Das Haus der tausend Schatten: Gaslicht 68
Von Tina Lyr
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Auf der Leinwand sah Sharon ihr eigenes Gesicht. Aber was für ein Gesicht! Das Haupt der Medusa, aus deren Kopf helle Flammen schossen, mit schreckgeweiteten Augen, die aus den Höhlen quollen, und einem Mund, der zu einem tonlosen Schrei aufgerissen war. Das Furchtbarste aber war der schwarz angelaufene Hals, den ein dickes Seil zuschnürte. Fassungslos starrte die junge Frau auf das widerwärtige Porträt. In grellen Schockfarben gemalt, leuchtete es ihr förmlich entgegen, brannte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis ein. Ein Kunstkenner hätte anhand der Pinselführung wohl auf den Maler schließen können. Wichtiger als der Schöpfer des Bildes aber war die Botschaft, die es enthielt. Eine Warnung? Oder eine Todesdrohung? Tod durch Erwürgen hieß Mord. Die schemenhafte Gestalt im Gebüsch neigte den Kopf leicht zur Seite und folgte mit den Augen der chromblitzenden Limousine, die zügig auf der gewundenen Küstenstraße fuhr. In einer scharfen Linkskurve geriet der Wagen außer Kontrolle, prallte schlingernd gegen eine Felswand. Er überschlug sich, überschlug sich abermals. Die Räder setzten auf dem schmalen Randstreifen neben dem Abgrund auf, rutschten ab. Das Fahrzeug verlor den Halt und stürzte senkrecht in die Tiefe. Noch im Fallen kippte es vornüber, wie ein gigantischer silberfarbener Vogel, der im flirrenden Licht der Mittagssonne einen Salto mortale vollführt. Weit unten, auf dem steinigen Strand, endete der Flug. Eine hässliche Explosion erschütterte die Stille, das Wrack ging in Flammen auf. Wer immer darin gesessen haben mochte, war tot.
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Das Haus der tausend Schatten - Tina Lyr
Gaslicht
– 68 –
Das Haus der tausend Schatten
Tina Lyr
Auf der Leinwand sah Sharon ihr eigenes Gesicht. Aber was für ein Gesicht! Das Haupt der Medusa, aus deren Kopf helle Flammen schossen, mit schreckgeweiteten Augen, die aus den Höhlen quollen, und einem Mund, der zu einem tonlosen Schrei aufgerissen war. Das Furchtbarste aber war der schwarz angelaufene Hals, den ein dickes Seil zuschnürte. Fassungslos starrte die junge Frau auf das widerwärtige Porträt. In grellen Schockfarben gemalt, leuchtete es ihr förmlich entgegen, brannte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis ein. Ein Kunstkenner hätte anhand der Pinselführung wohl auf den Maler schließen können. Wichtiger als der Schöpfer des Bildes aber war die Botschaft, die es enthielt. Eine Warnung? Oder eine Todesdrohung? Tod durch Erwürgen hieß Mord.
Die schemenhafte Gestalt im Gebüsch neigte den Kopf leicht zur Seite und folgte mit den Augen der chromblitzenden Limousine, die zügig auf der gewundenen Küstenstraße fuhr. In einer scharfen Linkskurve geriet der Wagen außer Kontrolle, prallte schlingernd gegen eine Felswand. Er überschlug sich, überschlug sich abermals. Die Räder setzten auf dem schmalen Randstreifen neben dem Abgrund auf, rutschten ab. Das Fahrzeug verlor den Halt und stürzte senkrecht in die Tiefe. Noch im Fallen kippte es vornüber, wie ein gigantischer silberfarbener Vogel, der im flirrenden Licht der Mittagssonne einen Salto mortale vollführt. Weit unten, auf dem steinigen Strand, endete der Flug. Eine hässliche Explosion erschütterte die Stille, das Wrack ging in Flammen auf. Wer immer darin gesessen haben mochte, war tot. Einen solchen Unfall überlebte keiner.
Ein hämisches Lächeln umspielte die vollen Lippen des einsamen Zeugen. Seine schmale Nase blähte sich vor Freude.
Die hellen Augen glühten im wilden Triumph.
»Das ist das Ende von Gregory Bryant«, sagte der umheimliche Beobachter fröhlich. »Ich gratuliere dir, alter Knabe. Es war ein brillanter Abgang von dieser schönen Welt.«
Er lachte unbändig. Wie ein Mensch, dem soeben ein köstlicher Scherz gelungen war.
Eine Eidechse, die sich auf dem Stein vor dem Strauchwerk gesonnt hatte, floh eiligst in eine Felsritze.
*
Seit Tagen regnete es ununterbrochen. Die Nässe hatte Schmutz und Abgase in sich aufgesogen. Gleich einem dicken, grauen, triefenden Schwamm saß sie in den hohen Betonschluchten der New Yorker Innenstadt und schuf eine außerordentlich triste Atmosphäre. Mehrreihige Autoschlangen krochen im Schneckentempo vorwärts, während die Fußgänger wie getrieben durch die Straßen hasteten und sich missmutig fragten, wieso, zum Kuckuck, sie nicht im sonnigen Florida lebten.
Sharon Cartsham indessen fühlte sich vollkommen glücklich. Dass ringsum eine deprimierte Stimmung herrschte, nahm sie überhaupt nicht wahr. In bester Laune steuerte sie ihren kleinen Austin durch das dichte Verkehrsgewühl und trällerte dazu wie eine Lerche im Frühling. Sie hatte auch allen Grund, sich zu freuen, war ihr doch unversehens ein Vermögen in den Schoß gefallen. So sang sie noch, als sie am frühen Abend Long Island erreichte und ihren Wagen in der Garage ihres Elternhauses abstellte.
»Das Leben ist wie ein Lotteriespiel; es verteilt mehr Nieten als Gewinne«, pflegte Popsey, Sharons Vater, zu sagen. Seine Tochter aber hatte einen Haupttreffer gezogen.
»Hallo, ihr Knilche. Wie geht es euch?«
Übermütig warf sie der Garten-zwergkolonie auf dem Rasen eine Kusshand zu und eilte die Stufen zu der eleganten weißen Villa im Kolonialstil hoch. Der bunte koreanische Plastikgnom, der neben den schlanken dorischen Säulen vor der Veranda so deplaziert wirkte wie eine Kuckucksuhr in der Schaltzentrale der NASA, bekam ihren tropfnassen Regenschirm über den Arm gehängt.
Sharon tippte dem Zwerg an die Nasenspitze. »He, Dicky, altes Haus, willst du mir nicht zu meiner Erbschaft gratulieren?«, fragte sie.
Dicky blieb stumm. Trotz eifriger Suche hatte Popsey noch keinen sprechenden Gartenzwerg gefunden.
»Dann eben nicht.«
Die junge Frau schlüpfte aus ihren Schuhen und fegte wie ein Wirbelwind durchs Haus.
»Mum. He, Mum, wo bist du?«
Die Antwort kam vom anderen Ende der Halle. »In meinem Kochstudio, Liebling.«
Sharon schnitt eine Grimasse. »Kochstudio« war ein irreführender Name für einen Raum, der bestenfalls Ungenießbares hergab. Harriet, die Köchin, nannte ihn respektlos »das Giftlabor«, und mit Ausnahme von Mrs Cartsham selbst waren alle Hausbewohner geneigt, dieser Bezeichnung beizupflichten. Vivica verfügte über zahlreiche Talente, doch auf die Zubereitung von Delikatessen verstand sie sich nicht. Sie wollte es bloß nicht einsehen.
Sharon begab sich ins »Kochstudio«.
»Hallo, Mum.«
Die zierliche Mitvierzigerin, die mit aufgestützten Händen am Küchentisch lümmelte und etwas fassungslos ein unförmiges schwarzes Gebilde begutachtete, hob zerstreut den Kopf. »Hallo, Schatz. Du kommst heute recht spät.«
»Ich habe noch bei Sharpe, Sharpe und Mason vorbeigesehen«, erklärte Sharon wie beiläufig, obwohl sie vor Mitteilungsdrang fast barst.
Ihre Mutter hob fragend die Brauen. »Wer sind diese Leute? Freunde von dir?« Mit konzentrierter Aufmerksamkeit begann sie, ihr jüngstes Erzeugnis mit einem Messer zu beschaben.
»Nein, Anwälte.« Sharon, vorübergehend von ihrer großen Neuigkeit abgelenkt, betrachtete fasziniert das schwarze Objekt. »Hast du wieder zu töpfern angefangen, Mum? Was soll das darstellen?«
Vivica schüttelte heftig den blonden Kopf. Mit ihrem wippenden Pferdeschwanz und ihrer legeren Kleidung sah sie viel jünger aus, als sie war, beinahe wie ein Teenager, der »erwachsen« mimte.
»Napfkuchen«, erwiderte sie im Telegrammstil. »Scheint nicht ganz gelungen zu sein. Lag vermutlich am Rezept.«
»Wirf das Ding in den Müllschlucker«, riet Sharon respektlos.
Mrs Cartsham blickte beleidigt drein. »Der Kuchen ist eine Überraschung für Popsey.«
Mr Cartsham hieß eigentlich »Sophonias«, weil seine Eltern bibelfeste Leute waren. Da er diesen Namen absolut grässlich fand, zog er es vor, auf seinen Spitznamen zu hören.
Sharon grinste schadenfroh. »Da wird Popsey sich aber mächtig freuen. Hoffentlich hast du genügend Magentabletten im Haus.«
Vivica hielt es für unter ihrer Würde, auf diese anzügliche Bemerkung einzugehen. Stattdessen fragte sie neugierig: »Weshalb hast du einen Anwalt aufgesucht, noch dazu einen fremden? Hast du etwas ausgefressen?«
»Mitnichten. Ich habe geerbt.«
»Geerbt? Ist jemand gestorben? Wer denn?«
»Onkel Greg.«
»Onkel Greg? Wer soll das sein? Du sprichst doch nicht etwa von Gregory Bryant?«
»Von wem sonst?«, erwiderte Sharon etwas ungeduldig. »Er ist vor einem Monat gestorben und auf Malta beigesetzt worden.«
Die Nachricht vom tragischen Unfalltod des berühmten Malers und Bildhauers war durch die gesamte westliche Medienlandschaft gegangen. Es hatte unzählige Nachrufe auf Gregory Bryant gegeben. Die Preise für seine Werke waren schlagartig in die Höhe geschnellt. Wer »in« sein wollte, musste einen echten »Bryant« besitzen. Es gehörte zum guten Ton.
»Der alte Geizkragen hat dich in seinem Testament bedacht?«, fragte Vivica ungläubig. »Ich bin sprachlos, ehrlich. Zu seinen Lebzeiten hat er seine Familie zum Teufel gewünscht.«
»Ich bin sogar seine Universalerbin«, verkündete Sharon, sich in die Brust werfend.
Mrs Cartsham blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. Sie schluckte. »Er hat alles dir hinterlassen? Alles?«
»So ist es.«
»Das finde ich super.« Spontan sprang die Frau auf und lief um den Tisch, um ihre Tochter zu umarmen. »Herzlichen Glückwunsch, mein Liebes.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, was für eine Überraschung!«
»Ein Hoch auf den teuren Verblichenen.«
»Ich frage mich, was Greg zu einem solchen Entschluss bewogen haben mag«, gestand Vivica. »Immerhin war er nicht einmal dein richtiger Onkel, sondern ein Vetter deines Großvaters.«
»Stimmt«, bestätigte Sharon heiter. »Er hat auch erklärt, weshalb seine Wahl ausgerechnet auf mich fiel. Höre und staune, Mum.« Sie zog eine Kopie des Testaments aus der Tasche und wedelte damit in der Luft. »Er hat mir sein Vermögen hinterlassen, weil ich die Einzige seiner Verwandten bin, deren Anblick ihm zeitlebens erspart blieb.«
»Na, wenn das keine unverschämte Begründung ist!«, rief Vivica empört aus. »Aber es sieht ihm ähnlich.« Dann siegte die Neugier über ihre Entrüstung. »Wie viel ist es denn?«
»Eine Viertelmillion Dollar«, gab Sharon ehrfürchtig zur Auskunft.
Ihre Mutter schnappte hörbar nach Luft. Enttäuschung malte sich auf ihren hübschen koboldhaften Zügen.
»Mehr nicht? Er muss steinreich gewesen sein. Wo ist sein Vermögen geblieben? Hat er es verpraßt?«
Sharon zuckte gleichmütig in die Achsel. »Woher soll ich das wissen? Ich bin vollauf zufrieden mit dem, was ich bekommen habe. Überlege bloß, wie lange ich dafür arbeiten müsste.«
»Trotzdem …«
»Sei nicht