Ein Teenager der damaligen Zeit zieht, kurz nach der Beendigung seiner Lehre als Tischler, von zu Hause weg in die Fremde. In einer tagebuchartigen Form beschreibt er das Leben auf seiner Wanderung durch Schlesien, Böhmen, Sachsen. Die gewählte Ich-Form ermöglicht zusätzlich die Beschreibung der Auswirkungen des Erlebten auf das Gemüt.
Eine naturalistische Darstellung des Lebens auf der Landstraße um 1877.
Das Buch behielt seine unverbrauchte Heut- und Morgengültigkeit. Man könnte diesen reinen und schönen, diesen erschütternden und doch auch beseligenden Roman die Odyssee der Landstraße nennen, Aus Wirrsal, Not, furchtbaren Erlebnissen, grauenvollen Abenteuern und lieblichsten Irrtümern ringt sich befreit die ängstliche, nicht verzagende und gleicherweise heroische Seele. Und wie ohne Schwierigkeit, weil ein gelebtes, nicht erdachtes Leben gestaltet wird, kommt leichter Hand eine Kulturgeschichte jener Landstraßenzeit, der großen Handwerksburschenweilt zustande.
Wer dem Erzähler folgt, sieht einen breiten, stillen Strom, ohne reißende Bewegung, ohne blendende Wasserfälle, ohne romantische Burgen und blinkende Schlösser an den Gestaden! Armes Gelichter treibt auf selbst gezimmertem, brüchigem Fahrzeug. An den Ankerplätzen weht der Sturm, der jedes Schiff bald wieder losreißt. Aber siehe, der Fluss hat Schönheit, er ist tief wie das Meer, und eben, weil er so tief ist, geht seine Strömung so ruhig. Wenn der Himmel grau über ihm hängt, dann schleichen im gespenstischen Zwielicht durch seine Ufergebüsche die bösen Geister des Elends, der Verkennung, der Verzweiflung. Auf einmal lacht der Schiffer im Kahn und stimmt ein Lied von seiner großen Freude an. Ihr begreift ihn nicht. Noch ehe sich ein Streifen Sonne durch die Wolken stehlen konnte, hat ihn der Schiffer gefühlt und geschaut. Und seht, ihm lodert die Erde von Reichtum und Glück
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum27. Mai 2014
ISBN9783847690894
Von Einem, der auszog.: Ein Seelen- und Wanderjahr auf der Landstraße
Autor

Paul Barsch

Paul Barsch geb. 1860 in Niederhermsdorf bei Neiße (Schlesien), gest. 1931 in Schieferstein am Zobten. Dann kam er in die Lehre nach Neisse, um seines Vaters Beruf ergreifen zu können, und ging, noch fast ein Kind, auf die Walze: Von Schlesien nach dem Westen und Süden Deutschlands, bis in die Schweiz. Oft saß der Hunger neben ihm am Wegrande. Oft deckte niemand den Wandermüden zu als die mütterliche Nacht.

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    Buchvorschau

    Von Einem, der auszog. - Paul Barsch

    Von Einem, der auszog

    Ein Seelen- Wanderjahr auf der Landstraße.

    Roman von Paul Barsch

    Von einem närrischen Grünling, von einer auf sich selbst gestellten, in sich selbst ruhenden kleinen Kreatur will dieses Bekenntnisbuch künden. Von einem armen Wandergesellen, der von Gott und Welt und Menschenseele nichts wusste. Von einem wegmüden, weltscheuen, verprügelten und dennoch aufrechten Sucher, der sich in Gott, Welt und Menschenseele auf irgendeine beruhigende Weise zurechtfinden wollte. Von Einem, der auszog, um durch die Wirrnis vielfacher Rätsel, die ihn reizten und ängstigten, herzhaften Mutes vorzudringen und vielleicht gar, wenn es anginge, das Wunderkräutlein zu gewinnen. Von einem ergötzlichen Gernegroß, der kaum erwacht, vom Herde der Mutter fortlief, in Seelennot unter fremden Menschen umherirrte, sich in Seelennot auf seinem Marsch ins Leben an allen Ecken und Enden wund stieß, als Mensch in Seelennot mit sich selbst rang und sich durch wirkliche und erträumte Schrecknisse fortkämpfte.

    Das war vor Jahrzehnten. Weitab in der Ferne liegt jenes Seelenjahr. Möglich, dass sich Schleier der Dichtung über die Wahrheit senkten. Wie ein seltsam fremdes Menschenkind mutet mich jenes Kerlchen an, das damals vielleicht ich selbst gewesen bin. Es hat, während ich aus Aufzeichnungen, Erinnerungen und Träumen nachzeichnete, merkwürdig typische Züge angenommen. Als ein echtes Kind der Mutter Schläsing erscheint es mir, das, wie die meisten Sprösslinge dieser schönen Mutter, ein Stückchen Dichter war, wenig für das Leben taugte und dennoch, nach richtiger Schlesierart, nicht zugrunde ging.

    So kündet dieses Seelenjahr: wie die kleine, unwissende, unreife, zaghafte, traumfällige schlesische Menschenseele beschaffen war, ehe sie aus der Enge der Heimat, aus Beschränkung und Unwissenheit, hinaus flatterte in den Trubel der Welt, und wie sie sich draußen in der Fremde wandelte. Vielleicht auch hat sich unwillkürlich eine kulturgeschichtliche Farbe über die Grundzüge dieses Buches gelegt. Vielleicht ist es ein bodenständiges und vaterländliches Buch und das letzte umfangreiche Zeugnis von Wanderpoesie, die sich mit dem Wesen der neuen Zeit nicht vertrug und daher weichen musste; vielleicht ist es gar eine Naturgeschichte des kleinsten deutschen Mannes.

    Eines Schulhauses und eines Pfarrhauses sei hier in Freudigkeit gedacht. Das eine steht in einem weltentlegenen Dörfchen des Schlesierlandes, das andere fern in einer schwäbischen Stadt. Im Schulhause wohnte mein Herzensfreund Johannes, der edle Schulmeister, der heut unter dem angenommenen Namen Philo vom Walde ein ruhmbekannter Dichter und insbesondere ein Lieblingspoet der Schlesier ist; im andern waltete mein trauter Hans Rudolf Schäfer, der weise Stadtpfarrer und feingeistige Schriftsteller, bei frommen und gelehrten Büchern. Im Schulhause und im Pfarrhause fand der Wanderer, von einem gebenedeiten Glücksstern hingeleitet, zum ersten Mal auf seiner Irrfahrt eine sichere Seelenheimat. Ich grüße die treuen Freunde!

    P.B.

    Anton Lindner

    dem Dichter und Menschen

    widme ich

    . . ein armer Mann, wie Hamlet . .

    dieses Jahr einer Seele

    als Zeichen unwandelbarer Freunschaft

    und innigster Kameradschaft

    ( nur in der Ausgabe von 1905)

    Junge Dichter.

    Unser Meister war verschwunden. Alle Gemüter im ganzen Hause waren stark erregt. Die Leute tuschelten einander sonderbare Geschichten zu. Eine alte Marketenderin, die ein Stück unseres Holzschoppens gemietet und darin einen Kaffeeschank für die Soldaten der nahen Kaserne errichtet hatte, wollte mit aller Bestimmtheit wissen, dass der Teufel den Meister geholt habe. Das sei immer so bei den Freimaurern. Eines Tages seien sie fort; man wisse ganz gut wohin. Wenn sie daran denke, dass dieser hübsche Mann im höllischen Feuer büßen müsse, so möchte sie immerfort weinen. Wer habe ihn aber auch geheißen, unter die Freimaurer zu gehen! Der Schneidermeister erklärte, es sei richtig, dass unser Meister vom Teufel geholt worden. Doch er meinte den Schuldenteufel.

    Droben am Fenster des Wohnzimmers saß Cäcilie, die Köchin, und weinte. Zuweilen blickte sie nach dem Fenster der Werkstatt über den Hofraum, wie sie es seit Jahren so gewohnt war. Aber sie tat es nicht mehr in der Absicht, uns durch ihre Blicke zum Fleiß aufzumuntern. Ihre Augen waren dunkel umrandet vom vielen Weinen, und wir kamen allmählich zu der Ansicht, dass sie Gewissensbisse empfinde und uns um Verzeihung bitten möchte für das viele Unrecht, das sie an uns begangen.

    O, sie war falsch und schlecht gewesen zu uns Lehrjungen! Wir erinnerten uns jetzt daran, wie sie uns behandelt hatte, sooft der Meister in Geschäften ausgegangen oder verreist war. Für zwei von uns hatte sie dann beständig Arbeit gehabt. Wir mussten Kartoffeln schälen, den Ofen heizen, Kohlen aus dem Keller holen, Wasser tragen, zum Krämer gehen und Nachrichten zu ihrer Mutter bringen, die in der Vorstadt wohnte. Unterdessen spielte sie mit dem Dienstmädchen Karten. Mit ihrem Dienst beschäftigt, versäumten wir unsere Arbeiten in der Werkstatt, und wenn dann der Meister zornig wurde und uns schwere Nachtarbeiten zur Strafe auftrug, durften wir uns nicht einmal verteidigen. Er glaubte stets nur den Worten Cäciliens; uns hielt er für Lügner und Faulenzer. Cäcilie aber log ihm jedes Mal vor, sie hätte uns höchstens fünf Minuten lang in Anspruch genommen. Wir seien eben – schrie sie dann zum Fenster herab – eine stinkträge Bande; wir müssten geprügelt werden und dürften drei Tage lang nicht zu essen kriegen. Den Gehorsam durften wir ihr nicht versagen; das litt der Meister nicht. Eine Widersetzlichkeit gegen Cäcilie bestrafte er viel strenger, als eine Nichtachtung seiner eigenen Befehle.

    Jetzt freuten wir uns über ihr Unglück, spotteten ihrer und wünschten, dass sie als Köchin in einem Hause Dienst fände, wo sie ebenso schlecht behandelt werden möge, wie wir von ihr behandelt worden… Die Arme! Sie hatte Ursache, sich der Trauer hinzugeben. Die Hoffnung, dass der Meister sie heiraten werde, war zerschlagen. Ach, und die Schmach! Wusste sie doch, dass die Menschen jetzt mit Fingern auf sie zeigen würden. Die Marketenderin sagte uns vertraulich, dass der Vogel mit den langen Beinen schon unterwegs sei; nach ihrer Schätzung könne er bereits in wenigen Wochen bei der Cäcilie eintreffen. Der Meister war Montagabends fort gegangen, angeblich in die Loge, und nicht zurückgekehrt. Acht Tage war das schon her. In den ersten Tagen war Cäcilie der Meinung gewesen, er habe als Freimaurer von der Loge einen geheimen Reiseauftrag erhalten; dann aber hatten ihr einige Logenbrüder bestimmt erklärt, dass dieser Glaube falsch sei. Am Ende der Woche war sie durch Zufall zu der Entdeckung gelangt, dass er aus dem Schreibtisch alles Geld und alle wichtigen Papiere mitgenommen, und nun glaubte sie, er sei ins Ausland entflohen.

    In der Werkstatt ging es bunt und toll zu. Von den fünf Gesellen hatten sich drei entfernt; nur der lange Lorenz und der polnische Lukas waren zurückgeblieben. Diese beiden saßen auf ihren Hobelbänken, tranken „Gemischten" und fluchten auf den verschwundenen Meister. Der lange Lorenz, der gern und mit Stolz in den Erinnerungen einer herrlichen Vergangenheit schwelgte, erzählte wieder einmal allerlei Bruchstücke aus seiner reichen Lebensgeschichte und zog dabei Vergleiche zwischen sich und dem Meister. Er sei ein berühmter Fabrikbesitzer und ein großer Kapitalist gewesen; mit Champagner und Rotwein habe er ein gewaltiges Vermögen fortgeschwemmt; in der Equipage sei er gefahren; sieben Wohnungen und sieben Weiber habe er gehabt, ohne die übrigen Liebsten, und zuletzt sei er fechten gegangen. Für seine Arbeiter und Gesellen aber habe er gesorgt, bis letzten Augenblick. Tief in den Rachen hinein würde er sich schämen, wenn er damals beim großen Krach feige fortgelaufen wäre und seine Leute in Stich gelassen hätte. So etwas bringe nur ein ganz gemeiner Lump fertig.

    Der polnische Lukas hörte nicht zu, wenn der lange Lorenz erzählte; er beschäftigte sich nur mit sich selbst, schüttelte den Kopf und knirschte hörbar mit seinen schneeweißen Zähnen. Ab und zu hieb er in raschen und kurzen Wutanfällen mit dem Hammer auf die Hobelbank. Am sechsten oder siebenten Tage nach dem Verschwinden des Meisters wurde er plötzlich so wütend, dass er den Hammer ergriff und das kunstvoll zusammengefügte Gestell eines Zimmerspringbrunnens, das er mühsam gebaut hatte, in kleine Stücke zerschlug. „Psiakrew, die Bestie! schrie er. „Krieg’ ich noch nix bezahlt! Soll sich holen Diable ganze verfluchtige Arbeit!

    Uns Lehrjungen behagte das alles. Wir hatten die uns aufgetragenen Arbeiten vollendet; nun konnten wir mit ruhigem Gewissen müßig gehen. Cäcilie kümmerte sich wenig um uns; nur wenn sie eines Dieners oder Boten bedurfte, ließ sie einen von uns durch das Dienstmädchen rufen. Sie kochte das Essen, wie sie es sonst getan hatte, und wir bekamen auch unsern Vesperkaffee. Bei Tisch konnten wir uns jetzt nach Belieben satt essen. Das war früher nicht immer möglich gewesen. Die Sitte gebot, dass ein Lehrling nicht öfter als zweimal während des Mittagessens seinen Teller aus der Schüssel füllen durfte. War einer beim Füllen des Tellers zufällig vom Meister oder vom Fräulein Cäcilie angeblickt worden, so hatte ein solcher Blick lähmend eingewirkt auf die Hand des Jungen, und dieser war dann mit ungestillter Esslust vom Tische weggegangen. Das kam jetzt nicht mehr vor, da Fräulein Cäcilie aus Gram oder Scham dem Tische fern blieb, wir also unsere Teller bis an den Rand füllen konnten. Solches Leben gefiel uns, und die Frage, wie es einmal enden solle, machte uns keine Sorgen.

    Um nicht den Blicken und der Kritik des langen Lorenz ausgesetzt zu sein, versteckten wir uns im Ofenwinkel der Werkstatt. Dort vertrieben wir uns die Langeweile durch dichterische Versuche. Wir waren Dichter geworden. Franz reimte ein Gedicht, in dem er seinen Stiefvater einen Geizkragen nannte und ihm prophezeite, dass er für jedes Zehnpfennigstück, das er ihm, dem guten Stiefsohne, auf Erden als Taschengeld vorenthalte, einst je ein halbes Jahr lang im Fegefeuer braten werde. Johann beklagte es in bitteren Versen, dass heutzutage dem Käseleim aus Billigkeitsgründen der Vorzug vor dem Kölner Leim gegeben werde. Ich dichtete ein Trauerspiel. Das sollte fünf Akte haben und den Titel führen: „Das vertauschte Kind."

    Wie wir zu Dichtern geworden waren?

    Im Vorderhause befand sich eine große Wagenbauwerkstatt, und der Wagenbauer hatte einen erwachsenen Sohn, der sich uns Tischlerstiften gegenüber freundlich zeigte. Nach Feierabend durften wir manchmal zu ihm in die Werkstatt kommen; dort saßen wir auf Schemeln und Schnitzbänken und plauderten. Gern redete er von seiner Schwester, die mit einem Assessor verlobt war. Er erzählte uns, dass sie ein großes Glück machte. Der Herr Assessor sei der klügste Mann in der ganzen Stadt, und weil er so klug sei, dürfte er sogar den Herrn Staatsanwalt vertreten. Wie gelehrt er sei, gehe schon daraus hervor, dass er Schillers Werke besitze. Diese Werke habe er jetzt seiner Braut geliehen, damit die darin lese und gleichfalls die höhere Bildung erlerne.

    Die Mitteilung, dass man aus Schillers Werken die höhere Bildung erlernen könne, fesselte mich mächtig, und der Assessor und seine Braut, die so überglücklich waren, aus diesem Urquell der Bildung schöpfen zu können, erschienen mir wie höhere Wesen. Ich fragte unsern gütigen Freund, ob er wisse, was in Schillers Werken zu lesen stünde, oder ob er mir ungefähr sagen könne, wie sie äußerlich und innerlich beschaffen seien. Er gab zur Antwort: „Es sind Bücher, wie alle andern Bücher; aber was darin steht, da können wir uns alle gar keinen Begriff davon machen. Wer Schillers Werke gelesen hat, weiß alles – kurzum alles! Da steht alles drin, was die klügsten Menschen wissen müssen. Wenn einer etwas nicht weiß, braucht er bloß in Schillers Werken zu suchen, und er findet es."

    „Das ist wohl aber schwer zu verstehen?" fragte Johann.

    „Für uns ist es nichts! sagte kopfschüttelnd der junge Wagenbauer. „Meine Schwester ist in der Klosterschule gewesen; dort hat sie verdammt viel gelernt. Wenn das nicht wäre, verstände sie kein Wort davon. Es ist auch vieles lateinisch und in andern Sprachen.

    Ich wusste, dass Schiller ein Dichter war, hatte jedoch noch keine nähere Kunde über ihn vernommen und noch kein Wort von ihm gelesen; auch war mir unbekannt, wo und in welcher Zeit er gelebt. Ich konnte mir kein Bild von dem menschlichen Wesen und den Werken des Dichters machen; doch ich hegte die dunkle Vorstellung, dass er ein Mensch gewesen, der mit seinem Geiste über die höchsten Grenzen des menschlichen Wissens hinausragte und wohl gar in Beziehungen stand zu weisen, übernatürlichen Mächten. Er erschien mir wie das größte und verehrungswürdigste Geheimnis, und ich hätte vielleicht meine Geistigkeit hingegeben, um dafür einen Blick in seine Bücher tun zu dürfen und im Fluge einige der Worte zu erhaschen, die geeignet waren, mir den Weg zur höchsten Bildung zu weisen. Zaghaft verriet ich dem Bruder der glücklichen Braut meine Sehnsucht. Er aber sagte, die Bücher seien so wertvoll, dass die sorgsam gehütet werden müssten. Schiller lag mir fortan im Sinn, und wenn die Braut sich oben am Fenster blicken ließ oder über den Hof ging, betrachtete ich sie mit scheuen Blicken der Andacht. Sie las ja jeden Tag in Schillers Büchern; somit war ich überzeugt, dass ihr alle Weisheit dieser Welt kund und offenbar war. Deutlich sah ich ihr an, dass sie ein unendliches Wissen und die allerfeinste Bildung besaß. Sie fühlte sich auch so erhaben über uns alle, dass sie nicht einmal dankte, wenn wir sie grüßten. Johann behauptete, sie sei die dümmste Gans in der ganzen Stadt und bilde sich einen großen Fetzen ein, weil sie einen Assessor heirate. Er würde sie nicht zur Frau mögen, auch wenn sie hunderttausend Taler hätte; denn sie habe das Gesicht einer Schleiereule. Mich empörten solche Worte gewaltig; sie berührten mich wie eine freche Entweihung einer geheilten Erscheinung, und es kam deshalb zwischen Johann und mir zu bösen Auftritten, bei denen wir uns gegenseitig schmerzhaft an den Haaren zerrten. Ich wusste besser als er, wie das Fräulein zu solchem Stolze kam. Wer Schillers Bücher gelesen hatte, war ebenso über alle Maßen klug, dass er unmöglich noch auf dumme Menschen unseres Schlages achten konnte.

    Eines Abends ärgerte mich der junge Wagenbauer. Wir betrachteten gemeinsam ein Bild der Stadt Paris, das ein Geselle an die Wand geklebt hatte, und ich äußerte dabei, es sei aus der Vogelperspektive aufgenommen worden. Das merkwürdige Wort hatte ich zuweilen unter Städtebildern gelesen, doch nicht klar im Gedächtnis behalten und so war es jetzt falsch zum Vorschein gekommen. Das belustigte den älteren und klügeren Freund, und er verhöhnte mich so arg, dass ich tief gekränkt und weinend in ohnmächtigem Zorn davonlief. Nach einer Weile kam er in unsere Werkstatt und entschuldigte sich. Ich solle kein Narr sein und mich einer solchen Kleinigkeit wegen nicht ärgern. Als er siebzehn Jahre gewesen, habe er das Wort Vogelperspektive auch noch nicht aussprechen können. Er befand sich in so guter Laune, dass ich den Mut fasste, ihn noch einmal zu bitten, mir doch einen Band aus Schillers Werken zu zeigen. Wider mein Erwarten willigte er nach einigem Sträuben ein. „Aber nur zeigen" sprach er und ging hinauf in seine Wohnung.

    Bis in den Hof folgte ich ihm und wartete dort. Gewaltsam suchte ich die innere Erregung zu dämpfen, in dem ich an gleichgültige Dinge dachte und schließlich die Sterne zu zählen begann, die auf der schmalen Himmelsfläche über unserem Hofe inmitten hoher Mauern funkelten. Dabei lastete ein schweres dumpfes, unverstandenes Empfinden auf meiner Seele, das fast beängstigend wirkte. Ich empfand unklar, dass etwas Erhabenes, Mächtiges, Hochherrliches an mich herantreten würde, dem gegenüber ich mich winzig klein und unwürdig fühlte. Eine weitere Ursache meiner fieberhaften inneren Unruhe war wohl der aufrührerische Gedanke, dass mir nun plötzlich ein Werkzeug in die Hand gegeben werden sollte, dessen Hilfe mich schnell in einen gebildeten, wissenden Menschen verwandeln könnte. In mir lebte die unbestimmte Vermutung, es handle sich um geheime Bücher, die nur bevorzugte und glückliche Menschen manchmal erlangen, und als beginge der junge Wagenbauer einen schlimmen Verrat, in dem er mir heimlich Einblick in eines dieser Bücher gewährte.

    Als er nach einer kurzen Weile mit einem Buche in der Hand auf mich zutrat, wurde mein ganzer Körper von der heftigsten Erregung erfasst. Mit bebenden Fingern griff ich danach – nach einem Buche von Schiller…

    „Du sieht ja nichts zum Lesen!" sprach er.

    Richtig! Johann und Franz hatten das Licht ausgelöscht und waren auf den Boden zu Bett gegangen.

    „Lassen Sie mir’s bis morgen früh! bat ich herzlich und dringend. „Sobald Sie in die Werkstatt kommen, bring ich’s Ihnen zurück.

    Er war einverstanden, befahl mir jedoch ernstlich, das treu zu hüten und noch vor dem Frühstück zurückzugeben. Seine Schwester dürfte nicht wissen, dass er es verliehen habe.

    Ich dankte, wünschte ihm eine gute Nacht und begab mich in die finstere Werkstatt. Hurtig verdeckte ich die kleinen Fenster mit Brettern, damit von draußen kein Lichtschein wahrgenommen werden könne; dann zündete ich eine Lampe an, schob sie unter die Hobelbank und umstellte sie von zwei Seiten mit Holzwerk, um dem Lichtschein so den Ausweg zu versperren. Mit hochgespannter Erwartung kroch ich unter die Bank zum Lichte und schlug das Buch auf. Ich blätterte darin und sah, dass es Gedichte und Theaterstücke enthielt. Im ersten Augenblick war ich ein wenig enttäuscht. Was ich erwartet hatte, weiß ich nicht; auf Wunder und Offenbarungen irgendwelcher Art mag ich wohl gefasst und auf den Augenblick gespannt gewesen sein, in dem ich das erste Zeichen von Bildung in mir verspüren würde. Das war aber ein rasch gekommenes und rasch verschwindendes Gefühl; es schien erstorben, als ich die ersten Sätze gelesen hatte. Entschlossen, das ganze Buch sogleich auszulesen, begann ich ganz vorn und versenkte mich mit schwelgender Inbrunst in die Lebensgeschichte Schillers. Mit hungernder Gier sog ich die Zeilen ein und stürzte darauf in glühender Glückserwartung über die Gedichte her. „Hektors Abschied, „Amalia, „Eine Leichenphantasie", - das waren Worte, wie ich sie nie vorher vernommen hatte, - Worte, die eine schauervolle Andachtsstimmung und ein Gemisch von Grauen, Todesbangen, Wehmut, Jubelrausch und Entzücken in mir wachriefen.

    Immer weiter las ich, lernte „Laura, „Die Kindesmörderin, „Minna, „Die Größe der Welt und den „Triumph der Liebe" kennen, der für mein unersättliches Gemüt ein besonders großartiges Schwelgermahl bedeutete; oft aber hielt ich inne und blätterte zurück, um die Augen zu ergötzen an Versen, die mir immer wieder durch den Sinn klangen und manchmal so kräftig ertönten, dass sie mich im Genuss anderer Gedichte störten. Am ärgsten trieben es Verse, wie:

    Nasse Schauer schauern fürchterlich

    Durch sein gramgeschmolzenes Gerippe,

    Sein’ Silberhaare bäumten sich - -

    und:

    Josef, Josef! Auf entfernte Meilen

    Folge dir Luisens Totenchor,

    Und des Glockenturmes dumpfes Heulen

    Schlage schrecklich mahnend an dein Ohr

    und:

    Tote Gruppen sind wir, wenn wir hassen,

    Götter, wenn wir liebend uns umfassen.

    Das waren – ich empfand es mit überzeugender Macht – Worte der Befreiung, der Erlösung; sie brachten meine Seele zur Raserei, bis sie hinaus wollte aus ihrem engen Körperhause, - hinaus zu den Menschen, um ihnen frohlockend zu künden, dass sie Götter seien, wenn sie einander nicht mehr hassten, sondern liebend umarmten. An Johann dacht ich, der oft niederträchtig zu mir gewesen und mir erst am Tage vorher zwei Eier gestohlen. Eine fremde Henne hatte sie in unseren Schuppen gelegt, und ich fand sie auf. Das eine schenkte ich ihm; er aber nahm beide und trank sie aus. Ähnliche böse Taten waren oft von ihm begangen worden. Nun aber sollte er hören aus meinem Munde, was Schiller sagt; er sollte sein Unrecht erkennen lernen, Reue empfinden, mich umfassen und mit mir ein Gott werden.

    Der Körper, in dem sich in solcher Weise die verzückte Seele wild und wollüstig gebärdete und alle Seligkeiten kostete, lag unbeweglich unter der Hobelbank; einzig nur die Finger regten sich beim Umblättern der Seiten. Das „Lied an die Freude wirkte fast betäubend auf mich durch seine berauschende Liebesmacht. Ich las es ein zweites Mal, und Wort um Wort prägte sich mir ins Gedächtnis ein. Aus der „Zerstörung von Troja und „Dido las ich nur wenige Strophen. Ich fand mich nicht zurecht darin, und da die beiden langen Gedichte nicht von Schiller waren, wie ich aus der Vorbemerkung ersah, überschlug ich sie, um schneller vorwärts zu kommen. Bei den erzählenden Gedichten fesselten mich nicht so sehr die erzählten Vorgänge, als das prachtvolle Wortgepränge, und immer waren es nur einzelne Verse oder Strophen, die mich begeisterten. Mit süßem Behagen genoss ich die lyrischen Gedichte, und unter diesen war es namentlich das kleine „Punschlied, das mich durch seine niedlichen, flott klingenden Verse entzückte. Den Sinn des Gedichtes verstand ich nicht; ich unternahm auch keinen Versuch, ihn zu enträtseln, da ich mein bestes Wohlgefallen an Takt und Reimklang fand. Anders war es bei dem Liede von der Glocke. Bei den ersten Strophen wiegte sich mein Gefühl im Takte und achtete viel mehr auf den Klang der Reime, als auf den Sinn der Worte. Bald aber nahm mich dieser Sinn gefangen und hielt mich so fest, dass ich die Singweise, nach der ich zu lesen begonnen hatte, ganz vergaß und mit trunkener Seele nur die Bilder schaute, die da in hochherrlicher Schönheit hingezaubert waren. Der urmächtig schauervolle Aufruhr aller Seelengewalten, den einzelne Gedichte auf den ersten Blättern des Buches in mir erzeugt hatten, wiederholte sich nicht beim Liede von der Glocke. Viele Stellen zwar erschütterten mich; der klare Sturm der Freude jedoch, der durch das Gemüt brauste, wurde durch solche Trauer nicht gehemmt. Wieder und wieder schweißte der Blick über die prunkhaften Strophen hin, und binnen weniger Minuten war ich mit jeder einzelnen innig vertraut. Ich konnte die Augen schlissen und sah doch Wort für Wort, Zeichen für Zeichen stehen; ich konnte das Buch zuschlagen und ganze Teile des Gedichtes hersagen, ohne Fehler, ohne zu stocken.

    O Johann, o Franz! Ihr sollt ein Wunder erleben!

    Weiter las ich – weiter! An den ungereimten Gedichten glitt ich rasch vorbei, - scheu, wie der Sünder am Kirchentor. Mir ahnte, dass in ihnen das Geheimnis der Bildung verborgen sei, und dass ich es vielleicht finden könnte, wenn ich mich in die Gedichte vertiefte; doch sie berührten mich fremd und seltsam. Ein Unbehagen kam über mich, wenn ich am Schlusse der Zeile keinem Reime begegnete, die Worte aber wirkten auf mich, wie ein wirres Geräusch von sinnlosen Lauten. Der Vers gewann für meine Empfindungen nur durch den Reim Bedeutung und Leben. In „Semele ließ ich die Reimlosigkeit gelten, da ich mir sagte, dass ein Theaterstück nicht gereimt zu sein brauche. Schon zweimal war ich im Theater gewesen, hatte den „Onkel in der Klemme und „Hasemanns Töchter gesehen, wusste daher in Theaterdingen Bescheid. Der Schluss in „Semele rührte mich zu Tränen. – Dann kamen die „Räuber", die berühmten Räuber! Von diesen hatte ich schon gehört oder gelesen, doch erst aus der Vorrede erfahren, dass Schiller sie geschrieben. Wie mir ums Herz war, mag einem Menschen zumute sein, der in fremder Welt urplötzlich einem hoch verehrten Freunde begegnet, den er nun beglückt die Hände, den Mund und die ganze Seele darbietet.

    Wie ich nur so ruhig unter der Hobelbank liegen bleiben konnte, während meine Innenkräfte in tollster Empörung wüteten und mit dem herrlichen Helden Karl Moor sich in heiligem Zorne auflehnten wider Gesetz und Sitte! Ja, so war die Welt – so schlecht, so verabscheuungswürdig, so falsch und so heuchlerisch! Der Edle, sagte ich mir, muss dulden und wird verkannt; der heimtückische Bösewicht gilt als guter Sohn, als braver, redlicher Mensch! Ach, und Amalia! … Eine Amalia zu besitzen, ihr treu zu sein bis zum letzten Atemzug, für sie das Schwert zu schwingen, ihr glühende Liebesbriefe zu schreiben - - ich musste innehalten und an meine Jugendfreundin Marie denken. Mit den Augen des Geistes sah ich, wie sie auf der Wiese bei den Kühen saß und gebratene Äpfel aß, und wie aus dem Walde drei Tiger, vier Leoparden, fünf oder sechs Löwen und viele Wölfe auf sie zugestürzt kamen und sie zerfleischen wollten; ich sah, wie sie mir in die Arme sank, mich dankbar und feurig umschlang, und ich vernahm, wie sie mit ihrer Engelsstimme sagte, dass sie nur mir angehören wolle, und dass ich der tapferste aller Ritter sei, und dass – – – o Schreck! Die Lampe ging aus. Noch viele Seiten waren die Räuber lang… Bei schwelend verglimmendem Lichte nahm die Umwälzung meiner Gefühlswelt ihren Fortgang. Bei den letzten Blättern glomm die Lampe nur so dürftig, dass ich alle Sehkraft anwenden musste, um die Buchstaben zu erkennen. Mühselig drang ich vorwärts, und nur dadurch, dass ich viele Sätze ungelesen ließ, erfuhr ich das Ende des Stückes und erreichte das Schlusswort: „Dem Manne kann geholfen werden."

    Lange noch blieb ich regungslos liegen, niedergedrückt von der Wucht der neuen Gewalten, die Besitz von mir ergriffen hatten. Ich bebte und bangte zwischen Wachen und Träumen, zwischen Verdammnis und unermesslicher Seligkeit. In ein Reich der Wunder und Herrlichkeiten, in ein Reich des Edelsinnes, des Heldentums und der Weisheit war ich geraten, von dem ich vorher nicht die leiseste Kund gehabt hatte – und zugleich war ich heimlich geworden in diesem Reiche. Doch aus seligen Genüssen schreckte mich empor der graue Gedanke, dass es Zeit sei, zurückzukehren in das öde, nüchterne Land, in dem der Meister, Fräulein Cäcilie, der lange Lorenz, der polnische Lukas und andere Tyrannen das Regiment führten. Der große Trost aber war mir beschieden, dass ich die kostbarsten Schätze meines neu entdeckten Wunderlandes mitnehmen und fest im Herzen tragen konnte.

    Wie spät es wohl sein mochte? Wenn nur die Rathausuhr bald einmal schlüge! Während ich gelesen, mochte sie wohl oft geschlagen haben; doch ich hatte nicht auf sie gehört. Nun wollte ich hervor schlüpfen aus meinem engen Versteck unter der Hobelbank; aber ich konnte den Körper nicht bewegen. Er war starr geworden, ganz starr. Mit aller Anstrengung nur gelang es mir, die Arme zu rühren und dann die Beine. Schon eine leise Bewegung verursachte Schmerzen, besonders in den Schultern und im Rücken. Eine Weile verging, bis es mir endlich gelungen war, auf die Füße zu kommen. Jetzt erst merkte ich, dass mir kalt war. Ich zitterte und die Zähne klapperten. Noch immer war ich nicht fähig, den Körper ordentlich zu rühren. Die ganze Nacht hatte ich regungslos auf dem Bauche gelegen; nur dürftig bekleidet, hatte ich bei Schillers Werken der Winterkälte, der dünnen Wände und der schlechten Tür nicht geachtet, durch die eine scharfe Zugluft beständig hereinkam. Auch Schnee war durch die Ritzen der Tür geflogen, bis dorthin, wo die Lampe stand und das Buch lag; ich aber hatte nichts davon gemerkt. – O Gott, wie mich nun fror! Ich nahm die Bretter von den Fenstern fort. Himmel – es war die höchste Zeit, Feuer im Ofen anzulegen! Der Tag graute bereits. Wenn der lange Lorenz, der um sechs Uhr zu kommen pflegte, nicht einen glühenden Ofen vorfand, gab es Hiebe. Am Abend war der Himmel klar gewesen, die Sterne hatten geleuchtet; in der Nacht aber war ein Umschlag erfolgt – und jetzt lag hoher Schnee im Hofe. Da gab es schlimme Arbeit für mich, weil ich Wochenkalfaktor war. Johann braucht als ältester Stift keine Kalfaktordienste zu verrichten; Franz und ich wechselten allwöchentlich in diesem Dienst ab. Also rasch Feuer angelegt! Dann hinaus in den Hof, um Bahn zu schaufeln bis zur Tür des Vorderhauses und zum Hintertor! Zuletzt hinauf auf das Dach! Denn der Meister verlangte, dass das Dach stets frei von Schnee sei. Jeden Morgen stieg er hinauf, und wenn er es nicht sauber fand, verordnete er dem Kalfaktor unbarmherzig eine Überstunde für den Abend. Er scheute sich auch nicht, ihm eine bestimmte Arbeit aufzutragen und zu befahlen: „Wenn diese Arbeit fertig ist, darfst du schlafen gehen; eher nicht!" So hatte ich einmal des Daches wegen eine ganze Nacht hindurch arbeiten müssen.

    Als ich auf den Boden stieg, begegneten mir Johann und Franz. Sie fragten, wo ich während der Nacht gewesen sei, und ich gestand ihnen, dass ich immerzu gelesen habe. „Da mach nur schnell! rief Johann. „Wenn der Alte durch Fenster sieht, dass du jetzt erst Schnee schaufelst, kannst du die nächste Nacht schuften! Ich arbeitete mich in Schweiß und war gerade fertig geworden, als Cäcilie am Fenster erschien und ihre Polizeiblicke nach der Werkstatt und dem Dache sandte. Der lange Lorenz fand einen glühenden Ofen – und alles war gut.

    Meine Müdigkeit verschwand, sobald ich an Schillers Werke dachte. Fast fühlte ich mich kräftiger und frischer als sonst des Morgens – trotz der durchwachten Nacht. Lustig flogen die Späne aus dem Hobel, und eine Schillersche Strophe nach der andern ging mir durch den Sinn. Wonnig und glückverheißend strahlte das Licht des Februarmorgens durch die bestaubten Werkstattfenster. Ein neues Leben fieberte in mir…

    Der junge Wagenbauer erhielt das Buch pünktlich zurück. Ach, wie gern hätte ich auch die anderen Bände gelesen – Wallenstein, Maria Stuart und Wilhelm Tell, von denen ich aus der Lebensbeschreibung des Dichters Kunde erhalten! Doch der Wagenbauer war unerbittlich; er sagte, seine Schwester habe die Bücher dem Bräutigam zurückgegeben.

    Im Laufe des ganzen Tages und der nächstfolgenden Tage beschäftigte ich mich in Gedanken fast unausgesetzt während der Arbeit mit den Gedichten und den Räubern. Das Lied von der Glocke konnte ich schon zum großen Teil auswendig hersagen; auch einige Strophen aus dem Liede an die Freude und aus der Leichenphantasie. Das Punschlied und das verlassene Mädchen saßen mir fest im Gedächtnis. Schon am ersten Tage versuchte ich mich selbst im Dichten, und es dauerte nicht lange, so war ein Gedicht „An die Pfaffen" fix und fertig. Das Gedicht kam mir so großartig vor, die Reime klappten so vorzüglich und die Silben waren so genau an den Finger abgezählt, dass ich in Ehrfurcht für mich selbst erglühte.

    Der Meister war Mietleser einer Zeitung, und manchmal geschah es, dass ich eine ältere Nummer erhaschen konnte. In diesen Blättern stand viel zu lesen vom Kulturkampf. In einem Artikel hieß es, dass der gehörnte Siegfried Otto Bismarck das deutsche Land säubern wolle von Pfaffen und Römlingen. Nicht dem frommen Glauben und nicht der katholischen Kirche gelte der Krieg, den er begonnen, sondern der Afterkirche und dem schwarzen Pfaffengeschmeiß, das überall den Samen der Zwietracht streue, den Frieden des Hauses störe und das Volk in Dummheit erhalten wolle. Zwar vermochte ich nicht zu ergründen, was die Afterkirche für ein Ding sei; aber ich zweifelte nicht, dass sie den Hass aller Guten und Gerechten verdiene, und mithin hasste ich sie aus voller Seele. Auch vom schwarzen Pfaffengeschmeiß hegte ich eine recht unbestimmte Vorstellung, vermutete jedoch, dass gewisse Klostermönche gemeint seien. Ich war fromm und gläubig, sogar außergewöhnlich fromm; aber da das Pfaffengeschmeiß Zwietracht säte, den Frieden des Hauses störte und das Volk in Dummheit erhalten wollte, freute ich mich herzlich, dass der gehörnte Siegfried Otto von Bismarck das Land befreien werde. Ich bildete mir ein, dass er mit seinen Soldaten von Kloster zu Kloster und von Ort zu Ort ziehe und die Pfaffen vertreibe, die wahren Priester jedoch unbehelligt lasse – was auch ausdrücklich in der Zeitung gesagt war. In meinem ersten Gedicht ermunterte ich den gehörnten Siegfried, die Pfaffen nicht zu vertreiben, sondern totzuschlagen, auf dass sie vom Erdenrund verschwänden und in der Hölle Schlund kämen. Eigentlich war dieser Vorschlag nicht ernst gemeint; ich empfahl die schreckliche Mörderei nur aus dem Grunde, weil mein Gedicht recht herzhaft klingen sollte. Je öfter ich meine Verse heimlich hersagte, desto mächtiger ward der Glaube in mir, dass ich ein zweiter Schiller sei. Ich konnte mich in der Pracht meiner Reime: Bismarck – sei stark – Pfaffen – zusammenraffen – Erdenrund – Höllenschlund – Siegfried du – immerzu – – und meine Selbstbewunderung war nicht um vieles geringer, als die Bewunderung, die ich für Schiller hegte.

    In der Meinung, dass Schillers Werke auf alle Gemüter eine so urgewaltig bezwingende Wirkung ausüben müssten, wie auf das meine, trug ich nach Feierabend meinen beiden Gefährten das Lied von der Glocke und das Lied an die Freude vor, soweit ich die beiden Gedichte im Gedächtnis behalten hatte. Mein eigenes Gedicht schloss ich an. Sie hörten zwar willig zu, blieben aber kalt und unterbrachen mich zuweilen mit Bemerkungen, die mir recht dumm erschienen. Ich glühte ganz in Begeisterung. In ungestümem Lodern suchte die heiligen Flammen die Herzen der Freunde zu erfassen; doch die Herzen der Freunde waren nicht empfänglich für solches Feuer. Einen großen Trost in dieser argen Enttäuschung gewährte mir das Lob, das Johann meinem eigenen Gedicht spendete. Er sagte, es gefalle ihm besser, als die Gedichte von Schiller; es läge doch wenigstens ein hübscher Sinn darin. Ich verteidigte Schiller mit brennendem Eifer; dabei aber fühlte ich mich sehr geschmeichelt durch die mir gespendete Anerkennung, und aus Dankbarkeit erzählte ich die Lebensgeschichte des berühmten Dichters. Dass es Schiller, der Sohn eines armen Regimentsarztes, nur durch Gedichte und Theaterstücke, sonst durch gar nichts, zum berühmten Manne, sogar zum Professor, zum Hofrat und zum „Herr von gebracht hatte, kam den beiden Freunden sonderbar und erstaunlich vor. Jeder von uns dreien empfand schon längst die Sehnsucht, einmal ein großes Tier zu werden, und wir hatten bereits manchmal die Frage besprochen, auf welche Weise wir zu dem gewünschten Ziele gelangen könnten, um ein Leben in Müßiggang, Schwelgerei und Reichtum führen zu können. Bei der Betrachtung des Schillerschen Lebenslaufes kam die alte Frage wieder zur Sprache, und das vorhandene Beispiel lockte zur Nachahmung. Franz fragte, ob das Dichten schwer sei, und da ich diese Frage nach bester Überzeugung eindringlich verneinen und dabei auf mein Gedicht „An die Pfaffen hinweisen konnte, kamen wir alle drei zu der Ansicht, dass es ratsam sei, zu dichten. Wir wussten zwar nicht, wie viele Gedichte jemand gemacht haben müsse, um Professor oder gar adelig zu werden; doch sagten wir uns, das würde sich mit der Zeit schon finden. Ich war viel weniger genusssüchtig, als meine Freunde; mir galt der bloße Ruhm als das erstrebenswerteste Ziel. Aber da es mir lieblich und erhaben vorkam, vereint mit gleich gesinnten und gleich strebenden Freunden um die Ruhmeskrone zu werben, suchte ich schlauerweise die beiden Genossen dadurch zum Dichten anzufeuern, dass ich immer wieder auf den Professortitel und den Adel hinwies. Nach kurzer Überlegung entschlossen sich Franz und Johann, zunächst Professoren zu werden. Die begannen also zu dichten.

    So kam es, dass wir Dichter wurden.

    Der Ausmarsch.

    Wir hatten Glück. Wenige Tage, nachdem Schillers Werke für uns zum großen Ereignis geworden, verschwand der Meister.

    Langsam vollendeten wir unsere Arbeiten. Als wir fertig waren und die Gesellen ihre Tätigkeit eingestellt hatten, konnten wir dichten von morgens bis abends. Mein Vertauschtes Kind nahm an Umfang und Schönheit zu. Ich schuf es nach dem Vorbilde, das mir die Räuber geliefert hatten. Das Beste daran schienen mir die schändlichen Selbstgespräche zu sein, die ein Ritter hielt, der aus teuflischer Bosheit ein Grafenkind geraubt und dafür das Kind eines Scharfrichters in die Wiege gelegt hatte. Für wohl gelungen hielt ich auch die Reden der Gräfin und der Amme an der Wiege des Kindes. Sie wunderten sich über die Veränderung, die sie an dem Kleinen Geschöpf wahrzunehmen glaubten. Die Gräfin hörte zuweilen in ihrem liebenden Mutterherzen eine grauenvolle Stimme, die ihr sagte, dass sie ein fremdes Kind liebkose. Vergeblich forschte sie nach dem Muttermal an der linken Brust, das sie bald nach der Geburt gesehen hatte. Die Amme, die mit dem schuftigen Ritter im Bunde stand, suchte ihr einzureden, dass das mal am siebenten Tage nach der Geburt langsam verschwunden sei. Zuletzt sollten Gerechtigkeit und fromme Unschuld siegen; auf welche Weise – das war mir noch zweifelhaft… Das Stück war für das Stadttheater bestimmt. Wenn ich mir im Geiste das Erstaunen des Theaterdirektors vorstellte, in das ihn mein Vertauschtes Kind versetzen sollte, geriet ich in wilde Freude und unbändigen Stolz. Ich sah ihn begeistert meine Blätter lesen und hörte ihn verwundert fragen, wie es möglich sei, dass in einer kleinen Stadt ein so großer Dichter erstehen könne. Ich malte mir aus, wie er zu mir kam, sich verneigte und mir sagte, dass das Vertauschte Kind an Großartigkeit den Räubern gleichkomme. Die Aufführung des Stückes sollte mir solchen Ruhm bringen, wie ihn nur ein König besitzen konnte. Meine Mutter, mein Vormund, Johann, Franz und Cäcilie sollten in der ersten Reihe auf den besten Plätzen sitzen. Ich wäre rascher mit dem Dichten vorwärts gekommen, hätten mich nicht meine Mitdichter alle Augenblicke in schwierigen Fällen zu Hilfe gerufen. Sie litten zwar keinen Mangel an Gedanken, fanden jedoch oft keine passenden Reime.

    Eines Nachmittags nahm das Dichten ein trauriges Ende. Johann war mit seinem Gedicht „Leim nahezu fertig; es fehlte ihm nur noch ein geeigneter Reim auf „Schranktürfüllung, und ich war bestrebt, ihm über das Hindernis hinwegzuhelfen, - da stecket der lange Lorenz seinen Kopf in den Ofenwinkel und schrie uns an:

    „Hundsfötter, was treibt Ihr hier für verdammte Faxen? Heizt ein, dass wir nicht erfrieren in der verfluchten Bude!"

    „Wir haben kein Holz mehr, Herr Lorenz!" erwiderte Johann, der in solchen Fällen als ältester Stift die Pflicht zu reden hatte.

    „Unsinn, verdammter! Draußen liegen Bretter und Bohlen; auf dem Boden liegen Stollen und Furniere; in allen Winkeln hat’s Holz! Zerhackt die Hobelbänke! Schmeißt das Werkzeug ins Feuer! Zerschlagt die Schränke und verbrennt sie!"

    Sein Blick fiel auf den Bogen Papier, auf dem das Leimgedicht stand. Er ergriff es und sagte: „Das kann ich zum Einwickeln brauchen. Ich will mir die Pantoffeln mit nach Hause nehmen."

    Johann wollte das Blatt retten. Dabei entschlüpften ihm halblaute Worte der Entrüstung. Für diese Unbotmäßigkeit erhielt er eine so kräftige Maulschelle, dass er hin taumelte. Schnell raufte er sich auf und schrie in maßlosem Zorne: „Sie langer Esel! Sie Grobian! Jetzt lass ich mich von Ihnen nicht mehr hauen!" Mit einem kräftigen Stoß warf er den trunkenen Altgesellen nieder und flüchtete zur Tür hinaus. Das kostbare Blatt ließ er leider in den Händen des langen Lorenz zurück. Der polnische Lukas lachte über den Spaß; wir aber – Franz und ich – machen uns sprungfertig, aus Angst, Lorenz könnte sich für die erduldete Schmach an uns beiden rächen. Er aber kroch zu seiner Hobelbank, richtete sich dort auf, schimpfte und fluchte und trank auf ein Ansetzen seine Flasche leer.

    „Besorgt zu saufen!" grölte er befehlend und richtete seine finsteren Augen auf uns.

    Wir hatten für unsere letzten Pfennige Papier zum Dichten gekauft, konnten ihm also nicht dienlich sein. Früher pumpte der Gastwirt; seit der Meister fort war, borgte er nichts mehr, forderte sogar Bezahlung der alten Schulden. Trotzdem verlangte Lorenz von uns Schnaps. Widerspruch litt er nicht, und er wäre grob geworden, wenn nicht der polnische Lukas das Unglück von uns abgewendet hätte. Lukas verfiel auf den Politurspiritus und holte ihn aus der Kammer.

    Johann und ich hatten geahnt, dass es so kommen werde, und um den Politurspiritus zu retten und die Gesellen vor einem schweren Rausche zu schützen, hatten wir ein wenig Schellack in die Flasche getan. Schellack schmeckt abscheulich.

    Der polnische Lukas nahm einen starken Schluck und schüttelte sich voll Abscheu und Zorn. „Brrr - is sich Schellack drin!"

    „Schellack? fragte der lange Lorenz. „Wer hat den Schelllack hineingetan?

    „Meister, verfluchtiges! Wer sunst!" entgegnete Lukas.

    Lorenz kostete. Den Probeschluck spie er prustend aus. Nachdem er kräftig geflucht hatte, erklärte er in feierlichem Tone, dass ihm sein Ehrgefühl verbiete, in einer Bude zu bleiben, in der aus Misstrauen gegen die Gesellen der Politurspiritus mit Schellack vermischt werde. Fortwährend schimpfend, suchte er seine Sachen zusammen. Meine Aufmerksamkeit war beständig auf Johanns Leimgedicht gerichtet. Ich wartete auf eine Gelegenheit, es heimlich zurückzuerobern; sie fand sich aber nicht. Lorenz wickelte seine Filzpantoffel in das Blatt – und ich musste schaudernd und empört zusehen, wie das Gedicht auf schandhafte Weise vernichtet wurde.

    Ohne sich zu verabschieden, zog der lange Lorenz ab.

    Immer noch beschäftigte sich der polnische Lukas mit der Spiritusflasche. Dem Meister zum Trotz müsse, meinte er, der Politurspiritus gesoffen werden. Und wirklich: im Laufe zweier Stunden leerte er die mit neunzig gradigem Kartoffelspiritus gefüllte Literflasche bis auf den Rest. Der Schellack schien ihm den Genuss nicht zu verleiden. Als die Flasche leer war, legte er sich in die Hobelspäne und schlief ein.

    Im Hofe stand Johann und winkte uns zu. Wir eilten hinaus und berichteten ihm, dass der lange Lorenz fort sei. Die Nachricht war ihm gleichgültig. Er erzählte, dass er auf dem Getreidemarkt einen Bauer aus seinem Heimatdorfe getroffen und ihn gebeten habe, mit ihm nach Hause fahren zu dürfen. Er wäre bei uns geblieben, wenn er gewusst hätte, dass Lorenz auf dem Sprunge sei; nun müsse er sein Versprechen halten und mit dem Bauer fahren.

    Als Johann seine Habe zusammenpackte, kam auch über Franz die Sehnsucht nach der Heimat. Er rannte gleichfalls nach dem Getreidemarkt, um eine Fahrgelegenheit zu suchen. Eine Stunde später kam es zu einem herzlichen Abschied. Johann lachte und zeigte sich gleichmütig; mir aber war das Herz recht schwer. Denn ich fürchtete, dass es ein Scheiden fürs ganze Leben sei, und Bangigkeit und Trauer brachten mich zum Weinen. Durch meine Tränen verleitet, weint auch Franz; als er aber auf den lachenden Johann blickte, heiterte sich sein kleines Gesicht schnell auf. Ich bat sie beide, das Dichten nicht zu vergessen und mir ihre Gedichte zu senden. Sie versprachen es leichthin und gingen.

    Nun stand ich allein. Ich suchte und fand Trost bei meinem Vertauschten Kinde. Leider war alles vorhandene Schreibpapier so voll gedichtet, dass sich nirgends mehr ein Vers unterbringen ließ. Geld für neues Papier besaß ich nicht; daher war ich gezwungen, auf glatt gehobelten Brettstücken zu dichten.

    Am andern Morgen erwachte der polnische Lukas aus seinem langen Schlafe. Er rieb sich die Augen und redete närrische Worte. An mich wandte er sich mit der Frage, ob seine Frau da gewesen sei. Ich wusste nicht, dass er eine Frau besaß. Er wohnte „auf Schlafstelle" bei einer Witwe. Seine Augen waren verstört und glanzlos; sein Gesicht hatte ein leichenfahles Aussehen bekommen. Mich befiel bei seinem Anblick eine Angstbeklemmung, wie ich sie zuweilen empfand, wenn wir Lehrjungen einander des Nachts vor dem Einschlafen Gespenstergeschichten erzählten. Schreckhaft waren seine Augen, unheimlich, hohl. Er schwankte zur Tür hinaus in den kalten Wintertag, barhäuptig, in seinem leichten Arbeitsrock, Pantoffeln an den Füßen. Langsam, den Kopf gesenkt, zog er wie ein Träumender an den Fenstern vorüber, dem Hintertore zu. Unter der Hobelbank standen seine Stiefel, an der Wand hingen sein Rock und sein Hut, auf dem Fensterbrett lag sein Taschenspiegel.

    Als ich mich kaum wieder über mein Vertauschtes Kind hergemacht hatte, trat Cäcilie geräuschlos in die Werkstatt. Ein seltener Gast! Schnell warf ich das Brettstück, auf das ich einen neuen Jammerausbruch der um ihr Kind betrogenen Gräfin niederschreiben wollte, hinter den Ofen, sprang empor und trat dem Fräulein zaghaft und mit klopfendem Herzen entgegen. Doch meine Befürchtung, Cäcilie werde schimpfen, weil ich faulenzend in den Hobelspänen gelegen, war grundlos. Scheu blickte sie umher und fragte, ob ich allein sei.

    „Ja!"

    „Ich sah den Johann und den Franz aus dem Hofe gehen; den einen mit einem Koffer, den andern mit einem Bündel. Wo sind die hingegangen?"

    „Nach Hause! Sie haben Fahrgelegenheit gefunden. Mit ihrer Arbeit sind sie fertig, und da…"

    „Wie können sie ohne meine Erlaubnis nach Hause fahren? schrie Cäcilie in jähem Zorn. „Das sein ja erzfreche Lümmel! Und Du lässt sie gehen und rufst mich nicht?

    Ich kam zu keiner Erwiderung. Cäcilie begann zu weinen und bedeckte das Gesicht mit der Schürze. Sie schluchze so laut, dass ein tiefes Mitgefühl auch mir die Tränen in die Augen trieb.

    „Nicht einmal ’raufgekommen sein sie und haben adje gesagt! klagte sie weinend. „Bin ich denn das nicht wert? … Bin ich denn eine schlechte Person? … Alle sein schlecht zu mir, und ich hab’ es immer so gut gemeint…

    Ihr Weinen und Schluchzen steigerte sich bis zum heulen; plötzlich aber brach sie ab und rief: „Das lasse ich mir nicht bieten! Hastig trocknete sie die Augen. Darauf sah sie mir offenen Blickes ins Gesicht und fragte: „Verachtest Du mich auch?

    Die Frage, von einer hoch stehenden, gefürchteten Herrin an den gehorsamen Diener gerichtet, entflammte mich zu ritterlicher Ergebenheit, und aus übervollem Herzen antwortete ich mit einem festen „Nein!"

    Sie ergriff meine Rechte und presste sie mit beiden Händen. „Du bist besser wie die andern, sagte sie lieb und gütig. „Dich hab’ ich immer für eine treue Seele gehalten.

    Ich glaubte, ich wäre ihr glückstrunken und in übermächtiger Rührung zu Füßen gesunken und hätte ihre Knie umklammert, wenn nicht zufällig ihre Mutter zu Besuch gekommen wäre. Die alte Frau stand im Hofe und redete mit dem Wagenbauer. Cäcilie drückte mir noch einmal herzhaft die Hand, bat mich, sie ja nicht zu verlassen, und eilte hinaus.

    Berauscht von Glück und Stolz sah ich ihr durchs Fenster nach, und als sie verschwunden war, lugte ich verstohlen hinauf zu den Fenstern des Wohnzimmers, in der sehnsüchtigen Erwartung, sie dort noch zu sehen. Ich schmachtete nach ihrem Anblick; mir war, als sei nun zwischen ihr und mir ein unlösbares Bündnis für das ganze Leben geschlossen, als gehörte ich fortan in ihre Nähe, als müsse ich nun bei Tag und bei Nacht ihr getreuer Diener, Ritter und Held sein und jeden erschlagen, der es wagen sollte sie zu verachten. Sie war für mich plötzlich ein edles Wesen geworden, ein verkannter Unschuldsengel, eine anbetungswürdige heilige Erscheinung. Sogleich entwarf ich allerlei wunderreiche, poesievolle Zukunftsbilder. Am längsten verweilte ich bei dem Wunschtraum, der mir erzählte, wie ich die unschuldige und von schlechten Menschen verachtete, von mir jedoch treu geliebte Cäcilie nach einer stillen, fruchtbaren Gegend führte, dort aus Holz und Reisig eine Hütte für uns baute, die süße Dame darin auf Laub bettete und allda sie pflegte, bis sie in Frieden eines Knäbleins genas. Ich war ihr Gebieter, ihr Erretter, ihr Arzt, ihr Priester, ihr Ernährer, ihr Beschützer und Verteidiger, ihr Geliebter. Auch ihr Dichter wollt ich sein, und so berühmt sollte sie werden durch mich, wie Laura durch Schiller! Schon schwirrten mir die ersten Werke zu ihrem Ruhme durch den Kopf. Ich wollte sie im Leibe vergleichen mit der tugendhaften Genoveva; das Söhnlein aber, das sie in der verborgenen Waldhütte zur Welt gebracht, sollte nicht Schmerzensreich, sondern Wonnereich heißen; denn wir wollten ein wonniges Familienleben führen und das Knäblein mit Zärtlichkeit betreuen. Auf Cäcilie fand ich die schönen Reime Familie und Lilie, die vortrefflich zu dem Inhalt des Gedichtes passten.

    Ich liebte Cäcilie. Wie eine huldreiche, sanfte Märchenprinzessin war sie aus ihrer Höhe zu mir herabgestiegen, hatte mir die Hand gereicht und weinend gesagt, ich sei eine treue Seele! Das war eine so merkwürdige, so rührend poetische Begebenheit, wie sie sonst nur in Märchen und Geschichten vorkam, und darum bildete ich mir ein, dass ich zum Helden eines beginnenden Liebesromans erkoren sei. In meinem Jubelrausche gewann ich die Überzeugung, dass noch kein irdisches Herz so glühend, so unwandelbar treu geliebt habe, wie das meine.

    Das war eine tiefe, große, keusche Liebe. Doch sie währte nur eine halbe Stunde.

    Als diese gnadenreiche Zeit verronnen war, kam die Königin meines Herzens abermals in die Werkstatt. Freudig trat ich ihr entgegen und erhob die Hand zum Empfange; doch ließ ich schnell die Hand sinken, da meine heiße Freude einen jähen Tod fand. Cäcilie blieb in der offenen Tür stehen und rief kurz und grob: „Hier wird itze geschlossen!"

    Sie war wieder die kalte, herrliche Person, die uns Lehrjungen das Leben sauer gemacht hatte. Der plötzliche Stimmungsschlag in meiner Seele brachte mich in Zorn und ich fragte gereizt und gekränkt: „Halten Sie mich für einen Spitzbuben?"

    „Sei nicht so frech Lausigel! schrie sie. „Wenn die andern fort sein, brauchen wir Dich erst recht nicht!

    „Ich bin hier in der Lehre, und ich habe noch nicht ausgelernt! entgegnete ich keck. „Vorhin erst haben Sie mich gebeten, dass ich hier bleiben soll!

    „Ich verreise itze! sagte sie schroff. „In zehn Minuten wird alles abgeschlossen, und wenn Du noch drin bist, lass ich Dich rausschmeißen!

    Sie schlug die Tür heftig zu und ging nach ihrer Wohnung. In rasender Wut riss ich die Tür auf und schrie Cäcilie ein gemeines Schimpfwort nach. Die Wagenbauer wunderten sich über meine Kühnheit und lachten. Zu ihnen gewendet, erklärte ich laut und noch immer von Wut geschüttelt, dass Cäcilie das ordinärste Frauenzimmer und die schlechteste Person sei. Ich sprang auf den Boden, packte geschwind meine kleine Habe zusammen, mit Ausnahme der Betten, die meiner Mutter gehörten, und verließ mit Bündel und Stock das Werkstattgebäude. Im Hofe schoss Cäciliens Mutter auf mich los, schlug mich mit der Faust auf den Kopf und in den Nacken, so dass mir die Mütze in den Schnee fiel, und schalt mich unter gröblichen Schimpfreden wegen der Beleidigung ihrer Tochter. Als ich zur Abwehr den Stock erhob, spie sie mich an und entfloh.

    Nach wenigen Minuten lag das Stadttor hinter mir, und ich wanderte dem fernen Tale meiner Heimat zu… Meine große Liebe war erloschen. Für Cäcilie blieb mir nur Verachtung. Dennoch übermannte mich die Scham, wenn ich mir die bösen Auftritte vergegenwärtigte, die sich beim Abschied ereignet hatten. Ich hätte das schändliche Wort nicht sprechen sollen. Eine Stimme in mir belehrte mich immerzu, dass nur gemeine Menschen sich solcher gemeinen Worte bedienen. Als ich mir dann noch den bitteren Vorwurf machte, dass ich Cäcilie in Gegenwart ihrer Mutter auf das ärgste in der Ehre gekränkt hatte, schlug ich mich in Reue und Selbstverachtung an die Stirn.

    Spät abends trat ich in das Stübchen meiner Mutter. Sie kniete am Bett und betete den Rosenkranz. Erschrocken stand sie auf.

    „Junge, wu kimmst Du den har?"

    „Aus der Stadt."

    „Du bist doch nich ernt ’m Meister ausgerückt?"

    „Nee, Mutter! Der Meister ist uns ausgerückt."

    Meine Mutter.

    Ich besaß keine Heimat mehr. Von Stunde zu Stunde kam mir dieses wehe, trostlose Gefühl deutlicher zum Bewusstsein. Die Mutter war gut zu mir und sorgte für mich mit opferfroher Liebe. Sie ehrte mich, wie einen lieben Gast, und buk mir zu Ehren Tiegelkuchen. Doch ich war eben nur noch Gast in ihrem Stübel; ich gehörte nicht mehr zu ihr. Mit weichen, schonenden Worten gab sie mir das zu verstehen.

    Der Vater war seit mehreren Jahren tot. Die Mutter hatte unser Häuschen verkauft und sich freie Wohnung im Stübel ausbedungen. Der Kaufvertrag enthielt die harte Bestimmung, dass ich nur bis zum sechzehnten Jahre berechtigt sei, bei der Mutter zu wohnen. Wolle sie mit mir zusammenleben, so müsse sie in eine andere Wohnung ziehen. Der Hauswirt, ein schrullenhafter Mensch, fasste die Bestimmung so auf, dass ich ohne seine Erlaubnis nicht einmal bei der Mutter übernachten dürfte. Nur auf vieles Bitten hin gestattete er ihr zögernd, mich einige Tage lang zu beherbergen. Die Mutter grämte sich, weil sie in diese Stelle des Vertrages eingewilligt hatte; sie meinte, Mutter und Sohn gehörten von Natur aus zusammen. Doch während ihre Tränen noch flossen, widersprach sie ihrer eigenen Rede. Sie sagte, wenn die jungen Schwalben flügge seien, müssten sie das Nest verlassen und sich selbst ihr Futter suchen. So sei es überall in der Natur, und ich müsse daher, da ich nun siebzehn Jahre zählte, auf Selbstständigkeit bedacht sein.

    Bei solchen Reden beschlich mich eine große Bangigkeit. Ich kam mir vor, als sei ich überflüssig in der Welt, und ich fühlte nicht die Kraft, mir einen sicheren Platz unter der Menschheit zu erringen.

    Das Stübel war ein kleiner Anbau aus Lehm. Es mochte wohl schon hundert Jahre alt sein, da es dem Einfallen nahe war. Von allen drei Seiten war es mit Baumpfählen gestützt, und sowohl im Winter, als auch im Sommer waren die Außenwände mit Laub und dürrem Kartoffelkraut bekleidet, weil sonst durch die vielen Löcher und Brüche Regen, Schnee und Wind eingedrungen wären. Der Raum, den zwei Betten, ein Tisch, ein alter rissiger, rauchgeschwärzter Kachelofen, ein Glasschrank, eine Kommode und zwei Stühle übrig ließen, war so eng, dass zwei Personen kaum zur Not sich darin bewegen konnten. Trotzdem war das Stübel hübsch und traulich. Alle die Gegenstände riefen Erinnerungen an meine Kindheit in mir wach; ich betrachtete sie gern, und oft erfasste mich ein Erstaunen, weil ich Eigenheiten an ihnen wahrnahm, die mir früher entgangen waren. Am liebsten sah ich den Glasschrank. Hinter blank geputzten Scheiben standen in drei Fächern viele feine bemalte Kaffeetassen und Andenken an berühmte Wallfahrtsorte. Am schönsten schien mir eine Kapelle aus Porzellan, in der ein goldener, verschnörkelter Hochaltar mit einem Muttergottesbilde zu sehen war. In geschliffenen Gläsern lagen bunte Ostereier, rote Äpfel, merkwürdig gewachsene Melonen und geweihte Gebilde aus Wachs, wie sie der Jungfrau Maria von kranken Menschen als Opfer dargebracht werden. Auch Wachsstöcke und farbige Kerzen waren vorhanden, darunter die heilige Totenkerze, die gebrannt hatte, als der Vater und die Geschwister starben… In einem Fache fiel eine reichhaltige Bilderausstellung auf. Dort waren alle die Heiligen, die dem Herzen der Mutter besonders nahe standen, in bunten Bildern versammelt. Auch unheilige Bilder befanden sich in dieser Versammlung. Da war zum Beispiel ein Schornsteinfeger, der eine Müllerin küsste. Dann ein betrunkener Mann, der aus dem Gasthause kam und dem ein Affe im Nacken saß. Verschiedenartige Einladungskarten erinnerten an Tanzkränzchen und Wurstabendbrote längst vergangener Jahre. An den Wänden hingen Wallfahrtsmadonnen, Heiligenbilder, Papst Pius und die eingerahmten Patenbriefe.

    Die Mutter war arm. Für das Haus hatte sie nur wenige hundert Taler bekommen, und der größte Teil dieses Geldes war bei der Tilgung der Schulden zerflossen. Sie bestritt ihren Lebensunterhalt auf verschiedene Weise. Gewöhnlich arbeitete sie als Tagelöhnerin bei den Bauern. Sie verstand auch, die Nadel gut zu führen. Nicht nur Mägde, auch Bauersfrauen ließen Schürzen, Röcke und Jacken von ihr anfertigen. Vom Vater, der Tischler gewesen, hatte sie verschiedene Künste erlernt, die sie ebenfalls zu ihrem Nutzen verwertete. Zuweilen polierte sie bei Gutsherrschaften alte Möbel frisch auf und leimte herab gefallene Zierstücke fest. Sie flocht Stuhlsitze und strich Hof- und Gartenzäume, Tore, Türen, Fenster und Geräte mit Ölfarben an. Das ganze Jahr hindurch war sie immerzu beschäftigt, und wenn sie in ihren Lohnforderungen nicht gar zu bescheiden gewesen wäre, hätte sie ein gutes Auskommen haben können. Geld bekam sie selten; gewöhnlich nur Ersatz für ihre baren Auslagen. Als Lohn für ihre Mühe erhielt sie Brot, Speck, Fleisch, Kartoffeln und Erbsen. An Lebensmitteln war sie manchmal so reich, dass sie die Armen des Dorfes beschenken konnte. Solches Wohl tun war ihre beste Freude. Sie bildete sich dabei ein, dass sie im Überfluss lebe. Obwohl sie zu manchen Zeiten viele Tage lang kein Geld besaß und in arger Bedrängnis schwebte, klagte sie nie über Armut. Sie war ganz anders, als andere Frauen. Auch die reichsten Bäuerinnen jammerten gern über schlechte Zeiten und machten dabei Gesichter, als wühlte der Hunger bereits in ihren Leibern. Meine Mutter rief dann lachend: bei ihr sei keine Not; sie habe mehr Schuldner, als der Großbauer. Gegen das Armsein und Entbehren müssen hegte sie einen tiefinnerlichen Widerwillen. Viele Leute, die von ihr beschenkt wurden, besaßen Acker, Vieh und Haus und wohl auch mehr Geld als die Mutter; dennoch wurden sie von ihr als arme Leute bedauert. Oft erklärte sie, dass sie sich schon längst ein Sofa beim Sattler bestellt hätte, wenn nur das Stübel nicht zu klein dazu wäre.

    Ungemein stolz war sie auf die Achtung, die sie genoss. Herkommen und Sitte brachte es mit sich, dass zwischen reichen und armen Dorfbewohnern eine strenge Scheidung bestand. So würde ein Bauer seinen Wert preisgegeben und das Ansehen des ganzen Standes geschädigt haben, wenn er sich im Wirtshause mit einem Häusler oder gar einem Inwohner an einen Tisch gesetzt hätte. Bauern, die mehr als fünfzig Morgen Acker besaßen, genossen das Recht, in der Nebenstube des Kretschams zu sitzen, wo der Herr Schullehrer und der Herr Kaplan saßen. Die Kleinbauern ließen sich in der großen Stube nieder, in der die fremden Fuhrleute verkehrten; sie hielten aber darauf, dass sie mit geringen Leuten, die als Inwohner oder Knechte im Dorfe lebten, nicht in Berührung kamen. Die Hofarbeiter durften sich überhaupt nicht niedersetzen. Verging sich einer gegen diese Sitte, so galt er als frecher Mensch. – Auch die Frauen bildeten unter sich gesellschaftliche Gruppen. Bei ihnen traten die Standesunterschiede am deutlichsten in der Kirche und während des Heimganges aus der Kirche zutage. Die reichen Frauen saßen in den vordersten Bänken, und nach beendetem Gottesdienste gingen sie miteinander; Frauen aus den ärmeren Ständen durften sich nicht zu ihnen gesellen.

    Meine Mutter machte eine glückliche Ausnahme. Mit den drei reichsten Bauersfrauen des Ortes war sie herzlich befreundet, und herzlich waren auch ihre Beziehungen zu vielen anderen Frauen. Auch unter den Hofarbeitern, die zu der niedersten Menschensorte gerechnet

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