Das Haus Zamis 7 - Advokat der Toten
Von Ernst Vlcek, Uwe Voehl und Dario Vandis
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Über dieses E-Book
Der 7. Band von "Das Haus Zamis".
"Okkultismus, Historie und B-Movie-Charme - ›Dorian Hunter‹ und sein Spin-Off ›Das Haus Zamis‹ vermischen all das so schamlos ambitioniert wie kein anderer Vertreter deutschsprachiger pulp fiction." Kai Meyer
enthält die Romane:
20: "Der schwarze Jahrmarkt"
21: "Der Advokat der Toten"
22: "Das Buch der Toten"
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Das Haus Zamis 7 - Advokat der Toten - Ernst Vlcek
Advokat der Toten
Band 7
Advokat der Toten
von Ernst Vlcek, Uwe Voehl und Dario Vandis
© Zaubermond Verlag 2012
© Das Haus Zamis – Dämonenkiller
by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt
Titelbild: Mark Freier
eBook-Erstellung: story2go
http://www.zaubermond.de
Alle Rechte vorbehalten
Was bisher geschah:
Die junge Hexe Coco Zamis ist das weiße Schaf ihrer Familie. Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend, versucht sie den Menschen, die in die Fänge der Schwarzen Familie geraten, zu helfen.
Ihr Vater sieht mit Entsetzen, wie sie den Ruf der Zamis-Sippe zu ruinieren droht. Auf einem Sabbat soll Coco deswegen zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an. Doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut, und das Verhältnis zwischen ihm und der Zamis-Sippe ist fortan von Hass geprägt.
Coco allerdings interessieren die Intrigen ihrer Familie wenig. Sie würde sich aus den Angelegenheiten der Schwarzen Familie am liebsten vollständig heraushalten. Und der Lauf der Ereignisse gibt ihr Recht. Als ihr Vater Michael Zamis den Aufstand gegen Asmodi probt, gerät die Zamis-Sippe prompt in große Schwierigkeiten, aus denen nur Coco sie wieder befreien kann. Die junge Hexe rettet ihrem Bruder Georg das Leben, als er auf der Teufelsinsel Asmodis dem sicheren Tod ins Auge schaut.
Von da an sieht zumindest Georg seine jüngste Schwester mit anderen Augen. Ohnehin ist Georg der einzige in ihrer Sippe, dem Coco ansatzweise vertrauen kann. Gleichzeitig weiß sie jedoch, dass auch Georg der Schwarzen Familie fest verbunden ist und ihre Andersartigkeit höchstens toleriert, sie nicht aber versteht. Mit ihrem Vater Michael Zamis dagegen steht es noch schlimmer. Er bringt, um Asmodi nach dem gescheiterten Putsch zu besänftigen, Coco als Bauernopfer dar. Sie wird nach Südamerika unter die Obhut ihres Großonkels Enrique Cortez verbannt. Doch bereits der Flug nach Uruguay läuft alles andere als nach Plan, und Coco befindet sich alsbald erneut in Lebensgefahr ...
Prolog
Auf dem Gipfel des Waller, tausend Jahre zurück
Der Jüngling Roland saß zitternd auf dem grobgeschnitzten Holzstuhl und sah dem hageren Greis zu, wie er einige geheimnisvolle Gläschen aus seinem weitgeschnittenen Gewand holte und vor ihm auf den Tisch stellte. Roland schauderte, als er darin abgeschnittene Krähenfüße, Augäpfel von Tieren und andere widerwärtige Dinge erblickte.
»Was tut Ihr da, ehrenwerter Baphomet?«
Der Hagere antwortete nicht, und Roland ließ seinen neugierigen Blick über die Einrichtung der Hütte schweifen, die vor ihm noch kein Sterblicher zu Gesicht bekommen hatte. Das Heim des Hexers Baphomet blieb den Sterblichen verschlossen, und es erschien Roland wie eine große Ehre, dass der berühmte Magier ausgerechnet ihn zu sich gerufen hatte.
»Wollt Ihr mir eines Eurer Zauberkunststücke beibringen?«, fragte Roland. Er wurde langsam nervös, als der Hagere immer noch nicht antwortete.
Der Mann, der sich Baphomet nannte und dessen Haut voller Runzeln war wie die eines vertrockneten Pfirsichs, zog die Lade eines mächtigen Schranks auf und nahm ein Buch heraus, das etwa eine Elle in der Breite und zwei Ellen in der Länge maß. Es besaß einen kostbaren Ledereinband und zwei goldene Schnallen, die seine Buchdeckel verschlossen.
Baphomet legte das Buch auf den Tisch und blickte Roland durchdringend an, so dass dem Jungen ganz furchtsam ums Herz wurde. Dieser Baphomet war ihm auf einmal unheimlich, und er wünschte sich, die Einladung nicht angenommen zu haben.
Dabei wusste er tief im Innern, dass es eigentlich gar keine Einladung gewesen war. Er sah das Gesicht seines Vaters vor sich, der ihm schon früh von Baphomet erzählt hatte.
»Er ist ein mächtiger Hexer«, hatte er gesagt, »und wenn er dich um etwas bittet, dann hüte dich davor, ihm die Erfüllung seiner Bitte zu verweigern.«
Deswegen war er hier, doch jetzt wünschte er sich plötzlich, er hätte den Ratschlag seines Vaters nicht beherzigt.
»Wie alt bist du, Roland?«, fragte Baphomet mit einer Stimme, die wie das Rascheln welker Blätter klang.
»Siebzehn.«
»Dann bist du bereits ein starker Mann. Bist du auch mutig, Roland?«
Roland nickte zögernd.
»Du wirst Zeuge eines einmaligen Ereignisses werden. Dieses Buch ist der Schlüssel ... ja ...« Er kicherte.
»Der Schlüssel ... wozu?«, fragte Roland, als Baphomet nicht weitersprach.
»Ich bin alt«, sagte Baphomet. »Ich habe schon viele Jahrhunderte gelebt, und ich werde auch noch leben, wenn deine Eltern längst zu Asche zerfallen sind. Aber auch ich kann sterben.«
Baphomet murmelte etwas Unverständliches. Es klang wie der Stoßseufzer eines alten Mannes, aber Roland hatte nicht das Gefühl, dass der Mann vor ihm kraftlos war. Im Gegenteil, das schwächliche Äußere Baphomets, der fast kahle Schädel, die pergamentartig dünne Haut, die sich über seine knochigen Glieder spannte, schienen nur Täuschung zu sein. Eine Fassade, die über die Macht des Hexers hinwegtäuschte.
Roland wartete ehrfürchtig, dass Baphomet weitersprach.
»Die Welt ist voller dunkler Geschöpfe, die sich in der Schwarzen Familie der Dämonen zusammengeschlossen haben. Diese Dämonen gilt es zu beherrschen. Und du, Roland, wirst mir dabei helfen!«
»Ich verstehe nicht, was Ihr meint, Herr ...«
Baphomet schlug die erste Seite des Buches auf. Sie war leer. »Dieses Buch wird deinen Namen tragen. Du bist der Erste, dessen Geschichte ich darin eintragen werde.«
»Meine Geschichte?«
»Jeder Mensch hat eine Geschichte, und jeder Mensch kann gezwungen werden, sie preiszugeben.« Den letzten Satz hatte er in einem bedrohlichen Ton gesprochen.
Roland wartete vergeblich darauf, dass der Hexer sich erklärte. Atemlos sah er zu, wie Baphomet die Gläser vor ihm auf das aufgeschlagene Buch entleerte. Dann streute er ein übel riechendes Pulver darüber, dessen fein mehlige Konsistenz die Luft über dem Tisch in eine stinkende grüne Wolke hüllte. Roland hielt sich die Hände vor den Mund, um den Hustenreiz zurückzuhalten.
Der Hexer sprach einige Worte in einer Sprache, die Roland nicht verstand. Er schrie auf, als urplötzlich eine Stichflamme aus dem Buch hervor schoss und die Krähenfüße, Froschaugen und Fuchsohren verschlang. Der Gestank von verbranntem Fleisch erfüllte den Raum.
Als sich der Qualm verzogen hatte, blickte Roland mit aufgerissenen Augen auf das Buch, das unversehrt auf dem Tisch lag. Aber es wirkte jetzt anders, unheimlicher, als hätte Baphomet eine geheimnisvolle Initiation vollzogen.
Rolands Kopf fuhr herum, als er im Augenwinkel die Gestalt eines Mannes wahrnahm. Ein Muskelprotz mit breitem Oberkörper und finsterem Blick. Roland hätte schwören können, dass der Fremde eben noch nicht dagewesen war.
»Das ist Alessandro. Er ist der Schutzdämon des Buches.«
Schutzdämon? Roland spürte, wie sich sein Atem beschleunigte.
Der Hexer nahm einen Federkiel in die knochige Hand und machte über einer freien Stelle des Tisches eine Bewegung, als ob er ihn in ein Fass Tinte tauchte.
Roland zuckte zusammen. Er hatte einen Stich am linken Handgelenk verspürt. Als er nach der Stelle tastete, klebte plötzlich Blut an seiner Hand.
»Walte deines Amtes, Alessandro!«
Und der Riese kam auf Roland zu. Sein Gesicht wirkte plötzlich nicht mehr menschlich, sondern hatte sich in eine abstoßende Fratze verwandelt. Aus seinen Fingern wuchsen messerscharfe Krallen, die er mit einem Schlag in Rolands Kehle bohrte.
Baphomet senkte den Federkiel auf das leere Blatt und schrieb Rolands Namen in das Buch, während dieser sterbend vor ihm zu Boden sank.
»Dies ist das Buch der Toten«, sagte der Hexer raschelnd. »Es wird meine TABULA TENEBRARUM werden, meine Tafel der Finsternis, und mir helfen, meine finstersten Ziele zu erfüllen ....«
Die Welt verschwamm vor Rolands Augen. Mit dem Blut strömte auch das Leben aus seinem Körper. Er spürte den Schmerz kaum. Seine Glieder wurden Taub. Das Buch der Toten, hämmerte es in seinem Kopf. Baphomet hat dich benutzt. Er braucht dein Blut und deinen Körper für seine grässlichen Pläne!
»Ja, das ist es«, vernahm er Baphomets raschelnde Stimme wie aus weiter Ferne. »Ich höre deine Geschichte. Ich kann sie fühlen.«
Verschwommen sah Roland, wie der Federkiel über das Papier huschte. Gleichzeitig wurde er immer schwächer. Das Leben rann aus seinem Körper.
»Ich will ... nicht sterben ...«, röchelte er kaum hörbar. Blasen aus Blut und Speichel zerplatzten auf seinen Lippen.
Baphomet ließ ein höhnisches Kichern hören. »Du wirst mir zu Diensten sein. Ein Name in der TABULA TENEBRARUM und ein Soldat in meiner Armee der Toten.«
Roland stürzte vom Stuhl. Der Dämon Alessandro starrte mitleidlos auf ihn herab. Von seinen Klauen tropfte immer noch das Blut.
Baphomet kümmerte sich nicht um den Leichnam. Er vollendete den Eintrag in der TABULA und säuberte den Federkiel anschließend penibel mit einem Tuch.
»Der Anfang ist getan. Sei mir zu Diensten, Roland, als der erste meiner Diener.«
Das Wesen, das einmal der Junge Roland gewesen war, erhob sich.
Es hatte sich auf schreckliche Weise verändert. Die Haut war noch runzliger geworden als die Baphomets. Kurze, schlohweiße Haare standen wirr vom Kopf ab. Die glanzlosen Augen lagen tief in den Höhlen.
Aus dem kräftigen Jüngling war eine abgemagerte, vertrocknete Gestalt geworden, die aussah, als wäre sie soeben dem Grab entstiegen.
»Ich gehorche dir, Baphomet«, sagte der Leichnam mit krächzender Stimme. »Ich gehorche dir für alle Zeiten ...«
Erstes Buch: Der schwarze Jahrmarkt
Der schwarze Jahrmarkt
von Uwe Voehl
1. Kapitel
Der Strand von Rio lag mir zu Füßen. In der Nacht, unter dem Licht des vollen Mondes, war sein Sand wirklich schneeweiß. Wie ein Leichentuch, dachte ich fröstelnd. Die Wellen waren tiefschwarz und wirkten wie schwarzes Blut. Der Strand war menschenleer. Weder Touristen hielten sich um diese Zeit hier auf noch irgendwelches lichtscheue Gesindel.
Man hatte mich gewarnt, den berühmten Strand an der Copacabana nach Einbruch der Dunkelheit aufzusuchen. Ich wusste zwar nicht, wer mir den Rat gegeben hatte, aber er beherrschte meine Gedanken wie ein ständiges Flüstern.
Geh nicht! Verlasse nicht das Hotel! Geh nicht allein zum Strand hinunter!
»Eine schöne Frau wie Sie sollte sich nicht alleine dort hinaus begeben«, hatte mich Manuel, der Portier, beschworen. »Zu viele Gefahren.«
»Ich werde schon auf mich aufpassen«, hatte ich erwidert. »Außerdem will ich nur ein wenig am Strand spazieren gehen.«
»Am Strand?« Er hatte mich angeschaut, als wäre ich von allen guten Geistern verlassen. »Seit wann wollen Sie nicht mehr in unserem Hotel bleiben? Ich muss Desmonian anrufen. Er wird ...«
»Was ist dagegen einzuwenden, dass ich mir ein wenig die Füße vertrete?« Ich wusste selbst nicht, warum es mich hinauszog. In meinem Kopf drehte sich alles. Ich erinnerte mich kaum, wie ich in dieses Hotel gekommen war. Was machte ich überhaupt hier? Allein der sehnliche Wunsch, den Strand zu besichtigen, trieb mich vorwärts.
Manuel presste die Lippen zusammen, als hätte er sich die Zunge verbrannt. Ich sah die Angst in seinen Augen. Aber sie galt nicht mir oder den Worten, die er sich verkniff. Sein Blick ging an mir vorbei. Fast hätte ich den Fehler gemacht, mich umzudrehen. Aber dann hatte ich mich wieder in der Gewalt.
»Vielen Dank für Ihre Warnung«, sagte ich freundlich und wandte mich um. Ich sah nur ein paar Kinder, die die Hotelhalle betreten hatten. Normalerweise wagten sie es nicht, die Hotels selbst zu betreten, sondern lungerten vor den Ausgängen herum, um die Hotelgäste anzubetteln. Diese Kinder hingegen schienen sehr selbstsicher zu sein. Und niemand der Hotelangestellten machte Anstalten, sie zu verscheuchen.
Eines der Kinder sah mich an. Es war ein Junge. Er war größer als die anderen, und ich schätzte ihn auf vierzehn oder fünfzehn, während die anderen weitaus jünger waren. Während die anderen Kinder ausschwärmten und mit dreisten Gebärden die anderen Gäste in der Halle um Geld anbettelten, kam der Junge langsam auf mich zu.
In seinen Augen lag ein Glanz, der mich frösteln ließ. Er hatte etwas von Irrsinn. Dennoch dachte ich nicht daran, mich von ihm einschüchtern zu lassen.
»Hat die Lady vielleicht ein paar Dollar für einen hungrigen Sohn An'hanga'baras?«
Ich betrachtete ihn genauer. Er sah nicht so aus, als würde er Hunger leiden. Er wirkte trotz seiner schmächtigen Figur durchtrainiert und muskulös. Ich überlegte, ob er versuchen würde, mich anzugreifen, wenn ich nicht auf seine dreiste Forderung einging.
Andererseits hielt ich es für wenig ratsam, so kurz nach meiner Ankunft in Rio die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.
Ich wühlte in meinem Portemonnaie und warf dem Jungen ein paar Münzen zu. Eine davon fing er geschickt auf, die anderen kullerten über den Boden. Er selbst verzog keine Miene, während ein paar andere Kinder rasch herbeihuschten und die Münzen vom Boden klaubten.
»Vielen Dank, Lady«, sagte er mit einem kalten Grinsen. »Die Kinder An'hanga'baras werden es Ihnen danken.«
Sagte es und wandte sich dem Ausgang zu.
Seine Bande schloss sich ihm an, und wenige Sekunden später waren sie allesamt verschwunden. Wie ein Spuk.
Ich scheuchte die Gedanken fort und gab mich ganz der Stimmung der nächtlichen Copacabana hin. Es erschien mir wie ein Wunder, dass niemand außer mir dieses Vergnügen teilte. Es war eine milde, laue Nacht. Ich ließ mich auf dem feinkörnigen Sand nieder und knöpfte meine Bluse auf. Danach zog ich meinen Rock aus, so dass ich nur noch meinen Tanga trug. Der volle Mond stand am Himmel, und ich spürte ein verlockendes Kribbeln auf meiner Haut. Ein leichtes Zittern ging durch meinen Körper. In diesem Moment spürte ich, dass Hexenblut durch meine Adern floss. Vielleicht war es nicht so schwarz, wie es meine Familie gerne hätte. Ich galt als Versagerin und viel zu sehr den Menschen zugetan. Und dennoch konnte ich nicht immer mein schwarzes Erbe verleugnen.
Das Leuchten des Mondes übte ein fast nicht mehr zu ertragendes Verlangen in mir aus – ohne dass ich zu sagen vermochte, welcher Art dieses Verlangen war. Geschweige denn, wie ich es stillen konnte.
Ich entschied mich für das nächstliegende. Ich lief auf das Wasser zu und stürzte mich in die Fluten. Die hohen Wellen brachen über mir zusammen, und für einige Momente versank ich ganz darin. Unter Wasser öffnete ich die Augen. Seltsamerweise war um mich herum nicht alles dunkel. Das Mondlicht bahnte sich durch die Wasseroberfläche seinen Weg und erfüllte alles mit einem silberflirrenden Glanz.
Rasch machte ich ein paar Schwimmzüge, um wieder an die Oberfläche zu gelangen. Vom Meer aus sah der Strand der Copacabana noch paradiesischer aus. Ich gab mich ganz diesem Anblick hin, als auch schon der nächste hohe Brecher über mir hinwegrauschte.
Es war seltsam, aber das salzige Nass schien mir neue Kräfte zu verleihen. Seit ich mit dem Flieger in Rio gelandet war, herrschte in meinem Bewusstsein eine eigentümliche Dumpfheit. Es fiel mir schwer, mehr als zwei zusammenhängende Gedanken zu Ende zu bringen. Es war, als hätte sich eine Glaskuppel über mich gesenkt. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie eigenartig dies war.
Ich schwamm noch weiter hinaus, und mit jedem Meter fühlte ich mich befreiter.
Und plötzlich fiel mir sogar wieder ein, warum ich in Rio war.
Dankend lehnte ich ab, als mir die Stewardess einen Drink anbot. Ich wollte einen klaren Kopf behalten.
Meine Familie hatte mich dazu verdonnert, die nächsten zwölf Monate in Uruguay zu verbringen. Bei einem Großonkel meines Vaters, Enrico Cortez, sollte ich weiter in die Lehre gehen.
Wenn den Worten meines Vaters zu trauen war, dann war er ein ausgezeichneter Hexer.
Obwohl ich nicht untalentiert war, machte ich nicht den Fehler zu glauben, dass ich nicht noch dazulernen konnte. Wenngleich Uruguay so ziemlich der letzte Flecken war, wo ich für ein Jahr meine Jugend verschwenden wollte. Wie es aussah, hatte ich jedoch keine andere Wahl. Ich musste von der Bildfläche verschwinden, um Asmodi, dem Oberhaupt der Dämonen, eine Art Bauernopfer zu bieten. Erstens interessierte er sich nicht für Südamerika, was seine Machtspielchen anbelangte – dafür waren ihm die dortigen Sippen zu unbedeutend – und zweitens konnte er stolzen Hauptes verkünden, erreicht zu haben, mich für ein Jahr in die Verbannung zu schicken, damit ich ihm nicht mehr in die Quere kommen konnte.
Offiziell also hatten sich die Zamis gefügt.
Doch inoffiziell wusste jeder, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis wir wieder aneinander gerieten.
Zwölf Monate würde ich nicht nach Wien zurückreisen dürfen. Eine schier endlose Zeit ...
Jemand lachte neben mir auf.
Ich schreckte aus meinen Gedanken und sah einen braungebrannten, jungen Mann, der mir auf den ersten Blick sympathisch war. Sein gelocktes, schwarzes Haar fiel ihm bis auf die Schultern und gab ihm etwas Verwegenes. Er trug ein geschmackvolles Hawaiihemd und Jeans.
Er lächelte mich mit einem jungenhaften, strahlenden Lächeln an. Seine blendend weißen Zähne strahlten. »Entschuldigen Sie, aber Sie sahen gerade so sauertöpfisch drein, dass ich einfach lachen musste. Ich hatte den Eindruck, dass Sie jeden Augenblick in die Luft gehen würden.«
Hatte ich mich so wenig unter Kontrolle? Ich musste mehr Acht geben. Sicherlich waren meine Gedanken, wenn sie auf Asmodi kamen, nicht die freundlichsten, aber es musste mir ja nicht jeder meine Emotionen vom Gesicht ablesen können.
»Jetzt schauen Sie, als ob Sie mich auffressen wollen.« Er hob beschwichtigend die Hände. »Ich gehe ja schon.«
»Nein, bleiben Sie«, sagte ich rasch. Vielleicht ein wenig zu rasch, aber er hatte mein Interesse geweckt. Außerdem waren Flüge für mich etwas Stinklangweiliges. Ich wusste nicht, wie meine Eltern es geschafft hatten, dass ich sogar die gesamte Sitzreihe für mich allein hatte. »Sie sehen so aus, als wollten Sie sich unterhalten.«
»Bei einer so schönen Frau wie Ihnen kommt der Wunsch ganz von selbst.« Er nahm neben mir Platz. Ich spürte seine Nähe. Sie war sehr anregend. Trotzdem ließ ich mir nichts anmerken. Was Männer betraf, so hatte ich meine Gefühle besser unter Kontrolle, als wenn es um Asmodi ging.
»Fliegen Sie auch nach Rio?«, fragte er.
Ich überlegte einen Augenblick, was ich ihm auftischen sollte. Dann entschied ich mich, die Rolle der gelangweilten Erbin zu spielen und sagte: »Nein, ich fliege weiter nach Montevideo. Wir besitzen dort einige Anwesen. Ein Großonkel meines Vaters erwartet mich dort.«
Er verzog das Gesicht. »Meinen Glückwunsch. Das hört sich nicht danach an, als hätten Sie dort unten einigermaßen viel Spaß, ...«
»Coco«, sagte ich. »Und wie heißt du?«
»Desmonian.«
»Was für ein eigentümlicher Name.«
»Mein Vater ist Amerikaner, meine Mutter Brasilianerin. Sie haben sich, nicht nur, was meinen Vornamen betrifft, immer irgendwo in der Mitte geeinigt. Abgesehen davon ist Coco auch nicht sehr geläufig.«
»Meine Mutter liebte die Mode von Coco Chanel«, schwindelte ich, »und mein Vater liebte sie. Also lag mein Name schon vor der Geburt fest.«
»Gut, dass du kein Junge geworden bist«, sagte Desmonian.
Ich musste lachen. Nach fünf Minuten kam es mir vor, als kannte ich ihn schon eine Ewigkeit. Und obwohl ich ihm eine falsche Rolle vorspielte, ließ ich doch genügend Facetten meiner eigenen Persönlichkeit funkeln, damit er Feuer fing.
Manchmal läuft das Leben schnurgerade wie an einer Perlenschnur. Dann wieder schlägt es eigentümliche Kapriolen. Manchmal können wir die Richtung selbst bestimmen.
Ich hasste ein Leben nach Fahrplan.
Es war wie ein Wink des Schicksals, als Desmonian plötzlich vorschlug: »Warum siehst du dir nicht Rio an? Ob du ein paar Tage früher oder später in Montevideo bist, spielt doch keine Rolle. Ein Jahr ist eine lange Zeit.«
Ich tat, als müsste ich mit mir ringen, aber in Wirklichkeit hatte er den entscheidenden Punkt bei mir getroffen: Je näher Montevideo rückte, desto bewusster wurde mir, welches Opfer meine Familie überhaupt von mir verlangte.
Warum nicht dann noch vorher ein paar Tage in Rio sich dem Vergnügen hingeben? Vielleicht sogar mit Desmonian.
»Wir bitten Sie, die Anschnallgurte anzulegen. Die Landung erfolgt in zehn Minuten«, sagte eine Stewardess über Lautsprecher. Eigentlich sollte ich in Rio umsteigen.
»Also, was hältst du von meinem Vorschlag?«, drängte Desmonian.
»Lass dich überraschen«, entgegnete ich. Allzu schnell wollte ich ihm nicht in die Falle gehen. »Wo finde ich dich, wenn ich's mir tatsächlich überlege?«
Er nannte eine Adresse. »Warum kommst du nicht gleich mit?«, drängte er. Sein jungenhaft-unverschämtes Lächeln war eine einzige verführerische Einladung. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht darauf einzugehen.
»Erstens geht mein Anschlussflieger erst in einer Stunde. Zweitens kann ich nicht mir nichts dir nichts einfach so in Rio bleiben. Wenn überhaupt, muss ich zuvor einiges abklären.«
Wir legten die Gurte an und kamen uns gefährlich nahe.
»Du wirst es nicht bereuen«, flüsterte er verheißungsvoll. »Rio ist Leben – ein einziger brodelnder Tiegel, Montevideo ist dagegen ein langweiliges Kaff.«
»Du hast mich schon halb überzeugt«, sagte ich. »Allerdings kann man in einem Tiegel auch zerschmelzen.«
»Dann lass es uns zusammen tun«, sagte er hingebungsvoll.
Merkwürdig, dass ich die ganze Zeit über nicht mehr an Desmonian gedacht hatte. Kaum hatte ich das Flugzeug verlassen und brasilianischen Boden betreten, war die Erinnerung an ihn wie weggeblasen gewesen. Während ich nach wie vor in den Wellen schwamm und ich endlich wieder klar denken konnte, kam es mir umso merkwürdiger vor, dass ich so bereitwillig auf seinen Vorschlag eingegangen war.
Meine gute Laune war dahin. Zu viel war plötzlich auf mich eingedrungen. Ich hatte die letzten Tage wie unter einer Käseglocke verbracht – das wurde mir nun immer mehr bewusst.
Mit kräftigen Schwimmbewegungen strebte ich wieder dem Ufer zu. Ich war gut fünfzig Meter weit rausgeschwommen, doch der Schwung der Wellen brachte mich rasch meinem Ziel näher. Irgendwie konnte ich es plötzlich kaum mehr erwarten, zurück ins Hotel zu kommen und mit meiner Familie in Wien Kontakt aufzunehmen. Sie würden Vaters Großonkel erklären müssen, weshalb ich noch nicht eingetroffen war.
Meine Zehen spürten den Meeresgrund. Ich wartete eine weitere Welle ab, die mich noch einige Meter näher an den Strand spülte, dann erhob ich mich und ging die letzten Schritte. Doch irgendetwas war mit einem Mal anders. Ich hatte ein Gefühl dafür, wenn Gefahr in der Luft lag. Ich schaute mich nach allen Seiten um, doch es war niemand zu entdecken.
Ich musste ziemlich weit abgedriftet sein, denn vergeblich suchte ich nach meiner Kleidung. Ich ging in beide Richtungen den Strand entlang, doch sie blieb verschwunden. Bis mir bewusst wurde, dass ich gar nicht abgedriftet war.
Jemand hatte meine Sachen gestohlen!
Ich trug nach wie vor nur mein Tanga-Höschen, aber es war nicht etwa die Scham davor, wie ich in diesem Aufzug zurück ins Hotel gelangen sollte, sondern die Tatsache, dass sich jemand an meinem Eigentum vergriffen hatte, die mich zornig werden ließ. Mit faustgeballten Händen drehte ich mich nach allen Seiten um, aber ich konnte nach wie vor keine Menschenseele erblicken.
Wenn das ein Scherz war, dann ein sehr gut gemachter, dachte ich anerkennend. Trotzdem hätte ich nichts lieber getan, als die Diebe zur Rechenschaft zu stellen.
Kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, als ich aus dem Augenwinkel einen Schatten wahrnahm. Ich wirbelte herum.
Vor mir stand ein verwahrlost aussehender Junge. Die fettigen schwarzen Haare standen von seinem Kopf ab. Seine Kleidung erinnerte an Lumpen, und sie hing ihm in Fetzen vom Körper. Er war barfuß, aber dies mochte am Strand nichts bedeuten.
»Wer bist du?«, fragte ich drohend. »Hast du meine Kleider versteckt?«
Statt einer Antwort grinste er nur, und zwei Reihen schadhafter brauner Zähne kamen zum Vorschein. Ich schätzte den Jungen auf zwölf oder dreizehn. Ein Kind. Aber die Art, wie er mich anschaute, gefiel mir nicht. In seinen Augen lag ein lüsterner, verschlagener Ausdruck, den ich eher bei einem Mann erwartet hätte. Dennoch tat er mir irgendwie Leid.
Ich trat ihm einige Schritte entgegen, damit er mir nicht entwischen konnte, als ich eine weitere Bewegung wahrnahm.
Erneut drehte ich mich herum, und ein zweiter Junge stand dort, wo zuvor niemand gewesen war.
»Könnt ihr zaubern?«, fragte ich erstaunt. Ich hatte nicht vor, mich ins Bockshorn jagen zu lassen.
Der zweite Junge lachte. Es war ein spöttisches, aber dennoch fröhliches Lachen.
Noch glaubte ich, dass ich die Situation bereinigen konnte, ohne dass sie eskalierte.
Vier, fünf weitere Kinder tauchten wie aus dem Boden gewachsen auf. Auch zwei Mädchen waren darunter.
Sie lachten, kicherten und schienen überaus ihren Spaß daran zu haben, mich zu narren.
»Das kann ich auch!«, sagte ich trotzig. Ich konzentrierte mich darauf, in eine andere Zeitebene zu fallen. Dies war eine Spezialität der Zamis-Sippe, und wenn