Das Baby gibt den Ton an: Mami 1977 – Familienroman
Von Susanne Svanberg
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Beladen mit Tasche, Päckchen und einem überdimensionalen Blumenstrauß stieg Ruth Reuter die Stufen zu ihrer Wohnung hoch. Trotz der Last und zwei Gläschen Sekt, die sie anläßlich der Abschiedsfeier mit den Kollegen getrunken hatte, tat sie es schwungvoll, denn heute war ihr letzter Arbeitstag gewesen. Nach knapp vierzig Arbeitsjahren trat sie in den verdienten Ruhestand. Etwas umständlich suchte Ruth nach dem Schlüssel ihrer Wohnungstür. Zu ihrer Überraschung wurde von innen geöffnet. Verblüfft stand sie ihrer Tochter gegenüber. »Tessa, wie schön! Du hast daran gedacht, daß ich ab morgen nicht mehr arbeite.« Ruth ließ die Tasche fallen und umarmte die zierliche junge Frau. Jedem Beobachter wäre aufgefallen, daß die beiden die gleiche rotbraune Haarfarbe hatten. Bei Tessa war sie echt, bei Ruth sorgte ein geschickter Friseur dafür, daß die Naturfarbe erhalten blieb. Etwa den gleichen Ton hatten Ruths Augen, und Tessa hatte auch dieses Merkmal geerbt. Trotzdem waren die beiden recht verschieden. Ruth war im Lauf der Jahre rundlich geworden, trug eine Brille und Kleidung, die ihrem Alter entsprach. Tessa dagegen hatte die Figur eines superschlanken Mannequins und wirkte schon deshalb jünger, als sie es mit ihren 29 Jahren war. »Komm, nimm mir mal die Blumen ab. Den Strauß habe ich von Paul Olson, unserem Chef. Der Gute wollte mir wohl eine Freude machen, aber ich glaube, ich habe gar keine Vase für dieses Monstrum.« Ruth schob sich in die Wohnung. Auf dem Garderobentischchen setzte sie vorsichtig das Päckchen ab.
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Buchvorschau
Das Baby gibt den Ton an - Susanne Svanberg
Mami
– 1977 –
Das Baby gibt den Ton an
Viel Wirbel um den kleinen Marvin
Susanne Svanberg
Beladen mit Tasche, Päckchen und einem überdimensionalen Blumenstrauß stieg Ruth Reuter die Stufen zu ihrer Wohnung hoch. Trotz der Last und zwei Gläschen Sekt, die sie anläßlich der Abschiedsfeier mit den Kollegen getrunken hatte, tat sie es schwungvoll, denn heute war ihr letzter Arbeitstag gewesen. Nach knapp vierzig Arbeitsjahren trat sie in den verdienten Ruhestand.
Etwas umständlich suchte Ruth nach dem Schlüssel ihrer Wohnungstür. Zu ihrer Überraschung wurde von innen geöffnet. Verblüfft stand sie ihrer Tochter gegenüber.
»Tessa, wie schön! Du hast daran gedacht, daß ich ab morgen nicht mehr arbeite.« Ruth ließ die Tasche fallen und umarmte die zierliche junge Frau.
Jedem Beobachter wäre aufgefallen, daß die beiden die gleiche rotbraune Haarfarbe hatten. Bei Tessa war sie echt, bei Ruth sorgte ein geschickter Friseur dafür, daß die Naturfarbe erhalten blieb. Etwa den gleichen Ton hatten Ruths Augen, und Tessa hatte auch dieses Merkmal geerbt.
Trotzdem waren die beiden recht verschieden. Ruth war im Lauf der Jahre rundlich geworden, trug eine Brille und Kleidung, die ihrem Alter entsprach. Tessa dagegen hatte die Figur eines superschlanken Mannequins und wirkte schon deshalb jünger, als sie es mit ihren 29 Jahren war.
»Komm, nimm mir mal die Blumen ab. Den Strauß habe ich von Paul Olson, unserem Chef. Der Gute wollte mir wohl eine Freude machen, aber ich glaube, ich habe gar keine Vase für dieses Monstrum.«
Ruth schob sich in die Wohnung. Auf dem Garderobentischchen setzte sie vorsichtig das Päckchen ab.
»Das sind sehr teure Gläser. Die Belegschaft hat gesammelt und sie für mich gekauft. Sie waren alle rührend nett, die Kolleginnen und Kollegen. Du wirst es nicht glauben, die beiden Verkäuferinnen aus der Kinderabteilung haben beim Abschied sogar geweint. Na ja, immerhin habe ich das Geschäft mehr als fünfundzwanzig Jahre lang geführt, und es hat nie Streitigkeiten gegeben. Der Umsatz hat auch gestimmt, Olsen war zufrieden.«
Ruths Bäckchen glühten. Das kam weniger vom genossenen Alkohol als davon, daß dies ein sehr aufregender Tag für sie war. Viele Hände hatte sie geschüttelt, viele gute Wünsche entgegengenommen. Eigentlich hatte sie erst heute erfahren, wie beliebt sie im Schuhhaus Olsen war. Sogar zwei Kundinnen hatten sie spontan in die Arme geschlossen und ihr Glück gewünscht.
»Und wer übernimmt deinen Posten?« fragte Tessa ohne echtes Interesse. Sie war dabei, den mächtigen Blumenstrauß kurzerhand in einen Eimer zu stellen.
»Michael Hensel, ein tüchtiger junger Mann. Er ist schon zehn Jahre bei uns und kennt sich aus.« Ruth schlüpfte aus dem Mantel und schüttelte sich. »Du ahnst gar nicht, was für ein Gefühl das ist, endlich frei zu sein und ohne Einschränkung über die Zeit verfügen zu können.«
Tessa antwortete nicht darauf. Sie war ernst und bleich, doch das fiel ihrer Mutter nicht auf. Die Gewißheit, vor einem neuen Lebensabschnitt zu stehen, versetzte Ruth in Hochstimmung.
»Es war nicht immer einfach für mich, berufstätig zu sein. Besonders, als du klein warst, Tessa. Damals mußte ich dich in eine Kindertagesstätte geben. Das war sehr schmerzlich, doch ich hatte keine andere Wahl. Als uns dein Vater wegen einer anderen verließ, hast du gerade laufen gelernt. Er weigerte sich, Unterhalt zu bezahlen, und als er von den Behörden dazu gezwungen werden sollte, verschwand er nach Südamerika. Aber das ist nun alles vorbei. Das Schicksal hat es gut mit mir gemeint. Noch bin ich gesund und kann den Ruhestand genießen.« Ruth atmete hörbar auf. So, als falle eine schwere Last von ihr ab. Ähnlich fühlte sie sich auch. Fast vierzig Jahre lang hatte sie gewissenhaft ihre Pflicht getan. Jetzt fühlte sie sich davon befreit.
»Du, ich habe wahnsinnig viele Pläne. Alles, was sich andere im Lauf ihres Lebens gönnen konnten, werde ich nun nachholen«, erklärte Ruth strahlend. Sie war von dieser Aussicht so begeistert, daß sie nicht bemerkte, wie schweigsam Tessa war.
Ruth kam in die Küche, wo Tessa noch immer mit dem Arrangieren der Blumen beschäftigt war. Hübsch verteilt sah der Strauß im weißen Eimer gar nicht schlecht aus. »Als erstes steht eine Mittelmeer-Kreuzfahrt auf dem Programm. Das ist etwas, was ich mir schon lange gewünscht habe. Ich freue mich wahnsinnig darauf«, erklärte die ältere Frau lebhaft. »Die Küsten von Spanien, Italien und Griechenland im Frühling… das muß ein wunderbares Erlebnis sein.«
Tessa schaute ihre Mutter nachdenklich an, hütete sich aber davor, ihr die gute Laune zu verderben.
»Endlich kann ich auch meine Hobbys pflegen«, plauderte Ruth munter weiter.
»Ich werde wandern, wann immer es die Witterung zuläßt. An Regentagen werde ich lesen, malen oder Handarbeiten machen. Ach, es gibt so viel Schönes, das ich aus Zeitgründen zurückstellen mußte. Und jetzt mache ich uns zunächst eine gute Tasse Kaffee.« Ruth füllte bereits frisches Wasser in die Kaffeemaschine.
»Bist du nicht schon aufgedreht genug, Mam?« fragte Tessa. Wie viele erwachsene Kinder versuchte sie, ihre Mutter zu bevormunden.
Ruth beachtete den Einwand nicht. »Für den Sommer habe ich eine größere Bergwanderung in Österreich geplant, für den Herbst eine Radtour rund um den Bodensee.«
Tessas Blick wurde immer skeptischer. »Mam, solch große Touren kannst du unmöglich allein…«, meinte sie kopfschüttelnd.
Ruth schmunzelte geheimnisvoll. »Ich werde nicht alleine fahren«, verriet sie mit gewissem Stolz. »Aber das werde ich dir noch erzählen. Es ist ganz gut, daß wir ungestört sind.« Sie gab das Kaffeepulver in den Filter, zur Feier des Tages etwas mehr als sonst. Die Maschine blubberte, Ruth holte die Tassen aus dem Schrank.
Die Tochter sah ihr stumm zu. Sie war enttäuscht, denn sie hatte sich dieses Treffen ganz anders vorgestellt. Zum ersten Mal in ihrem Leben mußte sie die Erfahrung machen, daß auch ihre Mutter ein Eigenleben hatte. Ruths Pläne und ihre Vorstellungen von der Zukunft waren mit Tessas Interessen nicht vereinbar. Tessa war zu Ruth gekommen, weil sie Trost und Hilfe brauchte. Gewiß, sie hatte bis jetzt nicht darüber gesprochen, doch ihrer Ansicht nach mußte eine Mutter das spüren. Bisher war es immer so gewesen. Ruth hatte stets sofort bemerkt, wenn Tessa Kummer hatte. Doch heute war sie wohl zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Für Tessa war das eine ganz neue Erkenntnis. Eine Erkenntnis, die sie verwirrte und beunruhigte.
Geschäftig stellte Ruth das Geschirr und etwas Gebäck auf ein Tablett und trug es ins Wohnzimmer zum Tisch im Erker. Es war ein hübsches Plätzchen, von dem aus man in den Park sah, der gleich hinter dem Haus begann. Jetzt, Ende Februar, waren die Bäume noch kahl. Doch im Sommer schaute man auf ein Meer von wogenden grünen Blättern, zwischen denen man ab und zu einen Vogel beobachten konnte.
»All diese Unternehmungen kosten doch auch viel Geld«, meinte Tessa vorsichtig, als ihre Mutter in die Küche zurückkam.
Ruth griff nach der Kaffeekanne und winkte ab. »Ich habe immer sparsam gelebt, das weißt du. Also habe ich ein nettes Sümmchen gespart, das ich nun einsetzen werde, um das Leben noch ein bißchen zu genießen. Du hast doch nichts dagegen?« Besorgt
sah Ruth auf ihre erwachsene Tochter. Tessa hatte den einzigen Sohn eines vermögenden Unternehmers geheiratet. Sie war gut versorgt.
»Nein, natürlich nicht«, versicherte Tessa etwas zögernd. Mit dem Blumeneimer folgte sie ihrer Mutter in den Wohnraum. Sie stellte ihre Last in eine Ecke und nahm am runden Tisch im Erker Platz, bedrückt und wortkarg.
Ruth Reuter war um so lebhafter. »Um dich nicht lange auf die Folter zu spannen, mache ich es kurz. Ich habe schon vor Monaten einen netten Herrn kennengelernt, Doktor Dennis Jacobi.«
»Du,