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Orlandos Fächer: Roman einer Stadt
Orlandos Fächer: Roman einer Stadt
Orlandos Fächer: Roman einer Stadt
eBook315 Seiten4 Stunden

Orlandos Fächer: Roman einer Stadt

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Über dieses E-Book

Wie einst Athene dem Haupt des Zeus entspringt Orlando, Schelm und Abenteurer, dem Kopf des Stadtgründers Carl Wilhelm. Sein Leben beginnt im Hardtwald und führt durch die dreihundertjährige Stadtgeschichte Karlsruhes bis in die Gegenwart. Er baut das Schloss als einfacher Arbeiter, protokolliert einen Karlsruher Kindsmordprozess, bildet sich zur Zeit Napoleons, erlebt die Feier zur badischen Verfassung, wird Schauspielerin in Zeiten der Industrialisierung, trauert während der Weltkriege, demonstriert mit den 68ern, wandert durch die Baustellen der UStrab – sein Weg durch die Geschichte: ein Herumtanzen um Baugruben.
Orlando nimmt den Leser mit, wenn er gelegentlich innehält, um in eine Szene, eine Episode, ein wichtiges Ereignis der Stadtgeschichte einzutauchen und den jeweiligen Zeitgenossen zu begegnen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum27. Apr. 2016
ISBN9783942637992
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    Buchvorschau

    Orlandos Fächer - Martina Bilke

    Martina Bilke

    Orlandos

    Fächer

    Roman einer Stadt

    Inhaltsverzeichnis

    Impressum

    Das Buch

    Die Autorin

    Prolog

    Erstes Buch: Die Mutter aller Baustellen

    Erstes Kapitel

    Zweites Kapitel

    Drittes Kapitel

    Viertes Kapitel

    Zweites Buch: Schwert und Bajonett

    Erstes Kapitel

    Zweites Kapitel

    Drittes Kapitel

    Drittes Buch: Kometen und andere Katastrophen

    Erstes Kapitel

    Zweites Kapitel

    Drittes Kapitel

    Viertes Kapitel

    Viertes Buch: Alles Theater

    Erstes Kapitel

    Zweites Kapitel

    Drittes Kapitel

    Viertes Kapitel

    Fünftes Buch: Konflikte

    Erstes Kapitel

    Zweites Kapitel

    Drittes Kapitel

    Viertes Kapitel

    Sechstes Buch: Das Gedächtnis der Baustellen

    Erstes Kapitel

    Zweites Kapitel

    Drittes Kapitel

    Epilog

    Literatur

    Martina Bilkes erster Roman Erben

    Impressum

    Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

    © 2016 Der Kleine Buch Verlag, Karlsruhe

    Projektmanagement & Lektorat: Julia Barisic

    Korrektorat, Satz & Layout: Beatrice Hildebrand

    Umschlaggestaltung und -foto: Renate Koch, Karlsruhe

    E-Book Konvertierung und Formatierung: Angela Hahn

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber.

    E-Book ISBN: 978-3-942637-99-2

    Dieser Titel ist auch als Printausgabe erschienen, gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Kulturbüros der Stadt Karlsruhe:

    ISBN: 978-3-7650-1420-8

    www.derkleinebuchverlag.de

    www.facebook.com/DerKleineBuchVerlag

    Das Buch

    Orlando, der erste Karlsruher, entspringt bei einem Jagdausflug dem Kopf des schlafenden Stadtgründers Karl Wilhelm. Auf seinen Streifzügen durch die dreihundertjährige Stadtgeschichte macht Orlando Halt im Dörfle, im Schloss, in den Wirtschaften, auf den Straßen der wachsenden Stadt, in Hütten und Palästen. Er verkörpert den jeweiligen Zeitgeist und dessen Sprache, begegnet historischen sowie fiktiven Personen, taucht ein in wichtige Szenen der städtischen Geschichte, erlebt Ereignisse aus unterschiedlichen Perspektiven, ist mal Gewinner, mal Verlierer.

    Orlando, Abenteurer und Vagabund, immer ein anderer, immer dieselbe, stets unterwegs …

    Die Autorin

    Martina Bilke war nach dem Studium der Geschichte und Germanistik in der Forschung tätig und unterrichtete, bevor sie sich dem literarischen Schreiben widmete. Sie veröffentlichte Gedichte und Erzählungen in Zeitschriften und Anthologien. Ihr erster Roman »Erben« erschien 2012 bei Der Kleine Buch Verlag.

    Martina Bilke war in Rodach, Hanau, Freiburg, Mainz, Wien, Trier, Wörth und Caracas zu Hause. Zuletzt setzte sie sich mit der Geschichte der Stadt auseinander, in der sie schon lange lebt: Karlsruhe. So ist der vorliegende Roman entstanden.

    Prolog

    Geboren wurde ich in einem Traum und aus diesem Traum hinaus in die Welt.

    Mein Erzeuger war auf der Jagd im Hardtwald und hatte mit viel Horrido und Husshusshuss und Heißassa bis in den Abend hinein Wildschweine gehetzt, aber nicht erlegt. Er war empört. Seinem fürstlichen Willen fügten die Sauen sich ebenso wenig wie die Durlacher, die ihm ihre Grundstücke nicht abtreten wollten zur Erweiterung seiner Residenz. Schöne breite Straßen wollte er ihnen bauen, aber sie beharrten auf ihren krummen Gässchen.

    Obwohl er sich bei der Jagd mit großem Ingrimm vorgestellt hatte, wie vor ihm die störrischen Durlacher durch das Unterholz brachen, mit Keuchen, Prusten und Schnauben ihres nahen Hinscheidens gewärtig, musste er den Parforceritt abbrechen. Außer der Sturheit seiner Untertanen peinigte ihn ein Karbunkel an der rechten Pobacke, der offenbar kreißte und unter den größten Geburtsschmerzen gebären wollte. Der Reiter war längst hinter der Jagdgesellschaft zurückgeblieben, verfiel in Trab, dann in Schritt, saß ab und ließ die Zügel los. An einem Eichenknubben stützte er sich auf und ließ sich auf die linke Pobacke nieder, bevor er auch die rechte in das weiche kühle Moos sinken ließ. Schon lehnte er den Kopf an den Baumstumpf, schloss die Augen und verfiel in einen tiefen Schlaf.

    Daraus sprang ich hervor wie Athene aus dem Haupt des Zeus, allerdings nicht in voller Rüstung wie die Göttin. Fix und fertig stand ich beim Dämmern des Morgens vor ihm in der Tracht des Hofnarren. Sie war mit Schellen und Schildchen behängt, die bei jeder Bewegung klingelten und klapperten, sodass er im Schlaf mit Armen und Händen zappelte, Grimassen zog und schließlich die Worte ausrief: »Gott! Ruhe!«

    »Nein, Carl, ruhe du noch ein Weilchen aus«, antwortete ich dem Schläfer, »aber dann gehts weiter mit der Hatz auf die Sauen und die Durlacher! Lass sie nicht so davonkommen!«

    Mit einem Ruck öffnete er seine braunen Augen, streckte den Arm aus und zog sich an meiner Hand hoch, bis er aufrecht stand. Er schlug die Lider halb über die Augen nieder und reckte das Kinn empor, sodass er mich quasi von oben her anschaute, obwohl er einen halben Kopf kleiner war als ich.

    »Carlsruhe!«, rief er aus, »so soll meine neue Residenz heißen! Leuchten soll sie wie eine 32-fache Sonne!«

    Mit einer Geste verlangte er wiederum nach meiner Hand und stützte sich ab, während er auf den Eichenstumpf stieg. Ich klopfte ihm vorsichtig die Reiser und welken Blätter ab, die an seinem Jagdrock hängengeblieben waren. Mit ausladender Gebärde winkte er die herbeieilenden Hofjäger näher, die ihn mit freudestrahlenden Gesichtern umringten. Sie hätten am Vorabend erst bei Einbruch der Dunkelheit bemerkt, dass er ihnen verlorengegangen sei, beteuerten sie. Die ganze Nacht hätten sie nach ihm gesucht und seien dabei von einem tückischen Waldgeist in die Irre geführt worden.

    Heftig fuhr Carl Wilhelm mit der Hand durch die Luft und unterbrach ihr Gestammel. »Hier«, rief er in die Runde, »wo ich so ruhig geschlafen habe, soll der Grundstein des Schlosses Carols Ruhe gelegt werden. Ich will’ s! Und«, bei diesen Worten reckte er das Kinn ein wenig mehr in die Höhe, »die Durlacher können mich mal in ihren dunklen Gässchen!«

    Der Träumer war der Markgraf von Baden-Durlach, mein Erzeuger. Schöpfer mag ich ihn nicht nennen, um seinen herrschaftlichen Einbildungen nicht noch mehr Futter zu geben. Ein mächtiger Träumer war er wohl, ein Fürst auch, aber kein Gott, was angesichts seines rückwärtigen Malheurs jedem einleuchten muss. Dann ritt er mit seinem Gefolge davon und ließ mich im Walde stehen.

    Solcherart in die Welt gespuckt, welche Lebensform eröffnet sich mir? Welche Freiheit bleibt mir als die des Herumtreibers, des Vaganten und der Vagabundin, einer Landstörtzerin und eines Landstreichers, die eines Simplex und Springsinsfelt? Alle mit mir verwandt, alle nicht weit von hier im Renchtal im Hause des Herrn von Grimmelshausen zur Welt gekommen, gebürtige Badener wie ich. Die Lebensform eines Schelmen und Pikaro (eine gewisse Grundbildung ist mir als Kopfgeburt in die Wiege gelegt) ist die einzige, die mir zu Gesichte steht.

    Das Reisen ist meine Existenz, jedoch bleibe ich mit einem Bein an meiner Hebamme angebunden, sofern man einen Eichenknorren als solche bezeichnen kann. So sind mir die großen Räume versperrt und ich ziehe mit dem anderen Bein immer weitere Kreise um den Stubben herum. Bildlich gesprochen natürlich, denn am Ort meines Wirkens kann ich mich frei bewegen, aber nur dort. Weil ich im Raum wenig herumkomme, steht mir nur die Dimension der Zeit offen, worin ich vagabundieren will.

    Herangewachsen bin ich nicht, sondern als Sechzehnjähriger fix und fertig an meinem Bestimmungsort erschienen. So lange hatte es gedauert, im Kopf meines Herrn heranzureifen. Die Freuden und Leiden des Familienlebens kenne ich weder als Sohn noch als Tochter. Meine Eltern leben im Reich des Abstrakten, meine Geschwister sind Kinder der Fantasie, und sobald ich die Augen aufschlage, befinde ich mich mitten unter ihnen.

    Wenn einer nun hämisch lächelt und meint, er müsse mich der Lüge überführen, dem vermiese ich seine Absicht. Ich gebe zu, das ist alles erfunden. Fast alles. Nicht ganz alles. Ja, um die Wahrheit zu sagen, eigentlich recht wenig, bis auf meine Person. Erfunden, ja, aber nicht erlogen. Nach einem entfernten britischen Cousin nenne ich mich Orlando, was in Carolsruhe nicht weiter auffällt, denn dort sammelt sich allerlei Volk aus vielen Ländern, worunter die Italiener und Franzosen nicht die wenigsten sind. Doch ich beginne mein literarisches Leben nicht etwa wie mein britisches Vorbild damit, auf einen verlederten Schrumpfkopf einzusäbeln, pfui Teufel! Ich treibe mich stattdessen überall in der Stadt herum und nehme sowohl an höchst offiziellen als auch offiziösen Haupt- und Staatsaktionen teil, wie man sehen wird.

    Wer nennt mich das Produkt eines Karbunkels? Ein Traumgeborener bin ich! Der Traum ist mein Vater, meine Mutter die Starrköpfigkeit der Durlacher, was, zusammengenommen, zu den schönsten Hoffnungen berechtigt.

    Erstes Buch

    Die Mutter aller Baustellen

    Erstes Kapitel

    Die Erde, auf der ich lag, bebte. Ein heftiger Luftzug streifte über mein Gesicht und meine Lider wie ein kühler Vorhang, wischte den Traum weg, verstopfte meine Nasenlöcher, verklebte meine Augenwinkel mit Staub und kleinen rauen Krümeln. Gleichzeitig bohrte sich ein Krachen und klagendes Splittern und Knirschen und Kreischen in meine Ohren, während die Erde nachbebte. Ich sprang auf und rieb mir die Augen.

    Neben mir lag eine riesige Buche, deren unbelaubte Zweige und Äste noch heftig wogten. Meine Ohren waren verstopft mit Moos- und Rindenteilen, die ich im Schutz meines Eichenstumpfs herauspulte, hinter dem ich gelegen hatte. Während ich den Kopf noch schräg hielt, blickte ich mich um. In einem lichten Kreis aus rohen Holzpfählen, die ein großes Gelände umgaben, sah ich eine Schar von Holzfällern bei der Arbeit. Zusammen mit einem heftigen Niesreiz stieg mir der Duft nach Harz in die Nase, denn der Winter war noch nicht vorbei und der Erdfleck, auf dem ich gelegen hatte, war kalt und feucht. Verschwunden war mein Markgraf, verschwunden die noble Jagdgesellschaft, verschwunden auch mein Hofnarrenkleid. Als ich an mir hinunterblickte, sah ich, dass ich schweres grobes Zeug in braunen und grauen Farben trug.

    Die Männer, die ich in meiner Nähe arbeiten sah, stöhnten und schwitzten trotz der Kälte wie ihre Gäule. Ich befand mich im Zentrum des Kreises und beobachtete sie, während ich mich langsam um die eigene Achse drehte, meinen Eichenstumpf als Stütze im Rücken.

    Sie arbeiteten immer zu zweit. Die einen hatten die Baumsäge an den Stamm einer Eiche gelegt und produzierten damit kreischende Geräusche beim Hin- und Herziehen durch das jammernde Holz; die anderen trieben Keile in den großen Spalt in einem Ahornbaum; wieder andere sahen zu, wie ihr Stamm krachend fiel, wobei sie mit lauten Habacht-Rufen warnten; eine weitere Gruppe hieb mit der Axt einer bereits gefällten Buche die Äste ab und entrindete sie. Die nackten Stämme wurden von Fuhrleuten mit kräftigen Rückpferden unter lauten Hoho-, Brr-, Hü- und Hott-Rufen abtransportiert. Mir war schwindlig von all der Geschäftigkeit, da erhielt ich einen heftigen Stoß in den Rücken, sodass ich vorwärts stolperte.

    »Pack an, Kerle«, brüllte mir einer ins Ohr, weshalb ich vor Schreck einen Satz hinter dem Baumstumpf hervortat. Vor mir stand ein Riese, mindestens zwei Köpfe größer als ich, das rote Haar loderte ihm wirr um den Kopf, die hellbraunen Augen zwinkerten mich an. »Der Storze muss weg«, brüllte er weiter und drückte mir das Ende einer Baumsäge in die Hände, das ich überrumpelt ergriff. Schon sah ich mich gebückt das Blatt durch den Stumpf oberhalb der Erde hin- und herziehen, sodass mir bald der Rücken wehtat und auch die Hände, denn körperliche Arbeit war ich ganz und gar nicht gewöhnt. »Der Storze muss weg«, wiederholte mein Gegenüber, »und dann auch noch der Stiel und die Wurzeln. Alles muss raus – mit Stumpf und Stiel! Anton heiß ich«, brüllte er weiter, als er einmal kurz innehielt im Sägen und sich den Schweiß von der Stirn wischte. »Und du?«

    »Orlando«, japste ich.

    Bevor ich mir Gedanken darüber machen konnte, was das hieße, mit Stumpf und Stiel, und mir über Wurzeln und Verwurzelung den Kopf zerbrechen wollte, fühlte ich mich wieder in Bewegung gesetzt. Denn gleich fuhr Anton fort, die Säge hin- und herzuziehen, sodass ich Mühe hatte, im Takt zu bleiben und mich fühlte wie ein Anhängsel des Sägegriffs, das jederzeit im Baumspalt verschwinden konnte. Den gewaltigen Stumpf samt Wurzelwerk aus der Erde ziehen musste ich nicht – das besorgte Anton mit einem kräftigen Gaul, den er mit Ketten davorspannte und welcher sich mächtig ins Zeug legte, um meine Hebamme aus dem Waldboden zu hebeln. In meinem Gedächtnis blieb sie lebendig und hält mich bis in alle Zukunft fest.

    Anton ließ mich nicht gehen, er hatte wohl gesehen, dass ich allein auf der Welt und zu wenig nutze war. Also hieß er mich die kleineren Zweige von den gefällten Bäumen abschlagen und einsammeln. Frauenarbeit war das, wie ich bald merkte, denn außer mir taten das nur ein paar Tagelöhnerinnen.

    Am Abend bluteten meine Handflächen aus vielen Schürfwunden und aufgeplatzten Blasen, die ich notdürftig mit ein paar von meinem Hemd abgerissenen Fetzen verband. Hierbei half mir mein Freund, der mich dann an den Schultern packte und zu einem rohen Tisch schob. Dort saß ein Aufseher, der mit Heller und Kreuzer klimperte und die Tagelöhner auszahlte. Dazwischen gähnte er immer wieder, konnte kaum die Augen offen halten und sah uns unter hängenden Lidern an. »Die frische Luft«, gähnte er erneut, »in dieser Wildnis all die frische Luft.«

    Anton zwinkerte ihm zu, sprach für mich und holte einen halben Tageslohn für mich heraus, indem er meine Hände packte und dem Angestellten des Markgrafen zum Beweis meiner Anstrengungen unter die Augen hielt. »In oinerer Woch sehe d’ Fingerle ganz andaschda aus!«, sagte der, lachte träge auf, wischte sich quer über den Schnauzer und warf mir ein paar Münzen hin.

    Als auch Anton seinen Lohn erhalten hatte, führte er mich in das Lager der Holzfäller und Bauarbeiter, die sich in der Nähe niedergelassen hatten, um es nicht so weit zum Rodungsplatz zu haben. Auf dem Weg erzählte er mir, dass hier ein Jagdschloss entstehen solle und viele Arbeiter gebraucht würden.

    »Der Turm ist das erste, was gebaut wird«, teilte er mir mit, »ein Jagdstern soll das werden. Da sitzen dann die feinen Herren drin und halten ihre Flinte zum Fenster hinaus. Hinter ihnen stehen die Jagdknechte und passen auf, ob sich was regt auf den Wegen, denn von gegenüber treiben andere Knechte das Wild auf den Turm zu. Dann wird geballert. So wird dem wilden Viehzeug gezeigt, wohin man es mit einer noblen Erziehung bringt.«

    Ich kreuzte die Arme vor der Brust, schob meine spärlich verbundenen Hände in die Achselhöhlen und sperrte Augen und Ohren auf. So stolperte ich neben ihm her, weil ich so viel Fremdes sah und hörte, dass ich nicht auf den Weg achten konnte. Anton hielt an einem Bretterstand mit dem Namen Zum Wilden Mann, der am Weg aufgebaut und schön mit verflochtenen Tannenzweigen verziert war. Wein, Bier und Schnaps gab es da zu kaufen, auch etwas zum Essen. Da merkte ich erst, wie hungrig ich war, zumal auch gekocht wurde und warme Düfte unsere Nasen umwehten.

    Anton stellte mich dem Budenwirt vor, dem Josef Schöndorf aus Lothringen, und verhandelte mit ihm über den Preis für zwei Näpfe Gerstensuppe mit etwas Kohl darin, die wir gleich heißhungrig hinunterschlangen. So gestärkt begaben wir uns weiter durch den Wald, in dem es aussah, als hätte ein Sturmwind getobt, etliche Bäume herausgerissen und zu Spanholz verarbeitet.

    Nach einer kurzen Weile, die Wirkung der Gerstensuppe begann schon nachzulassen, gelangten wir an einen Lagerplatz. Anton zeigte mir ein Zelt, das unter einer Buche aus Pfählen und Leinwand, auch einer alten, notdürftig geflickten Persenning zusammengestückelt war und recht viel Raum einnahm. »Darin ist mein Schlafplatz«, sagte er, »und wenn du willst, kannst du auch hier schlafen, kostet dich ein paar Heller.«

    Vor dem Zelt brannte ein Feuer, daran saß auf einem Baumstamm eine junge Frau, die ein Kind stillte, das greinte und zappelte. Neben ihr kauerte ein kleiner Junge und lutschte an einem Tannenzapfen.

    »Setzt euch zu mir, Anton und Duda mit den Fingerlen«, sagte die junge Frau müde, »und seid willkommen an meinem Feuer.«

    Anton setzte sich neben den dreijährigen Jungen und ich neben Anton, und so hockten wir nebeneinander wie die Zapfen an der Tanne. Mir tat der Säugling leid, und ich beugte mich vor und fragte die Mutter, warum er so weine.

    »Nicht genug Milch«, antwortete Anton an ihrer Stelle, »sie hat nicht genug zu essen.« Dabei zog er einen Kanten Brot hervor, den er vom Ausschank mitgenommen hatte, brach ihn sorgfältig entzwei und zögerte. Flüsternd fragte er mich: »Wem soll ich den größeren Teil geben, dem Jungen oder Mutter? Er braucht’ s zum Wachsen und sie füttert zwei.«

    Beide, Mutter und Sohn, und dann auch der Säugling, der jetzt schwieg, schauten mit großen Augen auf die Brotstücke in Antons Händen. Der blickte zur Seite und streckte sie ihnen entgegen, sodass sie selbst entscheiden konnten. Hastig bissen sie ab, hastig kauten sie, und die Mutter steckte dem Säugling hin und wieder durchgekaute Bröckchen in den Mund. Sie war eine junge Frau mit braunen lebhaften Augen, über dem rechten saß eine winzige halbmondförmige Narbe, über die sie häufig mit dem kleinen Finger strich. Anton nannte sie Marri oder Mariele, als er ihr erzählte, wie er mich gefunden hatte.

    »Im Zelt steht ein Krug Wein«, sagte sie, als sie das Brot gegessen hatte, »holt ihn doch, der wird nicht besser vom Stehen«.

    Der Wein war sauer, die Nähe Marris und Antons umso süßer, je weiter die Nacht vorrückte. Menschliche Nähe und Freundschaft hatte ich bisher noch nicht kennengelernt. So wurde mir immer lustiger zumute, bis mir Anton einen Stoß versetzte. »Troll dich, verroll dich ins Bett!«

    Im Zelt war es warm im Vergleich zur Januarluft draußen. Auf einer aufgeschütteten Erdbank lagen über einer Schicht aus Tannenzweigen mehrere Strohsäcke. Ich legte mich hin, wickelte mich in einen leeren Sack und schlief sofort ein. In der Nacht erwachte ich einmal von einem Getümmel und Gestöhn neben mir. Der Säugling greinte, der kleine Junge streckte mir einen Fuß ins Gesicht. Doch ich schlief sofort wieder ein, so müde war ich von der Arbeit und vom Wein, der mir geschmeckt hatte, als hätte ich seit eh und je nichts anderes getrunken.

    Noch bei Dunkelheit wachte ich zum zweiten Mal auf und verspürte einen heftigen Drang zum Wasserlassen. Anton erhob sich mit mir, er hatte das gleiche Bedürfnis. Wir stellten uns nebenei-nander an den nächsten Baum.

    »Woher hatte Mariele den Wein, wenn sie doch kein Brot hat?«, fragte ich.

    »Das ist der Sündenlohn«, antwortete Anton. »Mariele ist eins von denen ledigen Menschern, die sich verkaufen, um sich und die Kinder zu ernähren und nicht vor Hunger zu sterben. Bist du noch nie so einer begegnet?«

    Das verneinte ich aus vollem Herzen, denn ich war vor ihr noch überhaupt keiner Frau begegnet, und sollte sie jetzt und immer für Menschen halten.

    »Wenn wir hier bleiben wollen, wird und muss sich noch einiges ändern. Wir müssen Latrinen bauen«, sagte Anton, schlenkerte ein wenig seinen Zipfel und schloss die Hose.

    Da ich nicht wusste, was eine Latrine war, erklärte er mir, dass sich Menschen in einer Stadt nicht einfach an den Baum stellen könnten, um die Notdurft zu verrichten, sondern Gruben dafür anlegten, Häuschen darum bauten und was der Bequemlichkeiten mehr wären. So hatte ich am ersten Tag schon manches gelernt und zwei Freunde gewonnen, und wenn man die Kinder mitzählen wollte, waren es sogar mehr.

    Jeden Tag gingen wir mit einer wachsenden Schar von Tagelöhnern, die wie wir im Lager übernachteten, zur Baustelle im Hardtwald und verdingten uns. Hin und wieder ritt auch der Markgraf aus Durlach herüber, meist guter Laune, wenn die Sonne schien, manchmal auch mit saurer Miene, denn es ging ihm niemals geschwind genug. »Ich will leicht und schnell bauen«, hörte ich ihn seinem Gefolge zurufen. »Eh der Franzos’ mir wieder alles verbrennt, will ich es noch genießen, und wenn er’ s verbrennt, dann war es nicht zu teuer!«

    Als wir vorerst genug gerodet und das Holz säuberlich im herrschaftlichen Bauhof aufgeschichtet hatten, war es schon Sommer geworden. Inzwischen war ich dem Schreiber aufgefallen, der trotz anhaltender Schläfrigkeit säuberlich Buch führte über die anfallenden und schon verrichteten Arbeiten. Immer häufiger ließ er mich nicht mit den Waldarbeitern Bäume fällen, sondern behielt mich bei sich zu seiner ständigen Verfügung. Er schickte mich als Boten mit allen möglichen Aufträgen hierhin und dorthin, da ich flink auf den Füßen und im Kopf war. Ja, ich stellte mich so geschickt an, dass er meinen Lohn erhöhte und ich mit leichterer Arbeit nun mehr verdiente als zuvor. Schade war es nur darum, dass Anton und ich nicht mehr den ganzen Tag zusammen waren, aber wir sahen uns ja abends auf dem Heimweg, spätestens aber beim Ausschank Zum Wilden Mann.

    Als im Juni der Tag der Grundsteinlegung gekommen war, gingen Anton und ich quer durch den Hardtwald zur Baustelle. Dort suchten wir uns einen Platz, nicht zu nahe am Ort des Geschehens, um nicht vertrieben zu werden, aber doch nah genug, um alles gut sehen und hören zu können. Wir kletterten einen Baum hinauf und setzten uns nebeneinander auf einen starken Ast, so hatten wir einen guten Überblick. Über die Allee, die von Durlach nach Mühlburg führte, näherte sich mit Pauken und Trompeten und unter dem Klang von Jagdhörnern der Markgraf mit seinem Gefolge. Er hatte heute schon, wie angekündigt, in der Durlacher Carlsburg einen kriegsrechtlich zum Tode verurteilten Soldaten begnadigt, um die Gründung seiner neuen Residenz mit der rechten Gnadensonne zu überglänzen. Denn einer Sonne sollte sie gleichen und obendrein den Gang der himmlischen Sonne anzeigen. Durlach dagegen: ein finsteres Schneckenhaus mit vielen Windungen, in das sich ein Stadtgeist wohl verkriechen, sich hineinrollen konnte, um gestärkt daraus hervorzugehen. Ein Städtchen, mit seinen Gärten und Wingerten in die Arme des Turmberg und des Augustenberg wohlig hineingeschmiegt. Die Carlsburg: ein Außenskelett, eine Höhle, doch nicht unverwundbar. Und vor allem nicht repräsentativ. So oder ähnlich erklärte mir Anton, was den Herrn Markgrafen umtrieb.

    Ich saß neben meinem Freund auf unserem Baum ganz nah der Stelle, wo ich einst das Licht der Welt erblickt hatte. Ein halbes Jahr war das erst her und kam mir vor wie ein halbes Leben, war doch die Zeit hinter mir eingeschnurrt und hatte mir mit der Gegenwart eine gehörige Menge Zukunft beschert.

    Nun also: Sie kamen, die Jäger bliesen noch einmal die Fanfaren, man saß

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