Augen, die so traurig sind …: Mami 1887 – Familienroman
Von Gisela Reutling
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Über dieses E-Book
Ein seltsames Gefühl war das, wieder durch das Haus zu gehen, in dem sie noch alles so vorfand, wie sie es vor einem halben Jahr verlassen hatte.
War es nicht, als hätte es auf sie gewartet?
So viel Glück, so viel Leid umschloß es.
Was war mehr gewesen?
Es hielt sich die Waage.
Das Glück war versunken. Auch das Leid?
Andrea stand jetzt im Kinderzimmer. Sie sah die Wiege, den Wickeltisch, all die vielen kleinen Dinge, die für ihr Baby waren. Mit einem wehen Ausdruck schüttelte sie den Kopf. Nein, nicht auch das Leid.
Aber es hatte sich verwandelt.
Da war zuerst der wilde, wahnsinnige Schmerz gewesen, daß sie ihr kleines Mädchen Jessica nur vier Monate – vier Monate nur! – in den Armen halten durfte, bevor es ihr im Sekundentod entrissen worden war.
Dann die völlige Apathie, die Abkehr vom Leben, als sei sie mit ihrem Liebling gestorben.
Lange, lange hatte das gewährt, weit über das Trauerjahr hinaus. Auch Rolf hatte ihr nicht helfen können. Nicht die Eltern, die Schwester, so gut sie es auch mit ihr meinen mochten.
Bis ihr Mann so nicht mehr mit ihr leben wollte. Sich einer anderen zugewandt hatte, die ihm wieder Lebensfreude geben konnte.
Das war die Krise gewesen. Das hatte sie herausgeschleudert aus der Depression, der Schwärze der Nacht, die sie mehr und mehr zu umfangen drohte. Sie war aufgewacht. Und sie war fortgegangen, um ihr vor der Ehe begonnenes Medizinstudium fortzusetzen.
Ein Ziel vor Augen zu haben, das war es, was ihr geholfen hatte, die Trauer um das Verlorene zu verklären in stille Wehmut.
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Mami Classic
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Buchvorschau
Augen, die so traurig sind … - Gisela Reutling
Mami
– 1887–
Augen, die so traurig sind …
Ein kleines Mädchen weiß nicht, wohin es gehört
Gisela Reutling
Ein seltsames Gefühl war das, wieder durch das Haus zu gehen, in dem sie noch alles so vorfand, wie sie es vor einem halben Jahr verlassen hatte.
War es nicht, als hätte es auf sie gewartet?
So viel Glück, so viel Leid umschloß es.
Was war mehr gewesen?
Es hielt sich die Waage.
Das Glück war versunken. Auch das Leid?
Andrea stand jetzt im Kinderzimmer. Sie sah die Wiege, den Wickeltisch, all die vielen kleinen Dinge, die für ihr Baby waren. Mit einem wehen Ausdruck schüttelte sie den Kopf. Nein, nicht auch das Leid.
Aber es hatte sich verwandelt.
Da war zuerst der wilde, wahnsinnige Schmerz gewesen, daß sie ihr kleines Mädchen Jessica nur vier Monate – vier Monate nur! – in den Armen halten durfte, bevor es ihr im Sekundentod entrissen worden war.
Dann die völlige Apathie, die Abkehr vom Leben, als sei sie mit ihrem Liebling gestorben.
Lange, lange hatte das gewährt, weit über das Trauerjahr hinaus. Auch Rolf hatte ihr nicht helfen können. Nicht die Eltern, die Schwester, so gut sie es auch mit ihr meinen mochten.
Bis ihr Mann so nicht mehr mit ihr leben wollte. Sich einer anderen zugewandt hatte, die ihm wieder Lebensfreude geben konnte.
Das war die Krise gewesen. Das hatte sie herausgeschleudert aus der Depression, der Schwärze der Nacht, die sie mehr und mehr zu umfangen drohte. Sie war aufgewacht. Und sie war fortgegangen, um ihr vor der Ehe begonnenes Medizinstudium fortzusetzen.
Ein Ziel vor Augen zu haben, das war es, was ihr geholfen hatte, die Trauer um das Verlorene zu verklären in stille Wehmut. Die lag nun auf dem Grund ihres Herzens. Nachhängen konnte sie ihr nicht, weil der Alltag nun wieder Ansprüche an sie stellte.
Behutsam zog Andrea die Tür hinter sich zu.
Sie ging ins Schlafzimmer, um die Kleidungsstücke aus dem Schrank zu nehmen, derentwegen sie gekommen war. Sie war im Herbst gegangen, jetzt wurde es wieder Frühling.
Ihr gemeinsames Schlafzimmer, in ihrem Haus, das Vater dem jungen Paar zur Hochzeit geschenkt hatte. Ein hübscher Bungalow, von Bäumen und Sträuchern umgeben, ruhig, in einer guten Gegend gelegen.
Nein, nichts war verändert. Kein Hauch deutete darauf hin, daß Rolf jemals die andere mit ins Haus gebracht hatte. Dafür hatte er zuviel Stilgefühl. Mit ruhigen Bewegungen legte Andrea ein Teil nach dem anderen in den mitgebrachten Koffer.
Sie zuckte auch nicht zusammen, ihr Herz tat keinen rascheren Schlag, als sie einen Wagen vorfahren hörte. Das konnte nur Rolf sein. Sie hatte damit gerechnet, daß sie sich sehen würden. Warum sollten sie sich auch nicht sehen? Es war keine Feindseligkeit zwischen ihnen. Die großen Gefühle waren erloschen.
Es dauerte eine Weile, bis er im Haus war. Was tat er denn noch?
Andrea wußte nicht, daß Rolf sich erst hatte fassen müssen, als er ihr Auto am Weg stehen sah. Mit der anderen, der Heidelberger Nummer.
Als die heiße Welle verebbt war, die ihn so unvermittelt gepackt hatte, trat Rolf Hardenberg seiner Frau beherrscht entgegen.
»Guten Tag, Andrea. Hat es dich doch wieder einmal nach Hause gezogen?«
»Guten Tag, Rolf«, grüßte sie mit freundlicher Gelassenheit zurück. »Ich will mir nur meine Frühjahrsgarderobe holen. Es wird ja nun doch langsam wärmer.«
Sie überlegte, ob sie das elegante helle Leinenkostüm mit einpacken sollte. Sie hatte es lange nicht mehr getragen. Eigentlich brauchte sie es in Heidelberg auch nicht. Sie war dort eine von vielen Studentinnen und nichts weiter.
Rolf räusperte sich. »Willst du nicht länger bleiben?«
Andrea schüttelte den Kopf. »Ich fahre heute noch zurück. Ich habe viel zu arbeiten, weißt du. Es gab viel aufzuholen, und es folgt ein Examen dem anderen. Ich möchte keine Zeit verlieren.«
Rolf nickte zögernd. Sein Blick lag auf ihr. Sie trug das Haar jetzt kürzer. Braun und seidigglatt, bedeckte es kaum ihre Ohren. Ihr feines Gesicht hatte sich wieder zu einem sanften Oval gerundet. Die durchsichtige Blässe, der bittere Leidenszug war daraus verschwunden.
Andrea. Der Mann schluckte hart. Die Kehle war ihm eng geworden.
»Aber wir werden doch wohl eine Stunde für uns haben, ich meine, um zu reden«, sagte er stockend.
»Ja, sicher, sobald ich hier fertig bin.«
»Dann werde ich uns jetzt einen Tee bereiten, und eine Kleinigkeit zu essen dazu. Mal sehen, was sich im Kühlschrank findet. – Oder wollen wir essen gehen?«
»Nicht so gern«, antwortete Andrea. »Ich möchte so um acht Uhr herum fahren, dann bin ich gegen halb elf, elf zu Hause. Morgen früh habe ich eine Vorlesung, da will ich frisch sein.«
Sie konnte sich an den gedeckten Tisch setzen. Rolf hatte Schnittchen gemacht, nett angerichtet auf einer Platte, mit geviertelten Tomaten dazwischen. Das hatte er so manches Mal gemacht, sie sogar gefüttert in ihrer schlimmsten Zeit, wenn sie nichts essen wollte. Daran mußte Andrea jetzt denken, als ihre Blicke sich begegneten.
»Man sieht es dir nicht an, daß du dich so intensiv einem harten Studium widmest«, bemerkte Rolf, während er den Tee einschenkte. »Ich finde, du siehst gut aus.«
»Danke. Es kommt wohl daher, daß ich mit Eifer dabei bin und auch einen gewissen Erfolg sehe. Und außerdem«, Andrea lächelte ein wenig, »paßt meine Freundin Katarina auf mich auf. Sie verwöhnt mich nach Strich und Faden.«
Sie erzählte davon, wie sie zusammenwohnten, die junge Ärztin und sie, die nach längerer Pause ihr Studium wieder aufgenommen hatte, das sie einst an der Universität gemeinsam begonnen hatten.
»Dann bist du nicht allein«, sagte Rolf. »Sei froh darum.« Mit erstaunten Augen sah Andrea von ihrem Teller auf. »Du bist doch auch nicht allein.«
»Die meiste Zeit doch«, sagte Rolf langsam. »Wir sehen uns nur hin und wieder an den Wochenenden, leider.«
»Wieso das?« Andreas Lider zuckten. »Ich denke, deine – deine Freundin arbeitet auch bei der ARIANA-Werbeagentur? Da seht ihr euch doch täglich.«
»Nicht mehr.« Rolf schüttelte den Kopf. »Petra ist zurück nach Düsseldorf gegangen. Sie hat dort eine Stellung als freie Mitarbeiterin bei der Mathissen-Werbung angenommen. Vorübergehend natürlich nur.«
»Aber warum denn überhaupt?« wunderte sich Andrea. Sie hatte doch geglaubt, daß nach ihrem Fortgang die beiden ihrer Liebe leben würden. Rolf brauchte sie doch, diese Petra. Er hatte es ihr damals versichert. Sie brachte den Sonnenschein in sein Leben.
Rolf legte Messer und Gabel hin, er fuhr sich mit der Hand über das Haar.
»Es war kein gutes Klima mehr in der Firma, nachdem unsere Beziehung offenbar geworden war«, erklärte er. »Sie haben Petra verteufelt und mich dazu. Aber ich bin härter im Nehmen. Inzwischen ist auch mehr oder weniger Gras darüber gewachsen. Nur Petra hielt es nicht mehr aus. Das ganze Mitgefühl der Kollegen galt dir, Andrea, der verlassenen Frau.«
Andrea hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Ich bin doch freiwillig gegangen. Mir ging es vorher schlechter als jetzt. Ich mußte wieder zu mir selbst finden. Daß es nun auf diese Weise geschah…« Sie sah auf ihren Mann, der es vor dem Gesetz immer noch war. »Unsere Ehe war ja nur noch ein tristes Nebeneinander«, fügte sie leiser hinzu.
»Sollte ich das vor versammelter Mannschaft erklären?« warf Rolf bitter hin. »Viele Menschen sind nun einmal so, daß sie glauben, ihre Nase in die Privatangelegenheiten anderer stecken und darüber urteilen zu können.« Er machte eine Handbewegung, als wollte er dieses Thema beiseite wischen.
»Es tut mir leid«, sagte Andrea, und sie meinte es wirklich so.
»Dazu kommt noch, daß sich die Scheidungsklagen bei den Anwälten häufen«, fuhr Rolf fort, »und daß es nicht abzusehen ist, wann unsere Ehe geschieden sein wird. Seit einem Vierteljahr liegt unser Antrag nun vor. Du wirst doch auch froh sein, wenn wir endlich klare Verhältnisse haben.«
»Ach, ich«, Andrea zuckte die Achseln, »mir ist das eigentlich nicht so