Das Haus Zamis 8 - Jagd auf die Paria
Von Ernst Vlcek, Dario Vandis und Christian Montillon
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Über dieses E-Book
Der 8. Band von "Das Haus Zamis".
"Okkultismus, Historie und B-Movie-Charme - ›Dorian Hunter‹ und sein Spin-Off ›Das Haus Zamis‹ vermischen all das so schamlos ambitioniert wie kein anderer Vertreter deutschsprachiger pulp fiction." Kai Meyer
enthält die Romane:
23: "Die sterbende Hexe"
24: "Jagd auf die Paria"
25: "Der krumme Harlekin"
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Das Haus Zamis 8 - Jagd auf die Paria - Ernst Vlcek
Jagd auf die Paria
Band 8
Jagd auf die Paria
von Ernst Vlcek, Dario Vandis und Christian Montillon
© Zaubermond Verlag 2012
© Das Haus Zamis – Dämonenkiller
by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt
Titelbild: Mark Freier
eBook-Erstellung: story2go
http://www.zaubermond.de
Alle Rechte vorbehalten
Was bisher geschah:
Die junge Hexe Coco Zamis ist das weiße Schaf ihrer Familie. Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend, versucht sie den Menschen, die in die Fänge der Schwarzen Familie geraten, zu helfen.
Ihr Vater sieht mit Entsetzen, wie sie den Ruf der Zamis-Sippe zu ruinieren droht. Auf einem Sabbat soll Coco deswegen zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an. Doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut, und das Verhältnis zwischen ihm und der Zamis-Sippe ist fortan von Hass geprägt.
Coco allerdings interessieren die Intrigen ihrer Familie wenig. Sie würde sich aus den Angelegenheiten der Schwarzen Familie am liebsten vollständig heraushalten. Und der Lauf der Ereignisse gibt ihr Recht. Als ihr Vater Michael Zamis den Aufstand gegen Asmodi probt, gerät die Zamis-Sippe prompt in große Schwierigkeiten, aus denen nur Coco sie wieder befreien kann. Die junge Hexe rettet ihrem Bruder Georg das Leben, als er auf der Teufelsinsel Asmodis dem sicheren Tod ins Auge schaut.
Von da an sieht zumindest Georg seine jüngste Schwester mit anderen Augen. Ohnehin ist Georg der einzige in ihrer Sippe, dem Coco ansatzweise vertrauen kann. Gleichzeitig weiß sie jedoch, dass auch Georg der Schwarzen Familie fest verbunden ist und ihre Andersartigkeit höchstens toleriert, sie nicht aber versteht. Mit ihrem Vater Michael Zamis dagegen steht es noch schlimmer. Er bringt, um Asmodi nach dem gescheiterten Putsch zu besänftigen, Coco als Bauernopfer dar. Sie wird nach Südamerika unter die Obhut ihres Großonkels Enrique Cortez verbannt. Doch damit ist Coco nur für kurze Zeit »aus dem Weg geschafft«. Nach ihrer Rückkehr nach Wien deckt sie eine Verschwörung auf: Skarabäus Toth, der scheinbar so ehrenwerte Advokat und Schiedsrichter der Schwarzen Familie, hat eine Armee von Toten hinter sich versammelt, um Asmodi den Thron streitig zu machen. Doch ehe Coco anderen von ihrer Entdeckung berichten kann, versetzt Toth ihren Geist in eine der lebenden Leichen. In einem uralten verbrauchten Körper kann sie fliehen – aber was ist dieses »Leben« wert, das sie gerettet hat ...?
Erstes Buch: Die sterbende Hexe
Die sterbende Hexe
von Christian Montillon und Dario Vandis
1. Kapitel
Michael Zamis schnitt dem Opfer mit einer raschen Bewegung die Kehle durch. Der doppelte Kreidekreis auf dem Boden flammte auf; der Erdgeist im Inneren der magischen Aura heulte und irrte in den engen Grenzen des Kreises umher. »Nichts, nichts! In diesem Körper ist nichts, das noch lebt.« Er wand sich und versuchte zu entkommen, musste sich jedoch der magischen Aura beugen.
Michael Zamis zwang ihn unerbittlich, weiter zu suchen. »Wo befindet sich Coco Zamis?«
Die Kreatur wand sich. »Sie ist hier, nur hier im Keller, und ich kann sonst nichts finden, sie ist tot.«
Zamis brach das Ritual ab, und der Erdgeist nutzte die Gelegenheit, sich zu verflüchtigen. Cocos Leichnam lag unverändert auf der Bahre. Michael Zamis fluchte. Sie hatten mehr über das neueste – und letzte – Rätsel herauszufinden versucht, das der missratene Spross Coco ihnen aufgegeben hatte. Zeit und Energie hatten sie investiert, sogar ein Opfer dargebracht.
»Nun, Georg«, brummte er, »was hat es uns geholfen?«
»Vater«, antwortete der Angesprochene, »es ist offensichtlich, dass mit Cocos Tod irgendetwas nicht stimmt. Toth hat …«
»Schweig mir mit Toth! Er hat uns genug Ärger bereitet – dank Cocos Eigenmächtigkeiten. Was auf Schloss Waller geschehen ist, hat sie sich selbst zuzuschreiben.«
Michael Zamis Reaktion war ungewohnt impulsiv. Offenbar trifft Cocos Tod ihn stärker, als er zugeben möchte, dachte Georg.
»Du glaubst, dass Coco tot ist«, erwiderte er, »aber warum geht ihr Leib dann nicht in Verwesung über?«
»Dafür habe ich auch keine Erklärung. Aber ihr Körper liegt vor uns, und es ist eindeutig, dass kein Leben mehr in ihr steckt.«
»Ein fremder Einfluss muss die Ursache sein. Vielleicht hat Toth …«
»Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass Cocos Seele aus ihrem Körper verschlagen wurde, das gebe ich zu. Aber alle Versuche, sie zu orten, sind fehlgeschlagen. Soeben hat dieser jämmerliche Erdgeist nichts finden können. Wir sind diesem Geheimnis nicht auf die Spur gekommen. Niemand weiß, welche Kräfte Coco entfesselte, als sie an der Macht der TABULA TENEBRARUM rührte. Sie hat ihr Geheimnis mit in den Tod genommen.«
»Lass ihren Körper hier, Vater!«, bat Georg. »Wir sollten beobachten, wie lange dieser Zustand anhalten wird.«
Michael Zamis überlegte einen Moment, dann nickte er. »Ich habe nichts dagegen, auch wenn ich jede weitere Untersuchung für Zeitverschwendung halte. Allerdings kannst du nicht auf unsere Unterstützung hoffen. Ich muss in den nächsten Tagen fort, um einige dringende Geschäfte zu erledigen. Deine Brüder werden mich begleiten.«
Georg begriff, dass sein Vater ihm damit ein Ultimatum setzte. Wenn er zurückkehrte, erwartete er ein endgültiges Ergebnis. »Ich werde mich um Coco kümmern«, sagte er gehorsam.
Michael Zamis verließ den Keller, und Georg blieb allein zurück.
Er hatte als Einziger die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Coco noch leben könnte, aber obwohl er Zeit gewonnen hatte, hatte er keine Idee, wie er dem Geheimnis der Unversehrtheit von Cocos Leichnam auf die Spur kommen sollte.
Da lag sie vor ihm, aufgebahrt, das lange schwarze Haar zu beiden Seiten herabfließend. Im Tode wirkte sie so zerbrechlich – gerade wegen der schrecklichen Verletzungen, die die Untoten des Skarabäus Toth ihr zugefügt hatten. Dunkle Flecken entstellten ihren zarten Hals und zogen sich bis über Brust und Bauch. Die Sklaven der TABULA TENEBRARUM hatten ganze Arbeit geleistet. Auf Cocos Gesicht lag der Ausdruck des Schmerzes, den sie in den letzten Sekunden ihres Lebens empfunden haben musste.
Cocos Tod war ein schwerer Schlag für die Zamis-Sippe. Zwar hatte sie immer schon als weißes Schaf gegolten, aber nun war einmal mehr klar, dass die Zamis angreifbar waren.
Ich muss das Geheimnis ihres Todes lösen, dachte Georg.
Denn dass es ein Geheimnis gab, war unverkennbar. Ganz tief in seinem Innern glomm immer noch ein Funke Hoffnung, dass Coco lebte, dass ihr Geist irgendwo in diesem Körper gefangen war und sich nicht bemerkbar machen konnte. Eine Art magisches Koma, bei dem sämtliche Organe ihren Dienst einstellten …
Er konnte sich genauso gut irren. Aber er war bereit, das Risiko einzugehen, wenn er damit seine Schwester retten konnte.
Irgendwo, im Zwielicht
Er konnte sich nicht bewegen, das war das Erste, was in seinem Bewusstsein aus der Benommenheit aufstieg. Arme und Beine waren mit Bändern fixiert. Dieser Erkenntnis folgte die Erinnerung an einen Namen.
Daniel Harris.
Harris – das war er.
Wie kam er hierher?
Ein Schmerz stieg in ihm auf, Taubheit in Händen und Füßen, wo die Lederriemen die Blutzirkulation unterdrückten. Er öffnete die Augen und presste sie gleich darauf wieder zu. Er hatte nichts gesehen. War er blind? Bevor Panik in ihm emporkriechen konnte, öffnete er erneut die Augen.
Das Zimmer, in dem er sich befand, war abgedunkelt. Er konnte in dem Dämmerlicht schwach die Umrisse des Raumes erkennen. Eine Tür und kahle Wände, deren Farbe er nicht bestimmen konnte. Möglicherweise weiß oder ein helles Grau. Egal.
Er versuchte, aus seiner Erinnerung heraus mehr zu erfahren. Harris. Daniel Harris. Steuerberater. Verheiratet.
Er sah seine Frau vor sich. Ihre braunen Haare, lang und glatt. Sie war schön. Ein ebenmäßiges Gesicht, hohe Wangenknochen, volle Lippen. Ihre Figur war schlank und biegsam. Sie liebte ihn, sie waren glücklich.
Daniel Harris sah die Fotografie vor sich, die sie zu ihrem zehnten Hochzeitstag hatten machen lassen. Da war seine lachende Frau, und da war er selbst: blondes, für einen Mann ungewöhnlich feines Haar, in der Mitte gescheitelt, mit makellosen, fast zu schönen Gesichtszügen. Lediglich die etwas zu dünnen Lippen störten. Dennoch war einmal eine Modelagentur an ihn herangetreten. Er könne Karriere machen, hatten sie gesagt.
Daniel Harris, festgezurrt auf einer Liege, dachte zurück und merkte, dass da noch mehr war. Etwas, das er in seinem bürgerlichen Leben als erfolgreicher Steuerberater gern verdrängt hatte. Etwas, das er selbst nicht wahrhaben wollte, das aber immer wieder an die Oberfläche gespült wurde und ihn beherrschte. Er konnte nicht anders. Er brauchte es.
Kinder. Jungen.
Jung mussten sie sein, vor dem Erwachen der eigenen Sexualität. Er lauerte ihnen auf, und er belästigte sie. Nein, er vergewaltigte sie nicht, wozu auch. Nur sie zu bedrängen, zu spüren, wie …
Aber das passte nicht in sein Leben, sein verdammtes bürgerliches Leben. Also wurde das verheimlicht, vor der Welt, vor seiner Frau.
Schnell entstanden Probleme. Seine Frau bemerkte, dass »etwas mit ihm nicht stimmte«. So nannte sie es. Oh, sie kannte ihn gut, denn sie sagte es immer dann, wenn er unruhig wurde. Wenn es wieder so weit war. Wenn er es brauchte, wenn er es zu lange vor sich hinschob.
Sie stritten sich dann. Immer wieder. Erst einmal im Monat, dann einmal die Woche. Nachdem er es dann hinter sich hatte, versöhnten sie sich wieder. Dann fand er auch seine Frau wieder attraktiv.
– Eine Zeitlang. –
Irgendwann verlangte sie Erklärungen. Also gab er ihr, was sie wollte. Erklärungen waren leicht zu finden, leicht zu erfinden. Doch mit der Zeit meinte sie, das sei alles widersprüchlich. Da begann er ihre Arroganz zu hassen. Ein Jahr lang schlief er im Wohnzimmer. Da wurde alles besser.
– Eine Zeitlang. –
Doch weil es ihm zu Hause nicht mehr gefiel, trieb es ihn nach der Arbeit immer öfter an irgendwelche geheimen Orte, zu irgendwelchen kleinen Jungen. Wenn die Arbeit dann überhandnahm, fragte er sich, warum er eigentlich schuftete und das Geld seiner Frau in den Hals warf. Er dachte an Scheidung, aber es war nicht möglich. Das würde kein gutes Licht auf ihn werfen. Die Nachbarn, das Gerede … Er war stolz auf die Fassade, die er errichtet hatte. Auf den ach so hübschen, blondgescheitelten Erfolgsmenschen, den er nach außen hin gab. Also hielt er es aus.
– Eine Zeitlang. –
Dann kam der Tag, wo er nach Hause kam und ein Stöhnen aus dem Schlafzimmer hörte. Die Tür stand einen Spalt breit offen, und er konnte genau auf das Bett sehen. Seine Frau saß auf einem anderen. Da setzte in seinem Kopf etwas aus. Er ging aus dem Haus und wartete, bis ein fremder Mann sein Haus verließ. Dann ging er wieder hinein. Seine Frau begrüßte ihn beiläufig wie immer. Vielleicht setzte sie ihm schon monatelang Hörner auf und trieb es mit diesem Kerl. Er ging auf sie zu und schlug ihr ins Gesicht. Dann legte er seine Hände um ihren Hals und drückte zu.
– Eine Zeitlang. –
Als sie endlich leblos auf dem Boden lag, lief er in die Küche, holte ein langes Messer und erledigte den Rest. Blutverschmiert ging er auf die Straße, hörte noch verschiedene Schreie, dann versank die Welt in roten Farbschleiern.
Jetzt schnürten Riemen seine Arme und Beine und seine Leibesmitte. Auf einmal war ihm klar, wo er sich befand. Ein Irrenhaus. Man hatte ihn hierher gebracht und wie einen Psychopathen auf einer Trage festgeschnallt.
Dabei hatte er doch nur getan, was nötig gewesen war.
Das hatte er auch Dr. Cheryl Evans gesagt, als sie am nächsten Tag zu ihm gekommen war.
»Ich kann mir denken, wer Sie sind«, hatte er ihr das Wort aus dem Mund genommen. »Die Chefin dieser Anstalt.« Das Gesicht von Dr. Evans war so ganz anders als das seiner Frau. Sie hätte ihn sicherlich nicht betrogen, nicht mit diesem verhärmten Gesicht. Sie war so kühl. Nicht einmal Guten Tag hatte sie gesagt.
Cheryl. Er mochte sie. Doch sie betonte, an ihm als Patienten Interesse zu haben. An seinem Fall. Zuerst wehrte er sich, er sei doch kein »Fall«, er habe in einem Irrenhaus nichts zu suchen.
»Klinik«, verbesserte sie ihn.
Natürlich war er nicht wirklich verrückt. Nach einigen Besuchen von Dr. Evans gestand er sich jedoch ein, dass er ein psychisches Problem hatte. Erstmals erzählte er von den Jungen. Seltsam, sie fehlten ihm gar nicht.
Dr. Evans sah erschrocken aus, und doch sagte sie mit kühler Professionalität: »Sehen Sie, Mr. Harris, jetzt kommen wir der Sache näher.«
Das konnte er nicht so sehen. Im Gegenteil, er saß hier in dieser Zelle fest, und das war es, was ihn langsam aber sicher verrückt machte. Bald würde er wirklich ein Fall für dieses Irrenhaus sein. Das sagte er Dr. Evans auch, und dabei wurde er zum ersten Mal wirklich ungehalten. Er schnauzte sie regelrecht an. Sie wandte sich ab.
Am nächsten Tag kam sie nicht. Danach immer seltener. Diese vier Wände machten Daniel Harris immer mehr verrückt. Bald rastete er aus, es war ganz ähnlich wie damals, als er seine Frau im Bett mit einem anderen erwischt hatte. Doch diesmal war niemand da, den er strafen konnte, auch Cheryl nicht.
Er trat gegen die Tür. Er schlug gegen die Tür. Er rannte mit dem Kopf gegen die Tür.
Knockout.
Jetzt lag er auf dieser Pritsche, und sein Kopf tat ihm weh. Weil es heller wurde, erkannte Daniel Harris, dass die Tür geöffnet worden war und Licht in das abgedunkelte Zimmer fiel. Zwei Pfleger betraten den Raum, hässliche Typen. Wortlos kam einer der beiden auf ihn zu. In seiner Hand hielt er eine Spritze. Ehe Harris zu irgendeiner Reaktion fähig gewesen wäre, drückte der Pfleger ihm den Inhalt der Spritze in den rechten Arm. Er sah noch das teuflische Grinsen des Mannes über sich.
»Deine Tage sind gezählt, Harris!«, vernahm er wie durch Watte die Stimme des Pflegers.
Dann wurde es langsam dunkel. Die Welt versank in Schwärze, in bodenloser Dunkelheit.
In der Nähe der Klinik, bei Philadelphia
Es war neblig, dunkel und kalt. Die beiden Gestalten konnten kaum die Hand vor Augen sehen, und doch fanden sie sich gut zurecht.
»Da lang, hat er gesagt, der Doktor«, spie der eine aus und lachte gluckernd. Ein Speichelfaden lief aus seinem Mund, den er wegen einer seltsamen Kieferstellung nie ganz schließen konnte. Rechts zeigten seine Lippen stets einige darunter liegende schiefstehende Zähne, und selbst diese lagen nicht aufeinander.
Der andere lachte ebenfalls. Er stützte sich auf eine Schaufel, damit er schneller vorankam. Sein rechtes Bein endete dicht unterhalb des Kniegelenks, und er nutzte die Schaufel als Krücke. »Unser Doktor hat uns noch nie den falschen Weg gewiesen«, meinte er und verzog sein nicht minder hässliches Gesicht. »Er lässt uns nicht im Stich.«
»Pah!«, brummte der Erste und schwang die Hacke, die er in seiner Linken trug. »Wir müssen gleich da sein.«
Der Zweite stützte sich mit der Schaufel auf eine Wurzel und verlor das Gleichgewicht. Eine Spinne krabbelte über seine Hand. Er zerquetschte sie mit einer raschen Bewegung.
»Steh auf«, sagte sein Begleiter. »Ich sehe den Platz schon.«
Tatsächlich fanden sie nur etwa zwei Meter weiter in dem dichten Wald die Stelle, die ihnen vom Doktor genannt worden war. Zwischen großen Tannen lag ein Stück frisches Erdreich, dem man ansah, dass hier vor kurzem gegraben worden war. Mit Hacke und Schaufel machten sich die beiden Unholde an die Arbeit. In der weichen Erde kamen sie rasch voran. Als der eine die Schaufel wieder ansetzte, um etwas Erde auszuheben, stockte er. Eine Hand ragte aus der krümeligen Erde.
»Guter Doktor.« Er lachte abfällig.
»Wir sollten weitermachen. Ich habe Hunger.«
Vorsichtiger als zuvor holten die beiden in den nächsten zehn Minuten die Leiche aus der Erde. Der Körper enthielt Restwärme. Er konnte noch nicht lange in dem unterkühlten Boden gelegen haben.
»Befreien wir ihn von dem letzten Schmutz«, meinte der mit dem kurzen rechten Bein. Seine Hände hatten nur vier Finger, der Mittelfinger fehlte. Das hinderte ihn nicht daran, rasch und geschickt die Gesichtszüge des Mannes von feuchter Erde zu befreien. Anschließend fuhr er durch die feinen blonden Haare. »Hätte eine Karriere als Model machen können.«
»Hätte er. Jetzt macht er Karriere als Mahlzeit.«
Die verwachsenen Unholde begannen mit ihrem Schreckensmahl. Nach einigen Minuten lag ein Skelett auf dem Waldboden. Sie warfen die Überreste zurück in die Grube und bedeckten sie mit Erde.
Dann machten sie sich lautlos davon.
In der Klinik
Thomas Eddington fühlte sich unwohl, als er das geräumige Büro von Dr. Cheryl Evans betrat. Die Ärztin bat ihn Platz zu nehmen und schloss die Tür hinter ihm.
»Was führt sie zu mir?«, fragte sie, während sie in Eddingtons Kliniküberweisung blätterte, die er in fachmännischer Weise hatte fälschen lassen.
»Ich bin Boulevard-Fotograf«, sagte Eddington und versuchte ein hilfloses Grinsen aufzusetzen. »Tag und Nacht bin ich Prominenten auf der Spur, immer auf der Suche nach dem besten Schnappschuss. Sie wissen schon, nur damit irgendein Redakteur ein Foto hat, um das er seine hanebüchene Glamourstory entwickeln kann. Ich habe schon alles gemacht: Hochprominenz, Sportler, Schauspieler, sogar die Queen. Ich bin ausgebrannt, völlig erledigt. Ich brauche einfach ein paar Tage Ruhe.«
Dr. Evans schaute ihn über den Rand ihrer Brille hinweg an, als sei sie im Zweifel, ob er ihr Mitleid verdiene. »Ich hoffe, Sie sind nicht hier, um einige meiner Patienten abzulichten«, sagte sie nervös.
Eddington hob die Hände. »Nie im Leben. Hab die Kamera zu Hause gelassen. Ich muss eine Pause machen, sonst dreh' ich durch.«
Er hätte sich am liebsten ins Fäustchen gelacht. Es schien alles nach Plan zu laufen.
Er glaubte einer ganz großen Sache auf der Spur zu sein. Er wollte in der psychiatrischen Klinik von Dr. Cheryl Evans ermitteln. Angeblich wandte sie unmenschliche Methoden an, um ihre Patienten zu heilen. Gerüchte kursierten: von Essensentzug, tagelanger Fixierung in völlig abgedunkelten Einzelzellen, Drogenmissbrauch und anderen Grausamkeiten. Thomas Eddington wollte wissen, ob die Behauptungen der Wahrheit entsprachen. Waren es nur Verleumdungen von Kollegen, die der jungen Dr. Evans ihren Erfolg neideten? Ihr eilte der Ruf voraus, selbst als unheilbar krank eingestufte Patienten wieder fit zu bekommen.
Dr. Evans blätterte gedankenverloren in der Akte. Sie stellte ihm einige Fragen zu seiner blitzsauberen Krankheitsgeschichte, die er zusammen mit seinem Redakteur entworfen hatte. Sie wirkte dabei irgendwie abwesend, als sei sie gerade mit einer ganz anderen Sache beschäftigt. Eddington trug die Antworten glaubwürdig und scheinbar spontan vor.
»Sie haben Glück«, sagte die Ärztin. »Ich habe noch einen Raum frei. Eine Suite sogar, die allerdings nicht günstig ist. Wie Sie wissen, werden alle Kosten privat abgerechnet.«
»Das ist kein Problem«, sagte Eddington schnell. »Die Redaktion zahlt. Sie sagen, sie brauchen mich so schnell wie möglich zurück. Das sollen sie sich ruhig was kosten lassen!« Er grinste wie über einen guten Witz.
»Dann werde ich jetzt Dr. Walker rufen, der Sie auf Ihre Suite bringen wird.« Sie drückte einen Knopf, und wenig später öffnete sich eine Tür.
Ein etwa vierzigjähriger Mann trat ein. Er humpelte leicht und hatte einen kahlen Schädel.
»Ich darf Ihnen meinen Assistenten Dr. Walker vorstellen«, fuhr Dr. Evans fort. Ihre Miene war abfällig, als sie diesen Satz aussprach. Thomas Eddington entging das nicht. »Walker, zeigen Sie Mr. Eddington die Klinik.«
Walker, dachte Eddington. Kein Doktor mehr, als sei er nur ein notwendiger Lakai. Hier herrschten wahrhaft seltsame Zustände.
Als er mit Dr. Walker kurz darauf durch die Gänge der Klinik ging, fiel ihm auf, dass dieser nicht nur leicht humpelte, sondern manchmal das linke Bein wie taub hinter sich herzog. Außerdem zeichnete sich unter seinem lose fallenden Arztkittel eine ungewöhnliche Beule auf seiner Brust ab. Seine Augen waren dunkel umrandet.
Ein unheimlicher Kerl, dachte Eddington.
Dr. Walker zeigte Eddington das Klinikgebäude. Neben dem Kiosk im Erdgeschoss befand sich ein öffentliches Telefon, direkt daneben der Eingang zur Besuchertoilette. Eddington erblickte einen geschmacklos eingerichteten Fernsehraum, in dem sich einige Patienten aufhielten, einen Ruheraum mit einer bequemen Couch und eine Teeküche, die für alle Patienten frei nutzbar war. Die Klinik hatte nur wenige Patientenzimmer, wie er an der Rezeption erfuhr. Hinter dem Pult saß eine ältere Dame, die längst über die Pensionsgrenze hinweg sein musste. Sie gab Eddington bereitwillig Auskunft.
Als sie die Rezeption verließen, knurrte Walker: »Die Alte wird auch bald abkratzen.«
Eddington schluckte.
»Vertrocknete Alte«, setzte Walker hinzu. Dann ging er weiter.
Im ersten Obergeschoss standen sie dann vor einer verschlossenen Tür.
»Hier geht es zu den schweren Fällen«, sagte Dr. Walker.
»Könnte ich vielleicht einen Blick hineinwerfen?«, fragte Eddington neugierig.
Er wurde enttäuscht. »Nein, dort können nur enge Angehörige hinein. Aber glauben Sie mir, dort tummeln sich interessante Gestalten.«
»Wie meinen Sie das, Dr. Walker?«
Dieser rieb sich die Hände und kicherte. »Schwere Fälle eben. Die, die völlig ausgerastet sind.«
»Also medizinisch interessante Fälle?«
»Ja, ja.«
Eddington kam das ganze Gehabe Dr. Walkers so vor, als stecke mehr dahinter.
Bald darauf wurde ihm sein eigenes Zimmer zugewiesen. »Sie sollten sich schon einmal ein wenig einrichten«, empfahl Walker. »Zwar wird Dr. Evans sich erst morgen genauer mit Ihnen beschäftigen, aber ich bin überzeugt, Sie werden hier einige Zeit verbringen. Wie lange leiden Sie schon unter Depressionen?«
»Es hat schon vor etwa vier Jahren angefangen.«
»Wann wollten Sie sich das erste Mal umbringen?«
»Den ersten Versuch, mich zu töten, unternahm ich vor neun Monaten.«
»Was haben Sie getan?«
Eddington begann am Haaransatz leicht zu schwitzen. Seine sorgfältig zurechtgelegte Krankengeschichte drohte durch eine unbedachte Äußerung ins Wanken zu geraten. Er durfte jetzt keinen Fehler machen. »Tabletten. Ich habe eine ganze Schachtel Schlaftabletten geschluckt. Danach habe ich mich übergeben.«
Dr. Walker gab sich damit zufrieden. Er öffnete die Tür zu Eddingtons Zimmer. »Treten Sie ein, Mr. Eddington.«
»Danke. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder, Dr. Walker.«
»Natürlich«, sagte Walker. Ein sadistisches Grinsen lag um seine Lippen.
Eddington schloss die Tür. Er war froh, Walker los zu sein.
Das hässliche Gesicht des Doktors verfolgte ihn bis in die Nacht hinein. Irgendwann schreckte er auf und war völlig verwirrt. Er bekam schlecht Luft und stand auf, um das Fenster zu öffnen. Da sah er im Hof der Anstalt einige dunkle Gestalten hin und her eilen. Einmal meinte er, ein metallisches Aufblitzen wahrzunehmen.
Er wankte zum Bett zurück und fiel in tiefen, traumlosen Schlaf.
Erst in den frühen Morgenstunden wachte er wieder auf und wusste nicht, ob er sich diese kleine Episode nur eingebildet hatte.
In einem Flugzeug auf dem Weg nach Boston
Ich fand nur langsam zu mir, wie aus einem tiefen Schlaf erwachend. Es kostete mich ungewohnt große Mühe, die Augenlider zu öffnen.
Ungewohnt? Ja. Die Augen, mit denen ich sah, gehörten nicht mir, sondern einer Frau namens Monika Beck. Mein Bewusstsein lebte in ihrem Körper, dem durch die Magie der TABULA TENEBRARUM die Lebensenergie entzogen worden war. Eine Teenagerin, war sie innerhalb von Sekunden zur Greisin gealtert.
Als die Sklaven der TABULA TENEBRARUM mich attackierten und meinen Körper töteten, hatte sich mein Bewusstsein in den Leib Monika Becks geflüchtet. Das Ergebnis war, dass ich jetzt in diesem hinfälligen Körper festsaß. Aber das war immer noch besser als der Tod.
So konnte ich nicht einmal den Triumph auskosten, dass Skarabäus Toth, der verräterische Schiedsrichter