102. Das Geisterschloß
Von Barbara Cartland
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Buchvorschau
102. Das Geisterschloß - Barbara Cartland
1 ~ 1886
„Tut mir aufrichtig leid, Lady Arletta, aber ich fürchte, damit bleibt Ihnen wenig Zeit."
„Sehr wenig, Mr. Metcalfe."
Lady Arletta Cherrington-Weir ließ einen tiefen Seufzer folgen, und ihre blauen Augen blickten bekümmert drein.
Mr. Metcalfe, ein penibler Anwalt in mittleren Jahren, hätte alles darum gegeben, den Kummer aus dem schönen Antlitz zu vertreiben, wenn es in seiner Macht gestanden hätte. Er kannte Lady Arletta von Kind auf und hatte sie zu einer jungen Dame heranwachsen sehen, die von Jahr zu Jahr schöner wurde.
Er konnte sich keine andere junge Frau von zwanzig vorstellen, die so bezaubernd aussah und gleichzeitig so bescheiden und sich ihrer Schönheit so wenig bewußt war wie sie.
Das war nicht verwunderlich, hatte sie doch in den vergangenen zwei Jahren ihren Vater, den Grafen Weir, pflegen müssen, einen schwierigen Patienten, der von Monat zu Monat unausstehlicher und tyrannischer geworden war.
Er hatte keine andere Pflegerin um sich geduldet und seine Tochter nach übereinstimmender Meinung der Ärzte und anderer eingeweihter Personen übler schikaniert, als er es jemals bei einer ausgebildeten Krankenpflegerin gewagt hätte.
In den entlegenen Grafschaften Englands, besonders auf Dörfern, war Pflegepersonal ohnehin Mangelware. Meistens war es nur in der Person einer Hebamme vertreten, die alt und fett war und sich bei langen Nachtwachen mehr der Ginflasche widmete als ihren Patienten.
Daher war Arletta nichts anderes übriggeblieben, als die Pflege ihres schwerkranken Vaters zu übernehmen. Er litt an Herzanfällen, die mit unerträglichen Schmerzen verbunden waren, aber auch an Gicht, die er dem reichlichen Genuß von Portwein und Claret zu verdanken hatte, dem er trotz ärztlichen Verbotes weiter frönte.
„Wenn ich schon sterben muß, pflegte er wütend zu sagen, „dann kann ich mich auch betrinken! Ich will verdammt sein, wenn ich mir den einzigen Trost, der mir in meiner widerwärtigen Lage geblieben ist, auch noch nehmen lasse!
Arletta hatte es längst aufgegeben, ihm zu widersprechen. Sie war so nachgiebig mit ihm, daß er sie bei seinen häufigen Wutausbrüchen als feige und stinklangweilig beschimpfte.
Dabei ließ er, wenn er sich einmal in besserer Verfassung befand, deutlich erkennen, wie stolz er auf sein einziges Kind war, wenn es für ihn auch eine bittere Enttäuschung gewesen war, daß es kein Stammhalter geworden war.
Deshalb würde sein Neffe Hugo, den er verachtete, den Adelstitel erben.
Arletta mochte Hugo auch nicht. Sie hielt ihn für einen arroganten jungen Mann, der sehr eigenwillige Vorstellungen hatte, wie er den Besitz verwalten wollte, und sich vehement weigerte, auf seinen Onkel zu hören oder sich irgendetwas von ihm sagen zu lassen.
Zwei Wochen nach dem Tode des alten Grafen hatte er Arletta wissen lassen, daß er in Weir House einzuziehen gedenke und sie schleunigst ihren persönlichen Besitz und sich selbst aus dem Haus zu entfernen habe.
Ihr Problem war, und das hatte sie auch Mr. Metcalfe mitgeteilt, daß sie nicht wußte, wohin sie gehen sollte.
„Sie müssen doch irgendwelche Verwandte haben, bei denen Sie wohnen können, Mylady, sagte der Anwalt. „Sie könnten auch jederzeit ins Auszugshaus einziehen, wie Sie wissen.
„Sicher, erwiderte Arletta, „und es war sehr freundlich von Vetter Hugo, mir das anzubieten, aber Sie wissen so gut wie ich, daß es mir niemals gestattet sein würde, allein darin zu wohnen.
Wieder seufzte sie, dann fuhr sie fort: „Außerdem könnte ich es nicht ertragen, mitansehen zu müssen, wie Hugo hier alles auf den Kopf stellt und die Methode, nach der Papa den Besitz verwaltet hat, nicht mehr gelten läßt."
„Sicher wäre es besser für Sie, anderswo zu leben, pflichtete Mr. Metcalfe ihr auf seine bedächtige Art bei. „Bedauerlicherweise hat die Krankheit Ihres Vaters verhindert, daß Sie vor einem Jahr bei Hofe vorgestellt wurden und Ihren eigenen Ball geben konnten, auf den Sie sich, wie ich mich erinnern kann, schon als Schulmädchen gefreut haben.
Arletta lächelte versonnen.
„Ich habe mir immer in den schönsten Farben ausgemalt, wie prächtig mein erster Ball in Weir House sein würde. Mama schwärmte schon davon, als ich noch ganz klein war. Sie sagte immer, es würde ein mindestens ebenso schöner Ball werden, wie sie zu Lebzeiten meines Großvaters hier stattgefunden haben."
Mr. Metcalfe war sehr wohl bekannt, daß der dritte Graf mit seinem zügellosen Hang zu Luxus und Extravaganz das Weir-Vermögen verschleudert und den Besitz in Schulden gestürzt hatte.
Arlettas Vater hatte sich redlich bemüht, die Ländereien gewinnbringend zu nutzen und seiner Familie ein standesgemäßes Auskommen zu sichern.
Doch er hatte den Familienbesitz in London, der damals zu einem Spottpreis verschleudert worden war, nicht zurückgewinnen können, und auch das Vermögen nicht, das in gewagten Spekulationen, die schnellen Reichtum versprochen hatten, vergeudet worden war.
Als er erkrankte, hatte Arletta gerade ihre Schulzeit beendet, und an ihre Einführung in die Gesellschaft war nicht zu denken gewesen.
Da der alte Graf alle Besucher, die ihm ihr Mitgefühl bekunden wollten, vor den Kopf gestoßen hatte, waren er und seine Tochter bald völlig isoliert, und in dem großen, vorher so gastlichen Haus hatte Grabesstille Einzug gehalten.
Da der Graf nicht mehr reiten konnte, hatte ein benachbarter Landedelmann die Meute übernommen und die Fuchsjagd veranstaltet, ebenso wie er den Ball ausgerichtet hatte, der das größte lokale Ereignis im Sommer war. Auch der traditionelle Bogenschützenwettbewerb hatte nicht mehr auf dem grünen Rasen des gräflichen Besitzes stattgefunden.
Auf das ganze Anwesen schien sich ein Nebel von Trostlosigkeit und Todesahnung zu senken.
Tatsächlich hatte der Graf es der aufopfernden Pflege nur seiner Tochter zu verdanken, daß er länger gelebt hatte, als bei seinem Zustand zu erwarten gewesen war, doch nun hatte er seine ewige Ruhe gefunden, und für Lady Arletta war es nach Mr. Metcalfes optimistischer Einschätzung ein Neubeginn.
„Lassen Sie uns einmal in aller Ruhe darüber nachdenken, schlug er vor. „Ich kenne all Ihre Verwandten und hoffe, Sie halten es nicht für ungehörig von mir, wenn ich Ihnen einen Rat gebe.
„Natürlich nicht, Mr. Metcalfe. Ich bin Ihnen für jeden Vorschlag außerordentlich dankbar, entgegnete Arletta. „Wie Sie wissen, leben nur wenige meiner nächsten Verwandten in England.
Der jüngste Bruder des Grafen war Gouverneur in Khartum. Da er unverheiratet war, würde er seine Nichte kaum für längere Zeit bei sich aufnehmen können, zumal das Leben in diesem unruhigen Land nicht ungefährlich war.
Ihre einzige Tante wiederum war mit dem Gouverneur der indischen Nordwest-Provinzen verheiratet. Sie hatte selbst drei Töchter, um die sie sich kümmern mußte, und würde nicht einverstanden sein, Lady Arletta auch noch in ihre Obhut nehmen zu müssen.
„Da wäre Ihre Kusine Emily, Mylady", sagte Mr. Metcalfe nach langer Pause.
Arletta wehrte entsetzt ab.
„Ich kann nicht mit Emily zusammenleben, Mr. Metcalfe! Das könnte ich nicht ertragen. Wie Sie wissen, widmet sie sich nur der Wohltätigkeit und mißbilligt jegliche Vergnügungen wie Tanzen und Musik. Sie duldet keine glücklichen Menschen um sich. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als mit Kusine Emily zusammenleben zu müssen."
Mr. Metcalfe gab ihr lachend recht.
„Da stimme ich mit Ihnen überein, Lady Arletta. Also müssen wir eine andere Bleibe für Sie finden."
„Aber wo? Arletta seufzte leise und fuhr fort: „Ich habe mir oft gewünscht, einige von Großmamas Verwandten kennenzulernen. Da sie aber in Frankreich leben und wohl niemals nach England gekommen sind, habe ich keine Verbindung zu ihnen, obwohl ich nach meiner Großmutter genannt wurde.
„Daran habe ich gar nicht mehr gedacht, murmelte Mr, Metcalfe vor sich hin. „Sicher, Arletta ist ein französischer Name.
„Man hat mir oft gesagt, daß es auch der Name der Großmutter von Wilhelm dem Eroberer sei, sagte Arletta, „und da meine Großmama aus der Normandie stammte, hatte sie auch blondes Haar und blaue Augen. Also wirke ich zwar englisch, bin aber auch Französisch.
Mr. Metcalfe lachte.
„Das will ich Ihnen gern glauben, Lady Arletta, obwohl ich mir Französinnen immer dunkeläugig und mit dunklem Haar vorgestellt habe."
„Nicht, wenn es sich um Normannen handelt, sagte Arletta stolz, dann fuhr sie fort: „Wenn ich mich also nicht an Großmamas Verwandte wenden will, die ich überhaupt nicht kenne, wen gäbe es noch in England?
„Da wäre noch Lady Travers", schlug Mr. Metcalfe vor.
Arletta schnitt eine Grimasse.
Lady Travers war eine Kusine von ihr, die gelegentlich in Weir House zu Besuch gewesen war, sich dazu jedoch stets selbst eingeladen hatte. Sie gehörte zu den Frauen mittleren Alters, die stets über irgendein Leiden zu klagen hatten, das den Ärzten Rätsel aufgab. Arletta hatte schon seit geraumer Zeit erkannt, daß das einzige, was ihrer Kusine Alice fehlte, eine sinnvolle Beschäftigung war.
Sie verfügte über genügend Geld, um angenehm leben zu können, aber sie hatte keine Kinder und war daher nur mit sich selbst und ihren eingebildeten Krankheiten beschäftigt.
Sie hielt sich monatelang in Harrogate oder Cheltenham auf, ohne sich danach wohler zu fühlen, so daß es dann mindestens Bath, Spa, Baden-Baden oder sogar Aix-les-Bains in Frankreich sein mußte.
Arletta fand, daß ihr zwei Jahre als Pflegerin mit einem Kranken wie ihrem Vater genügten, und sie es nicht ertragen könnte, das gleiche noch einmal mit einem anderen Menschen durchmachen zu müssen. Mr. Metcalfe sah ihr an, was sie bewegte.
„Auf keinen Fall Lady Travers! entschied er. „Denken wir darüber nach, wer noch in Frage käme.
„Darüber habe ich mir die ganze Zeit schon den Kopf zerbrochen, sagte Arletta, „denn es ist mir einfach unbegreiflich, daß von einer so angesehenen Familie wie der unseren nur so wenige Personen in Betracht kommen.
„Es muß jemanden geben!" rief Mr. Metcalfe der Verzweiflung nahe.
„Ich habe einige Verwandte, die im Norden von Schottland leben, sagte Arletta, „und auch entfernte Verwandte in Irland, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß sie besonders entzückt wären, mich bei sich aufnehmen zu müssen, nachdem Papa sie die ganze Zeit mit Verachtung gestraft hat.
Mr. Metcalfe mußte ihr auch in diesem Punkt recht geben und versuchte, sich den Familienstammbaum vor Augen zu führen, dessen Abbildung in der Bibliothek hing.
Arletta erhob sich unvermittelt.
„Es hat keinen Sinn, sich länger darüber den Kopf zu zerbrechen, entschied sie. „Ich werde jetzt meine Sachen ins Auszugshaus räumen und in Ruhe überlegen, welche Möglichkeiten mir noch bleiben.
„Sie sollten jetzt in London sein, Mylady, erklärte Mr. Metcalfe. „Die Saison hat gerade begonnen, und sicher können Sie bei irgendeiner Bekannten wohnen und sich mit Gleichaltrigen treffen, wenn Sie schon wegen des Trauerjahres nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können.
„Sie wissen ja, erwiderte Arletta, „daß Papa testamentarisch verfügt hat, daß niemand um ihn trauern und seinetwegen Schwarz tragen soll.
Mr. Metcalfe, der das Testament verfaßt hatte, fand, daß diese Verfügung genau zum Grafen paßte. Damals war sie ihm geschmacklos erschienen, jetzt aber, da Lady Arletta sie mit ihrer sanften, melodischen Stimme zitierte, mutete sie ihn grausam an.
„Niemand hätte sich aufopfernder für ihn einsetzen können als Sie, Mylady, sagte er ruhig. „Sie haben ihm die letzten Jahre seines Lebens erträglicher gemacht, und ich kann mir gut vorstellen, was für ein schwieriger Patient er war.
„Entsetzlich schwierig, bestätigte Arletta, doch plötzlich lächelte sie und fuhr fort: „Die Ärzte konnten ihm nichts recht machen, und ich auch nicht. Wenn die Schmerzen ihn plagten, bestand wohl sein einziges Vergnügen darin, uns zu piesacken und genau das Gegenteil dessen zu tun, was von ihm verlangt wurde.
„Ich fürchte, der verstorbene Graf war Zeit seines Lebens ein Rebell", bemerkte Mr. Metcalfe.
„Und ich bin hoffentlich auch einer", erklärte Arletta mit Nachdruck.
Mr. Metcalfe schien darüber ein wenig befremdet, und sie fügte ergänzend hinzu: „Ich möchte mich vom Schicksal nicht unterkriegen lassen, sondern fühle mich jetzt frei und bereit, mein Leben neu zu beginnen."
Sie brauchte Mr. Metcalfe nicht zu erklären, daß die Betreuung ihres Vaters in dem großen, düsteren Haus, in dem es niemanden gab, mit dem sie reden konnte, ihr das Gefühl vermittelt haben mußte, lebendig begraben zu sein.
„Sie haben ganz recht, bekräftigte er. „Sie sollten endlich einmal an sich denken und sich ein wenig vergnügen. Als erstes sollten Sie sich ein paar hübsche neue Kleider anschaffen. Nichts hebt die Stimmung so sehr wie eine neue Robe, pflegt meine Frau immer zu sagen.
Lady Arletta lachte.
„Mrs. Metcalfe hat ganz recht. Genau das werde