90. lady bartons rache
Von Barbara Cartland
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90. lady bartons rache - Barbara Cartland
1 ~ 1836
Valessa stand am Fenster und blickte nach draußen. Es war ein warmer Novembertag. Die Sonne schien, und nur über Nacht hatte es leichten Frost gegeben.
Die Bäume hatten eine rötlichbraune Färbung angenommen, und der Laubteppich darunter prangte in den gleichen Farben.
»Ein schöner Tag zum Sterben«, sagte Valessa laut zu sich selbst.
Sie verspürte auf einmal den Wunsch, trotz allem am Leben zu bleiben, und wußte doch, daß es unmöglich war.
Sie konnte so nicht weiterleben, und dieser plötzlich aufflackernde Lebenswille war wohl darauf zurückzuführen, daß sie etwas gegessen hatte.
Als sie gestern zu dem Schluß gekommen war, keine andere Wahl zu haben als den Tod, hatte sie sich vorgenommen, vorher noch einmal ordentlich zu frühstücken, sonst fehlte ihr womöglich die Kraft, zum Fluß hinunterzugehen und sich ins Wasser zu stürzen.
Das letzte Bettlaken, das sie erübrigen konnte, hatte sie gegen zwei Eier eingetauscht, und für einen von ihrer Mutter bestickten Kopfkissenüberzug hatte sie drei Scheiben Brot und ein winziges Stück Butter bekommen.
Sie wollte sich morgens früh ankleiden und dann hinunter in die Küche gehen, um das für ihre Begriffe frugale Frühstück einzunehmen.
Als sie aber heute morgen aufgewacht war, hatte der Hunger sie so geplagt, daß sie noch im Nachthemd nach unten gelaufen war und die Eier und den warmen Toast heißhungrig verschlungen hatte. Zu trinken hatte sie nur Wasser, aber da es ihr gelungen war, das Feuer im Herd in Gang zu halten, konnte sie zumindest das Wasser im Kessel heiß machen.
Sie war stolz darauf, daß es ihr gelungen war, Holz für den Kamin in ihrem Schlafzimmer und den Herd in der Küche zu beschaffen.
Das erforderliche Brennmaterial hatten ihr die Bäume geliefert, die das Haus umgaben. Mit dem Reisig, das sie gesammelt hatte, war es ihr gelungen, zumindest diese beiden Räume im Haus warm zu halten. Vermutlich, so sagte sie sich, war sie nur deshalb so lange am Leben geblieben.
Sie hatte immer weniger zu essen gehabt, weil es nichts mehr gab, was sie gegen Lebensmittel hätte eintauschen können.
Wenn sie nicht einen qualvollen Hungertod sterben wollte, dann war der einzige Ausweg für sie, ins Wasser zu gehen.
Sie konnte es selbst nicht fassen, daß alles so schnell gegangen und von dem Haus, in dem sie aufgewachsen war, nur noch eine leere Hülle verblieben war.
Sämtliche Räume waren leer. Nur die hellen Flecken an den Wänden zeugten noch davon, daß hier einmal Gemälde gehangen hatten.
Nur die schäbigen Teppichreste auf dem Fußboden wollte keiner haben.
Einst war dieses Haus ein Ort des Glücks und des Frohsinns gewesen. Ihre Familie hatte nie viel Geld gehabt, aber sie hatten trotz der ärmlichen Umgebung stets genügend zu essen gehabt und ein glückliches Familienleben geführt.
Rückblickend stellte Valessa bei sich fest, nie einem besser aussehenden und lebenslustigeren Mann begegnet zu sein als ihrem Vater, und doch trug er die Schuld an allem, was geschehen war.
Begonnen hatte alles lange vor ihrer Geburt, als Charles Chester sich heftig mit seinem Vater gestritten hatte.
»Ich müßte ja verrückt sein, wenn ich in die Armee einträte!« hatte er seinem Vater erklärt. »Seit ich denken kann, hast du mich behandelt wie einen Grünschnabel. Ich will mein Leben genießen und mir die Welt ansehen!«
»Wenn du nicht gehorchst, sorge ich dafür, daß du keinen müden Penny bekommst!« hatte sein Vater getobt.
Charles war jedoch entschlossen, seinen Willen durchzusetzen.
Zwei Tage später war er von zu Hause weggelaufen und hatte alles Bargeld mitgenommen, dessen er habhaft werden konnte.
Zudem hatte er auch die Tochter des Nachbarn überredet, mitzukommen, und das hatte man ihm äußerst übelgenommen. Elizabeth, um deren Gunst er heimlich über ein Jahr lang geworben hatte, weil ihr Vater einen Habenichts wie ihn niemals als Schwiegersohn akzeptiert hätte, erfuhr von ihm selbst, daß er fliehen wollte.
Er küßte sie zum Abschied, und in diesem Augenblick wußte sie, daß es für sie nichts Wichtigeres auf der Welt gab als ihn.
Heimlich hatten sie sich davongemacht, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an den Skandal zu verschwenden, den sie verursachen würden.
Für Elizabeths Familie war die Lage besonders unangenehm. Ihr Vater hatte in ihre Verlobung mit einem Mann von hohem gesellschaftlichem Ansehen eingewilligt, obwohl der Auserwählte viel älter war als sie.
Die Vermählung sollte in zwei Wochen stattfinden.
Als Elizabeth von zu Hause fortlief, nahm sie auf Charles’ Geheiß den von ihrer Mutter geerbten Schmuck mit, aber auch die Pretiosen, die sie zu ihrer bevorstehenden Hochzeit geschenkt bekommen hatte.
»Mehr als aufhängen können sie uns nicht«, hatte Charles grinsend bemerkt. »Wenn sie tatsächlich versuchen sollten, uns zu verfolgen, was ich bezweifle, sind wir längst auf hoher See, bevor sie uns einholen.«
»Wohin fahren wir eigentlich?« erkundigte sich Elizabeth erst jetzt.
»Wenn’s nach mir geht, direkt ins Paradies«, entgegnete Charles. »Als erste Station unserer Reise dachte ich an Ägypten, um die Pyramiden zu besichtigen.«
Elizabeth war alles recht, wenn sie nur bei ihm sein konnte.
Als die beiden sich zur Flucht entschlossen hatten, kümmerte sie weder der Zorn ihrer Eltern noch die Empörung, die ihr Schritt in der Verwandtschaft hervorrufen würde.
Wie sich herausstellte, verfügten sie über ausreichende Mittel.
Elizabeths Mutter hatte außer ihrem Schmuck auch ihr gesamtes Vermögen ihrer Tochter vermacht. Es belief sich auf etwa dreihundert Pfund im Jahr und ermöglichte dem jungen Paar viele Reisen in ferne Länder und an entlegene Orte.
Erst kurz vor Valessas Geburt kehrten die beiden nach England zurück, unternahmen aber keinen Versuch, mit ihrer Verwandtschaft Verbindung aufzunehmen, zumal sie ohnehin keiner empfangen hätte. Charles fand ein kleines schwarz-weißes Fachwerkhaus in Leicestershire, das er nach eigenem Bekunden für ein Butterbrot erwarb.
Elizabeth richtete es gemütlich ein, und sie wohnten zwei Jahre mit der kleinen Valessa darin. Dann wurde Charles wieder ruhelos. Das Fernweh packte ihn, und bald begaben sie sich mit ihrer kleinen Tochter erneut auf Reisen.
Bevor sie alt genug war, Dinge und Ereignisse zu begreifen, genoß Valessa das Vergnügen, auf einem Kamel zu reiten oder mit ihrem Vater den Gipfel eines Berges zu erklimmen, weil er darauf bestand, die Welt von oben zu betrachten.
Sie fuhr mit ihren Eltern einen Fluß hinab, in dem es von Krokodilen nur so wimmelte, und lernte unerforschte Gegenden in Afrika kennen.
Es machte ihr nichts aus, völlig ungewohnte Nahrung zu sich zu nehmen und in Zelten, manchmal sogar in Höhlen zu übernachten.
Wieder in England lernte sie, mit Pferden umzugehen, und konnte bald ebenso gut reiten wie ihr Vater.
Er befaßte sich ausschließlich mit der Zucht und dem Verkauf von Pferden, als sich abzeichnete, daß seine Frau nicht mehr würde reisen können.
Elizabeth hatte sich auf den Auslandsreisen eine tückische tropische Fieberkrankheit zugezogen, gegen die kein Arzt in England ein Mittel wußte, und war körperlich sehr geschwächt. Sie war außerstande, mehr zu tun, als das Haus für ihren Gatten und ihre Tochter in Ordnung zu halten, und Charles empfand es daher als großes Glück, daß die heranwachsende Valessa ihm bei der Arbeit zur Hand gehen konnte.
Bald konnte sie die Pferde ebenso gut zureiten wie er.
Die Pferdezucht war seine einzige Einnahmequelle, als Elizabeth plötzlich und ganz friedlich starb.
Valessa konnte es nicht fassen. Eben noch war ihre Mutter mit ihr zusammen gewesen, hatte gelacht und mit liebevollem Blick ihren stattlichen Gemahl angesehen, und dann wurde sie schon in einem schlichten Sarg auf den Friedhof getragen.
Nach Elizabeths Tod war es dann mit einem Mal bergab gegangen. Später sollte Valessa erfahren, daß der Letzte Wille ihrer Großmutter mütterlicherseits die Tragödie ausgelöst hatte.
Danach erhielt ihr Vater die Vollmacht, das Familienvermögen zu verwalten.
Er benötigte nur drei Jahre, um es bis auf den letzten Penny aufzubrauchen.
Zunächst gab er es für Pferde aus, die er nicht wie bisher auf dem Pferdemarkt erstand, sondern im kostspieligen Tattersall in London. Dann begann er zu spielen, weil er sich einsam fühlte.
In der Nachbarschaft gab es zwei große Häuser, in denen er sich mit Freunden zum Spiel zu treffen pflegte.
Valessa stellte er diese Freunde nie vor, und von ihrer Mutter wären sie ganz sicher nicht empfangen worden.
Es waren trinkfeste Herrenreiter, die das Spiel mit hohen Einsätzen liebten. Wenn sie betrunken waren, brachten sie es fertig, Wetten über die Schnelligkeit von zwei Fliegen an der Fensterscheibe abzuschließen.
Als Valessa im Alter von achtzehn Jahren erfuhr, daß ihr Vater kein Geld mehr hatte, war nichts mehr zu retten.
Alles, was er besaß, war ein Haufen Schulden. Bedrängt von seinen Gläubigern, begann er das gesamte Inventar des Hauses zu verkaufen.
Es schmerzte Valessa zutiefst, mitansehen zu müssen, wie die hübschen goldgerahmten Spiegel, die ihre Mutter so geliebt hatte, von den Wänden genommen wurden. Der französische Sekretär, an dem ihre Mutter ihre Briefe zu schreiben pflegte, verschwand über Nacht.
Die Teppiche, die sie von Persien mitgebracht hatten, wurden zusammengerollt und auf einen Karren geladen.
»So kann es doch nicht weitergehen, Papa!« hatte Valessa eines Tages zu ihrem Vater gesagt.
»Ich weiß, Püppchen«, erwiderte er, »und ich schäme mich entsetzlich dafür!«
Dann ließ er sein unbekümmertes Lachen hören, das auf jeden, der es hörte, ansteckend wirkte.
»Ich nehme heute abend an einer Party teil«, sagte er, »und ich habe das Gefühl, daß ich den Haupttreffer landen werde!«
»O . . . nein, Papa!« rief Valessa verzweifelt.
Doch es war sinnlos, ihn davon abbringen zu wollen. Er haßte die Leere und Stille im Haus, die nach dem Tode ihrer Mutter eingezogen waren.
Sie wußte, daß er der Mittelpunkt jeder Party war und deshalb so viele Einladungen erhielt; sie wünschte nur, es wären Leute gewesen, die ihrer Mutter gefallen und die hin und wieder auch sie miteingeladen hätten.
Sie war jetzt erwachsen, aber sie kannte außer den Dorfbewohnern keine Menschenseele, und Little Fladbury war ein sehr kleines Nest.
Natürlich gab es da den Pfarrer, der sie unterrichtet hatte und der ein sehr gebildeter Mann war, er hatte ihr nicht nur die klassische Literatur, sondern natürlich auch die Bibel nahegebracht. Dann gab es noch die Schullehrerin, die Valessa in Mathematik und Geographie unterrichtet hatte, wenn sie nicht zu sehr mit den Dorfkindern beschäftigt war, die keine Lust verspürten, irgendetwas zu lernen.
Doch die wichtigste Quelle, um ihren Wissensdurst zu stillen, war die Bibliothek ihrer Mutter gewesen, die für ein so bescheidenes Haus auffallend umfangreich war.
Ihre Mutter hatte überall in der Welt gute Bücher gesammelt, weil sie eine große Vorliebe für Literatur hatte.
Sie hatte Valessa in Französisch, Italienisch und auch in Spanisch unterrichtet, während sie auf Reisen gewesen waren.
Wenn sie nach Hause zurückkehrten, hatte sie darauf bestanden, daß ihre Tochter die Bücher über das Land, in dem sie gewesen waren, las.
Valessa hatte einen wachen Verstand und eine rasche Auffassungsgabe, und es dauerte nicht lange, bis sie sich mit ihrer Mutter in den verschiedenen Sprachen fließend unterhalten konnte. Sie pflegte die Bücher, die so viele Regale in der Bibliothek füllten, auch zuweilen laut zu lesen.
Die Bücher befanden sich in dem sogenannten Studierzimmer, einem kleinen Raum, der als einziger noch möbliert war.
Als man ihr die Nachricht vom Tod ihres Vaters überbrachte, war Valessa sicher, daß er den Tod gesucht hatte.
Er hatte die Gesellschaft, auf der er den Haupttreffer zu machen hoffte, verlassen, nachdem er, wie sie später erfuhr, eine hohe Summe verspielt hatte, die er nicht besaß.
Sie würde nie erfahren, ob er aus Scham, ihr seine Niederlage eingestehen zu müssen, oder aus Angst vor dem Spott und Hohn seiner sogenannten Freunde aus dem Leben geschieden