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Das Haus Zamis 3 - Das kalte Herz
Das Haus Zamis 3 - Das kalte Herz
Das Haus Zamis 3 - Das kalte Herz
eBook485 Seiten6 Stunden

Das Haus Zamis 3 - Das kalte Herz

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Über dieses E-Book

Die junge Hexe Coco Zamis zur Hochzeitsfeier ihres Bruders Georg auf ein dämonisches Schloss geladen. Sie ahnt nicht, daß es sich um eine Falle der Schwarzen Familie handelt. Der jungen Hexe soll ein neues Herz eingesetzt werden, das sie endgültig zu einer echten Dämonin macht ... ein Herz aus Stein!

Der 3. Band von "Das Haus Zamis".

"Okkultismus, Historie und B-Movie-Charme - ›Dorian Hunter‹ und sein Spin-Off ›Das Haus Zamis‹ vermischen all das so schamlos ambitioniert wie kein anderer Vertreter deutschsprachiger pulp fiction." Kai Meyer

enthält die Romane:
8: "Das kalte Herz"
9: "Die Druiden"
10: "Der Dämon von Venedig"
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Jan. 2013
ISBN9783955722036
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    Buchvorschau

    Das Haus Zamis 3 - Das kalte Herz - Ernst Vlcek

    Das kalte Herz

    Band 3

    Das kalte Herz

    von Ernst Vlcek und Neal Davenport

    © Zaubermond Verlag 2012

    © Das Haus Zamis – Dämonenkiller

    by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

    Titelbild: Mark Freier

    eBook-Erstellung: story2go

    http://www.zaubermond.de

    Alle Rechte vorbehalten

    Erstes Buch: Das kalte Herz

    Das kalte Herz

    von Ernst Vlcek

    1. Kapitel

    Man kann mir alles Mögliche nachsagen. Etwa dass ich für eine Hexe von schwarzem Geblüt viel zu sentimental und zu rücksichtsvoll gegenüber den Sterblichen sei und dass deshalb nie eine richtige Dämonin aus mir werden könne. Solche Vorwürfe muss ich mir gefallen lassen, denn sie stimmen in der Tat. Es ist auch wahr, dass ich alles Böse verabscheue und schon manchen Sterblichen vor dem Zugriff meiner dämonischen Artgenossen geschützt habe und sogar gegen meinesgleichen aktiv geworden bin, um Unrecht zu verhindern. Und es stimmt, dass ich schon oft nahe daran war, mich in einen Sterblichen zu verlieben und deshalb meine Sippe fast zum Gespött innerhalb der Schwarzen Familie der Dämonen gemacht hätte. Eines aber kann man gewiss nicht über mich behaupten, nämlich dass ich mir nicht trotz allem einen ausgeprägten Familiensinn bewahrt hätte. Mein Vater Michael, meine Mutter und meine Geschwister standen mir näher als alle anderen Dämonen und, das glaube ich sagen zu können, auch näher als alle Menschen. Obwohl, in dieser Beziehung wurde ich noch nicht ernsthaft auf die Probe gestellt.

    Als mich während meiner Reise durch die USA eine magische Botschaft meines Bruders Georg erreichte, leistete ich seinem Ruf augenblicklich Folge. Ich befand mich gerade auf Achse und sollte, nach dem Willen meines Vaters, bei verschiedenen Dämonen in die Lehre gehen, um die magische Kunst von der Pike auf zu erlernen und dabei gleichzeitig auch zum Bösen bekehrt zu werden. Letzteres war bislang nicht eingetreten, und was die magischen Praktiken betraf, so hatte sich gezeigt, dass ich zumeist stärker war als meine Lehrmeister.

    Die Nachricht meines Bruders Georg beendete meine Tour vorläufig. Ich war gerade in einem New Yorker Luxushotel abgestiegen, sah fern und überlegte mir, wie ich am effektvollsten Kontakt zu den in dieser Millionenstadt ansässigen Dämonenfamilien aufnehmen könnte, als es eine Bildstörung gab. In dem auf dem Schirm herrschenden Bildsalat kristallisierte sich auf einmal das Gesicht meines Bruders heraus. Er wirkte sehr ernst, und als er sprach, klang seine Stimme bedrückt und unheilschwanger.

    »Coco«, sagte er, »ich weiß, dass du mich in diesem Augenblick hören kannst, obwohl diese Verbindung nur einseitig besteht. Da die Zeit drängt, kann ich keinen stärkeren Zauber erwirken. Deshalb höre gut zu, was ich dir zu sagen habe. Ich kann es nicht wiederholen, und du kannst mich nicht befragen. Asmodi plant wieder eine Intrige gegen unsere Sippe. Es scheint, dass er uns Zamis eliminieren will, ohne dass ein Verdacht auf ihn fällt. Diesmal hat er dich und mich aufs Korn genommen. Ich habe erfahren, dass er einen großen Sabbat plant, bei dem er uns eins auswischen will. Sein Ruf wird bald an dich ergehen, aber es wäre wichtig, dass du schon vorher am Ort des Sabbats auftauchst, damit wir besprechen können, was wir gegen diesen hinterhältigen Anschlag unternehmen können. Sieh also zu, dass du so schnell wie möglich nach Montenegro kommst. Begib dich in den Ort Virpazar, der am Skutari-See liegt. Es genügt, dass du da bist, ich werde dich schon finden. Aber sei vorsichtig und hüte dich vor dem Dämon Gorshat …«

    Georgs Stimme war immer leiser geworden, dann verblasste sein Bild, und die reguläre Sendung ging weiter. Es erschien mir wie ein Hohn der dunklen Mächte, dass gerade ein Horrorfilm lief. Wie alle diese Produkte, war dieser Film überaus naiv und ging weit an der Wirklichkeit vorbei. Man merkte deutlich, dass die Produzenten nicht an die Existenz übernatürlicher Mächte glaubten. Das war der grundlegende Fehler der Menschen. Wenn sie den unerklärlichen Phänomenen, die ständig rings um sie passierten, mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätten, wären sie längst auf die Existenz der Dämonen aufmerksam geworden, und die Schwarze Familie hätte auf Erden keine solche Macht. So unverwundbar wie es scheint, sind die Dämonen nämlich gar nicht. Aber wie sollen die Menschen eine Gefahr bekämpfen, die sie gar nicht wahrnehmen – ja, die sie anscheinend gar nicht sehen wollen?

    Asmodi, Fürst der Finsternis und Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hatte deshalb leichtes Spiel mit den Sterblichen, und seine Horden der Nacht fanden immer wieder mühelos willige Opfer. Ich, die ich versuchte, die Menschen vor Schaden zu bewahren, kämpfte bei der Übermacht der Dämonen schier gegen Windmühlenflügel an. Aber solche Gedanken waren angesichts der Bedrohung, die gegen meine Person gerichtet war, eigentlich müßig. Wenn Georg sich zu einer Warnung entschlossen hatte, so kam das nicht von ungefähr. Mein Bruder besaß überragende magische Fähigkeiten, und ich glaubte, dass er sogar meinen Vater übertraf, deshalb nahm ich seine Botschaft umso ernster und machte mich sofort auf den Weg nach Europa, noch bevor ich die New Yorker Dämonenfamilien überhaupt kontaktiert hatte.

    Tags darauf erreichte ich Virpazar, das kleine montenegrinische Städtchen am Skutari-See, in das mich mein Bruder bestellt hatte. Aber von Georg war keine Spur zu finden. Ich versuchte alles Mögliche, wenn auch mit der gebotenen Vorsicht, um ein Lebenszeichen von ihm zu erhalten, doch bekam ich keine Antwort. Also nutzte ich die Zeit, um einige Nachforschungen anzustellen und Informationen über den Dämon Gorshat zu bekommen, von dem, nach Georgs Aussage, die Bedrohung gegen uns beide ausging. Dabei hielt ich mich – vor allem aus Gründen der Vorsicht – an Sterbliche. Obwohl selbst die abergläubischsten Menschen – und deren gab es in dieser Gegend genügend – keine Ahnung vom wahren Treiben der Dämonen haben, sind sie trotzdem brauchbare Informanten. Im Lebensbereich eines Dämons gibt es gewöhnlich genügend Vorkommnisse, die auf seine Existenz und auf sein spezielles Wirken schließen lassen, man muss nur die Volksmeinung richtig zu deuten wissen.

    Zwei Stunden nach meinem Eintreffen hatte ich die richtigen Leute gefunden. Es war eine Fischerfamilie namens Djilas, die am Ortsrand und direkt am Ufer des Skutari-Sees wohnte. Der Vater lebte mit seiner Frau, seinem jüngsten Sohn Marko und zwei Mädchen von acht und elf Jahren zusammen. Drei ältere Söhne hatten bereits selbst Familien gegründet und lebten in nächster Umgebung. Eine zweiundzwanzigjährige Tochter war vor fünf Jahren nach Amerika ausgewandert und stand mit ihrer Familie in regem Briefkontakt. Ich suggerierte den Djilas' ein, dass ich diese Tochter sei und mich für einen kurzen Heimaturlaub eingefunden hätte. Auf diese Weise fand ich freundliche Aufnahme und für kurze Zeit einen Unterschlupf. Zwar erregte ich im Bekanntenkreis der Djilas' einiges Aufsehen, aber wenigstens niemandes Misstrauen.

    Es würde zu weit führen, an dieser Stelle näher auf die einzelnen Familienmitglieder einzugehen, denn bis auf den jüngsten Sohn Marko waren sie ohne besondere Bedeutung für mich. Ihn, der etwa in meinem Alter war, machte ich zu meinem Gespielen, ohne dabei jedoch die Grenze des Anstands zu überschreiten. Mein Verhältnis zu ihm war rein kameradschaftlicher Natur, keine Spur von Sex, denn Marko war anderweitig verliebt. Aber es war eine unglückliche Liebe und mit einem furchtbaren Geheimnis verbunden, das Marko in sich trug.

    Sein Vater machte mir gegenüber einmal eine entsprechende Andeutung.

    »Sprich du mit ihm, Mila«, bat er mich. »Vielleicht hört er auf dich als seine Schwester, die es in der Fremde zu etwas gebracht hat. Marko ist drauf und dran, für dieses Mädchen seine Seele zu geben. Er tut für sie Dinge – abscheuliche Dinge, über die ich nicht einmal zu reden wage. Wenn du es genauer wissen willst, dann komm heute Abend in den Stall. Ich bin bereit, für diesen Zweck ein Lamm zu schlachten. Nur damit du siehst, was Marko mit dem toten Tier anstellt. Und dann, Mila, sprich bitte mit deinem Bruder. Vielleicht kannst du ihn von diesem Wahn, von seiner Besessenheit heilen.«

    Und dann bekreuzigte er sich, dass mich eine Schmerzwoge wie von tausend Nadelstichen überkam.

    Nach Einbruch der Dämmerung ging ich in den Stall und beobachtete aus einem sicheren Versteck das geschlachtete Lamm. Bald darauf kam Marko hereingeschlichen. Er entzündete neben dem toten Tier eine Laterne. Als der Schein sein Gesicht traf, sah ich, dass es schweißbedeckt und seltsam verzerrt war. Seine Gesichtsmuskeln zuckten, so als kämpfe er gegen einen inneren Widerwillen an, doch dann führte er die grausige Tat entgegen aller seelischen Widerstände aus. Er holte ein rostiges Medizinerbesteck heraus und hob dem toten Tier vorsichtig die Augen aus den Höhlen. Dabei war er sehr darauf bedacht, die starren Sehorgane des Lammes nicht zu verletzen. Als er sie freigelegt hatte, füllte er einen Darmbeutel mit dem Blut des Tieres, trennte die Sehnerven ab und verstaute die Augen des Lammes in dem Blutbeutel, den er gewissenhaft verschloss. Danach keuchte Marko, als hätte er Schwerstarbeit verrichtet. Er pustete die Laterne aus und schlich sich aus dem Stall.

    Ich folgte ihm, weil es mich interessierte, wohin er mit seiner makabren Beute wollte. Marko ging zum Seeufer und dann daran entlang, bis er zu einem Damm kam, der weit in den Schilfgürtel hineinreichte. Hier sollte einmal eine Straße über den See gebaut werden, aber niemand konnte sagen, wann und ob sie überhaupt jemals fertiggestellt werden würde, denn die Fischer, die Angst um ihren Broterwerb hatten, sabotierten dieses Projekt. Der Damm aber ragte bereits einige hundert Meter in den See hinaus.

    Marko schritt bis zu seinem Ende und verschwand dann links im Schilf. Ich hörte die Geräusche seiner Stiefel im seichten Wasser, und an der Schneise im Schilf sah ich, welchen Weg er genommen hatte. Da ich mit einer solchen Entwicklung nicht gerechnet hatte und nicht das entsprechende Schuhwerk trug, suchte ich nach einer anderen Möglichkeit, Marko zu folgen. Schließlich wollte ich mir keine nassen Füße holen. Zwanzig Schritte den Damm hinunter fand ich eines der kiellosen Fischerboote. Es machte zwar keinen besonders vertrauenerweckenden Eindruck, würde meinen Zwecken aber genügen.

    Ohne lange zu überlegen, stieß ich es ins seichte Wasser und stakte es in den Schilfgürtel hinein. Das Schilf war so hoch, dass es mich um Armlänge überragte und ich keine drei Meter weit sehen konnte. Aber ich besaß ein scharfes Gehör und brauchte nur den Geräuschen zu folgen, die Marko verursachte. Bald hatte ich die Schneise gefunden, die er beim Durchwaten getreten hatte, und ich kam rascher vorwärts. Schließlich gelangte ich in eine Fahrrinne, die an einer kleinen Insel vorbeiführte. Marko, der nun bis über die Knie im Wasser war, steuerte darauf zu. Er erreichte die etwa zehn Meter breite Insel und verschwand hinter den Büschen. Nachdem er nicht mehr zu sehen war, stakte ich mit dem Boot darauf zu. Das knirschende Geräusch des auf Grund laufenden Bootes klang verräterisch laut in meinen Ohren. Marko schien es jedoch nicht gehört zu haben, denn er kam nicht, um nachzusehen.

    Ich stieg an Land, und als ich die Hecke erreichte, sah ich über sie hinweg Marko. Er kauerte auf der anderen Seite und rief mit verhaltener Stimme in das von einer leichten Brise bewegte Schilf: »Silja! Silja! Ich bin es. Dein Geliebter ist da.«

    Mir war sofort klar, dass Silja nur der Name des Mädchens sein konnte, das seine heimliche Liebe war. Marko rief immer wieder ihren Namen und fügte hinzu, dass er es sei. Er wiederholte sich ständig, nur einmal gebrauchte er eine andere Variante.

    »Ich habe dir mitgebracht, was du begehrst, Silja«, rief er eindringlicher als sonst.

    Und als sei dies eine besondere Beschwörungsformel, hatte er diesmal Erfolg. Im Schilf war ein Rascheln zu hören, als näherte sich von dort ein wuchtiger Körper und klatschte in gleichbleibendem Rhythmus aufs Wasser.

    Plötzlich teilte sich das Schilf – und etwas Monströses trat hervor. Obwohl ich an allerhand Schrecken gewöhnt war und mir auch der Anblick der abscheulichsten Monstren nicht fremd war, zuckte ich beim Auftauchen dieses Dinges unwillkürlich zusammen. Immerhin hatte ich damit gerechnet, ein weibliches Wesen zu erblicken.

    Marko dagegen war nicht überrascht. Er wich zwar zwei Schritte zurück, jedoch nicht aus Angst oder Ekel, sondern bloß, um dem Monstrum Platz zu machen.

    Es war das sonderbarste Wesen, das ich je erblickt hatte. Nachdem ich mich von meiner ersten Überraschung erholt hatte, registrierte ich einige Einzelheiten, die dieses Geschöpf noch seltsamer und unwirklicher erscheinen ließen. Im ersten Moment hatte ich den Eindruck eines unförmigen Fleischberges gehabt, der auf dicken, ungelenken Pseudopodien wandelte. Aber bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass die Extremitäten, sowohl Beine als auch Arme, von verschiedenen Wesen zu stammen schienen.

    Der eine Arm war pelzig, wie von einem Bären. Der andere Arm dagegen war geschuppt, als sei er mit Fischhaut überzogen. Auch über die linke Schulterpartie zog sich eine gefleckte Fischhaut, dazwischen gab es jedoch kleine, gefiederte Inseln wie von einem Vogel. Und der Unterleib schien von einem Wolf zu stammen; zumindest spannte sich um die Lenden dieser scheußlichen Chimäre ein Wolfsfell.

    Die beiden so unterschiedlichen Arme endeten anstatt in menschlichen Händen in flossenähnlichen Schwimmwerkzeugen. Das eine Bein schien einem Huftier zu gehören, nur war es viel stämmiger, während das andere Bein knochig war und von einem übergroßen Greifvogel zu stammen schien. Aber es gab daran etliche Auswüchse, etwa Hautlappen mit Haarschöpfen wie von Ziegen oder rötliche Hahnenkämme – wie überhaupt überall an dieser Chimäre die verschiedensten Verwachsungen zu erkennen waren. Es sah so aus, als hätte jemand die Merkmale von hundert verschiedenen Tieren der Erde, des Wassers und der Luft gemixt und zu diesem Monstrum zusammengebaut.

    Am eindrucksvollsten, weil am abscheulichsten, war das Gesicht. Der Kopf, trotz seiner Widderhörner, schien von einem Menschen zu stammen, aber das Gesicht war ein Fischgesicht. Wenn ich mich auf dieses Gesicht konzentrierte, hatte ich den Eindruck, einem Karpfen gegenüberzustehen.

    Das Maul war rund und schnappte ständig geräuschvoll nach Luft. Die seitlichen Kiemen klappten wie Fächer in schnellem Rhythmus auf und zu. Und rundum gab es geschuppte und behaarte Wucherungen wilden Fleisches, die in Augenhöhe am deutlichsten hervortraten und regelrechte Klumpen bildeten. Diese Fleischklumpen anstelle von Fischaugen waren von einem spinnennetzartigen Gespinst überzogen.

    Dieses Scheusal betrat die Insel und ließ sich Marko gegenüber nieder. Es wischte schnaufend mit dem beschuppten Arm durch die Luft, als wolle es einen lästigen Mückenschwarm verscheuchen. Dann sprach es mit zischelnder, rauer Stimme: »Ist es wahr, Marko? Oder wolltest du mich nur ködern? Hast du sie?«

    »Ja, Silja«, sagte Marko mit warmer, zärtlicher Stimme, als spräche er zu einem geliebten Wesen. Mir rann ein Schauder den Rücken hinunter, und ich spürte, wie sich eine Gänsehaut bildete. Eine unheimliche Ahnung beschlich mich.

    »Ja, es stimmt, Silja«, sprach Marko weiter und hob den blutgefüllten Beutel hoch, in dem die Lammaugen schwammen. »Ich habe sie dir mitgebracht, wie du befohlen hast. Jetzt wirst du bald wieder sehen können.«

    Das Scheusal, das Marko zärtlich Silja nannte, tappte mit der Linken durch die Luft, bekam Markos Hand zu fassen und tastete sich bis zum blutgefüllten Darmsack vor. Schnell riss es den Beutel an sich und schloss beide Schwimmwerkzeuge darüber.

    »Es ist warm, es lebt«, sagte das Scheusal. »Ich kann spüren, wie das Leben darin noch pulsiert. Und es sind Augen?«

    »Ja, Silja.«

    »Menschenaugen?«

    Marko zögerte, bevor er antwortete: »Ja, Silja, Menschenaugen. Du wirst damit endlich sehen können.«

    »Das hoffe ich!« Das Ungeheuer gab einen unheimlichen Seufzer von sich und schüttelte seinen unförmigen Körper. »Ich hoffe es auch für dich, Marko, dass ich mit diesen Augen endlich wieder sehen kann, denn sonst bin ich gezwungen, von dir ein noch größeres Opfer zu verlangen. Du verstehst, Marko?«

    »Ja«, sagte Marko und schluckte vernehmlich, »ich weiß, was das bedeutet. Ich bin bereit. Für dich tu ich alles.«

    »Wir werden sehen.«

    Das Scheusal, in dem Marko ein begehrenswertes Wesen sah, sprang auf und tauchte im Schilf unter. Es drehte noch einmal den Kopf und wandte das Fischgesicht in Markos Richtung.

    »Sei morgen um die gleiche Zeit wieder hier. Dann sehen wir weiter!«

    Mit diesen Worten ließ es sich nach vorn plumpsen und verschwand zwischen den Schilfrohren im tieferen Wasser.

    Marko wartete, bis die Geräusche verstummt waren, dann machte er Anstalten, die Insel zu verlassen. Ich rührte mich nicht vom Fleck, obwohl er geradewegs auf mich zukam. Beinahe wäre er mit mir zusammengestoßen, prallte jedoch im letzten Moment entsetzt vor mir zurück. Er sah mich an, als sei ich ein solches Monstrum wie jenes, mit dem er sich gerade unterhalten hatte.

    »Mila! Was tust du hier?«

    »Ich bin dir gefolgt, weil ich herausfinden wollte, welcher Dämon dich reitet, Marko.«

    Er packte mich an den Schultern, schüttelte mich und begann plötzlich zu schluchzen.

    »Was du tust, ist Wahnsinn, Schwester!«, schrie er mich an. »Wenn Silja dich entdeckt, dann … Bisher habe ich sie mit Opfern von Schlachttieren hinhalten können, aber … Du hast gehört, was sie von mir verlangt. Sie wäre egoistisch genug, deine Augen zu begehren, Mila!«

    Er sank mit dem Kopf gegen meine Brust, und ich streichelte seinen bebenden Rücken.

    »Ich fürchte mich nicht, Marko«, sagte ich. »Ich bin dir gefolgt, um dir zu helfen. Ich werde dich aus dem Bann dieser Kreatur erlösen.«

    »Nein!«, schrie er gequält auf und riss sich von mir los. »Ich liebe Silja. Sie ist mein Leben. Und wenn es sein muss, werde ich mein Versprechen halten und ihr mein Augenlicht opfern.«

    »Schon gut, Marko«, versuchte ich ihn zu beruhigen. »Ich habe Verständnis für deine Lage.«

    »Nichts verstehst du!«, herrschte er mich an. »Du hast Silja gesehen und denkst, sie sei ein Ungeheuer. Aber das ist nicht die wahre Silja, die ich liebe. Ich habe sie ganz anders in Erinnerung. Sie war nicht immer so. Erst dieser schreckliche Dämon hat sie zu dem gemacht, was sie jetzt ist.«

    »Welcher Dämon?«

    »Der Dämon Gorshat, der auf einer Insel im See lebt und von dort eine Schreckensherrschaft über das Land führt.«

    »Gorshat?«, wiederholte ich. Das war der Name des Dämons, vor dem mein Bruder Georg mich gewarnt hatte.

    »Ich werde dir helfen, Marko«, versprach ich. »Du brauchst dein Augenlicht nicht zu opfern, bestimmt findet sich ein anderer Weg. Und wenn es irgendwie geht, werde ich dir Silja zurückgeben.«

    Aber Marko glaubte mir nicht. Offenbar konnte er sich nicht vorstellen, was ich, die er für seine Schwester hielt, gegen die Magie eines mächtigen Dämons ausrichten könnte.

    Ich ließ mich auf keine weitere Diskussion ein, sondern hypnotisierte ihn und trug ihm auf, diesen Zwischenfall zu vergessen. Dann kehrten wir auf verschiedenen Wegen zum Haus der Djilas' zurück.

    Ich hatte mir längst schon einen Plan zurechtgelegt, wie ich Marko helfen und an den Dämon Gorshat herankommen könnte, so dass ich beruhigt einschlief.

    Als ich am nächsten Morgen aufwachte – es war eigentlich schon später Vormittag, und die Fischer kehrten bereits von ihrer Fangfahrt zurück –, kam mir mein Plan nicht mehr so gut vor. Zumindest sah ich ein, dass er ziemlich riskant war. Ich hoffte jedoch, im Laufe des Tages Kontakt mit meinem Bruder Georg zu bekommen und damit neue Einsichten zu gewinnen, so dass sich eine andere Lösung vielleicht von selbst anbot.

    Von meinem Fenster hatte ich einen guten Überblick über den Fischerhafen. Ich genoss das malerische Bild, das die zurückkehrenden Boote boten. Aber irgendetwas störte das friedliche Idyll. Ich merkte, dass auf einem der Boote, das gerade in den Hafen einlief, irgendetwas nicht stimmte. Und als ich erkannte, dass es sich um eines der Djilas-Boote handelte, kletterte ich einfach aus dem Fenster und lief zum Steg hinunter.

    Das Boot legte gerade an. Marko, dem die Arme auf den Rücken gebunden waren, wurde von zweien seiner Brüder an Land geschleppt. Sie machten grimmige Gesichter und sprangen ziemlich unsanft mit ihm um. Marko wich meinem Blick aus, er wirkte trotzig und unnahbar.

    »Was soll das bedeuten?«, fuhr ich seine Brüder an. »Löst sofort seine Fesseln!«

    »Kommt nicht in Frage«, sagte der älteste der Djilas-Brüder. »Sollen wir ihn vielleicht gewähren lassen, wenn er die Fische, die wir fangen, wieder ins Wasser wirft?«

    Der andere der Brüder spuckte aus.

    »Diesmal ist Marko zu weit gegangen. Er macht es nicht nur bei uns so, sondern wird auch den anderen lästig. Es ist nur zu Markos Bestem, wenn wir ihn in Gewahrsam nehmen. Er hat die Netze einiger Fischer zerschnitten und Jevties Boot mitsamt seinem Fang versenkt. Ein Wunder, dass ihn die anderen nicht in Stücke gerissen haben.«

    Marko wandte den Kopf und sagte trotzig zu mir: »Ich tu es nur Siljas wegen.«

    Sein ältester Bruder schlug ihn auf den Kopf und sagte: »Du hast den Verstand verloren.«

    Ich wandte mich Markos Vater zu, der gerade aus dem Boot kletterte. Er machte einen müden und deprimierten Eindruck.

    »Was ist eigentlich vorgefallen, Vater Djilas?«, fragte ich ihn.

    »Ich weiß mir keinen Rat mehr mit Marko«, sagte er und legte mir den schweren Arm um die Schulter. »Es wird immer schlimmer mit ihm. Sieh dir das an! Wir haben kaum Fische im Boot. Marko hat fast alle wieder ins Wasser geworfen.«

    »Warum hat er es getan?«

    »Das mag der Teufel wissen«, sagte der alte Fischer.

    »Aber Marko muss doch einen Grund für seine Handlungsweise angegeben haben«, bohrte ich weiter.

    »Er hat gesagt, er mache es Siljas wegen«, sagte der Fischer. »Silja ist das Mädchen, das ihn behext hat. Sie ist vor einem Jahr im See ertrunken. Seit damals ist Marko wie ausgewechselt. Er behauptet, sich heimlich mit ihr zu treffen. Er sagt, böse Mächte hätten sie behext und ihr das Augenlicht genommen. Deshalb nimmt er allen geschlachteten Tieren die Augen heraus und opfert sie ihr. Und er ist von der fixen Idee besessen, dass einer der Fische aus diesem See nun Siljas Augen besitzt. Deshalb untersucht er jeden Fisch, der ihm in die Hände kommt. Und deshalb sabotiert er unseren Fischfang, weil er fürchtet, dass jener Fisch darunter sein könnte, der Siljas Augen hat, und er will, dass sie sich ihre Augen zurückholen kann. Verrückt, nicht? Und gefährlich. Ich habe geglaubt, dass du ihn zur Vernunft bringen könntest, Mila. Aber es scheint hoffnungslos zu sein.«

    »Ich werde Marko helfen«, erwiderte ich. »Und ich weiß auch schon wie.«

    Er blickte mich ungläubig an.

    »Was kannst du schon tun, kleine Mila? Nein, ich kann nicht länger zusehen. Und ich habe auch schon die nötigen Schritte unternommen. Noch heute soll es geschehen.«

    »Was?«, fragte ich.

    »Ein Bote ist bereits ins Kloster Starevo unterwegs. Noch heute wird der Exorzist kommen, um den Teufel aus Marko auszutreiben.«

    Ich prallte entsetzt zurück.

    »Was siehst du mich so an, Tochter?«, fragte der Fischer. »Glaubst du, diese Entscheidung fiel mir leicht? Aber ich hatte keine andere Wahl. Es ist eine Schande für die ganze Familie, aber wir müssen das durchstehen, Markos wegen.«

    Er ließ mich stehen und ging ins Haus. Es war Irrsinn, was diese Leute vorhatten. Wie konnte ich ihnen nur begreiflich machen, dass alles nur noch schlimmer würde, wenn ein Exorzist auf den Plan trat? Der Dämon Gorshat würde das als Herausforderung betrachten und nur noch eindringlicher seine Macht demonstrieren.

    Ich musste die zweifellos gutgemeinten Absichten dieser Leute durchkreuzen und den Exorzismus verhindern. Es wäre alles viel einfacher gewesen, hätte man nicht schon einen Boten zu jenem Kloster geschickt. Inzwischen waren wahrscheinlich bereits alle Hebel in Bewegung gesetzt – und möglicherweise befand sich der Exorzist bereits unterwegs nach Virpazar. Und an einen Geistlichen konnte ich mich nicht heranwagen, denn immerhin bin ich trotz allem eine Hexe. Allein die Beschäftigung mit diesem Thema bereitete mir Übelkeit.

    Mir blieb keine andere Wahl, als das Übel an der Wurzel zu packen. Eine andere Möglichkeit, eine Eskalation des Bösen zu verhindern, hatte ich nicht. Mit anderen Worten hieß das, dass ich Marko befreien und fortbringen musste.

    Das wäre für mich an sich kein Problem gewesen. Wenn ich trotzdem zögerte, diesen Schritt zu tun, dann deshalb, weil ich zusammen mit Marko untertauchen musste und für meinen Bruder Georg nur noch schwer erreichbar wäre. Ich verstand nicht, wieso er nicht längst schon Verbindung mit mir aufgenommen hatte. War er selbst ebenfalls bereits ein Opfer von Gorshat geworden?

    Ich beschloss, ihm bis Einbruch der Dunkelheit – oder bis knapp vor Eintreffen des Exorzisten – Gelegenheit zu geben, sich bei mir zu melden. Länger konnte ich nicht warten, um Marko zu helfen, wie groß die Bedrohung gegen meine eigene Familie auch war. Denn so akut wie die Gefahr, in der sich die Bewohner von Virpazar befanden, war sie längst nicht. Außerdem schien in beiden Fällen der Dämon Gorshat seine Hände im Spiel zu haben.

    Die Zeit verging, ohne dass sich mein Bruder meldete.

    Die Sonne stand schon tief und berührte mit ihrer Korona den westlichen Horizont, als sich aus Richtung des Ortes eine Menschenmenge näherte. Einige Leute liefen voran, und der Ruf, dass der Exorzist im Anmarsch sei, pflanzte sich schnell bis zum Haus der Djilas' fort.

    Da zögerte ich nicht länger.

    Ich betrat das Haus. Bis auf den ältesten der Brüder hatten sich alle im Wohnzimmer versammelt. Es herrschte eine gedrückte Stimmung. Niemand wagte es, mir in die Augen zu blicken.

    »Wo ist Marko?«, fragte ich.

    »Auf seinem Zimmer«, antwortete mir sein Vater. »Stepan bewacht ihn.«

    Wir von der Zamis-Sippe haben eine spezielle Fähigkeit, die kaum ein anderer Dämon beherrscht, und um die uns alle in der Schwarzen Familie beneiden. Wir können den Zeitablauf verlangsamen oder beschleunigen, so dass wir uns entweder so langsam bewegen, dass wir für uneingeweihte Beobachter wie versteinert wirken, oder wir sind so schnell, dass unseren Bewegungen mit den Augen niemand folgen kann. Jeder Zamis beherrscht den langsamen und schnelleren Zeitablauf, der eine mehr, der andere weniger, aber Georg und ich sind in dieser magischen Kunst wahre Meister.

    Als ich nun in einen rascheren Zeitablauf verfiel, musste es für die Djilas' so aussehen, als ob ich mich plötzlich in Luft auflöste. Für mich dagegen wirkten sie, die sich im normalen Zeitablauf befanden, wie zu Statuen erstarrt.

    Ich eilte die Treppe ins Obergeschoss hoch, drang in Markos Zimmer ein, und vorbei an dem bewegungslos dastehenden Stepan kam ich zu Marko und nahm ihn in mein Zeitrafferfeld auf.

    »Mila!«, entfuhr es ihm überrascht. »Was tust du?«

    »Ich bringe dich fort, Narr«, sagte ich, während ich seine Fesseln löste.

    Er gehorchte widerstandslos und folgte mir an der Hand ins Erdgeschoss. Ich konnte mir vorstellen, wie sehr ihn der Anblick seiner zur Bewegungslosigkeit verdammten Familie erstaunen musste, aber er stellte keine Fragen.

    Wir kamen ins Freie und rannten vorbei an der scheinbar zum Stillstand gekommenen Prozession mit dem Exorzisten. Die Nähe des Geistlichen zehrte an meinen Kräften, aber ich überwand mich und brachte Marko im schnelleren Zeitablauf bis zum Schilfgürtel hinunter.

    Dort angekommen, fühlte ich mich ziemlich ausgelaugt und war froh, uns in den normalen Zeitablauf zurückkehren lassen zu können. Die Verschnaufpause tat mir gut, denn der Einsatz meiner Fähigkeiten kostete mich immer sehr viel Substanz.

    »Und was jetzt?«, fragte Marko.

    »Du hast eine Verabredung mit Silja«, sagte ich. »Die wirst du einhalten. Und ich begleite dich.«

    Marko wollte aufbegehren, aber ich brachte ihn mit einem scharfen Blick zum Verstummen.

    Wir fuhren mit einem kleinen Boot zum Treffpunkt hinaus und mussten uns vorerst in der Nähe verstecken, denn bald wimmelte es im Schilf nur so von Suchkommandos. Nach Einbruch der Dunkelheit war der Gürtel von Dutzenden von Fackeln erhellt, die wie Irrlichter durch die Nacht geisterten.

    Ein paarmal kamen uns die Suchkommandos bedrohlich nahe, und einmal tauchte unvermutet einer der Fischer vor uns auf. Er war so perplex, dass er nicht sofort reagierte. Und noch bevor er sich gefasst hatte und die anderen alarmieren konnte, hatte ich ihn auch schon hypnotisiert. Wenig später, als er zu den anderen in der Nähe zurückkehrte, hörte ich ihn berichten, dass er jeden Fußbreit in diesem Gebiet durchkämmt hätte und wir uns hier ganz bestimmt nicht versteckt hielten. Daraufhin zogen die Fischer ab. Die Lichter entfernten sich, die Geräusche verstummten, und bald war nur noch das Säuseln des Windes im Schilf zu hören.

    Marko und ich waren allein.

    Wir warteten schweigend.

    Endlich zeigte ein Geräusch an, dass sich etwas der kleinen Insel näherte. Marko wurde unruhig. Er räusperte sich und fragte: »Willst du nicht doch umkehren, Schwester? Noch ist es nicht zu spät. Du kannst mir doch nicht helfen, sondern bringst dich nur unnötig in Gefahr.«

    »Ich bleibe«, beschloss ich. »Aber wenn es dich beruhigt, werde ich mich verstecken.«

    »Tu wenigstens das, Mila. Mir zuliebe.«

    Ich zog mich ins Boot zurück, das wir im Schilf versteckt hatten.

    Kurz darauf brach die Chimäre, die noch vor einem Jahr ein bildhübsches Mädchen gewesen sein sollte, durch das Schilf. Da der volle Mond am Himmel stand und es kaum bewölkt war, war es hell genug, dass ich Einzelheiten erkennen konnte.

    Die Kreatur mit Merkmalen von hundert verschiedenen Tieren stürzte wie tollwütig auf die Insel und fiel mit animalischem Geschrei über Marko her.

    »Silja!«, rief er entsetzt und versuchte den Angriff mit Armen und Beinen abzuwehren. »Silja, nicht! Ich bin es, dein Marko!«

    »Mein Marko!«, kam es gurgelnd aus dem Fischmund, während die Chimäre Arme und Beine um des Jungen Körper schlang. »Mein Marko! Du bist ein Betrüger! Du hast versucht, mich zu täuschen!«

    »Aber, Silja …«

    Das Scheusal presste Marko eine der Armflossen gegen den Mund und brachte ihn dadurch zum Verstummen.

    »Du hast behauptet, dass es sich bei deinem Geschenk um Menschenaugen handelt!«, schrie die Mensch-Tier-Kreatur gellend. »Aber es waren Schafsaugen. Sieh mich an! Kannst du sie sehen – die Augen? Ich sehe die Welt nun mit dem stupiden Blick eines Schafes!«

    Ich betrachtete das Fischgesicht genauer und – tatsächlich! – wo vorher Fleischwucherungen und ein nervenartiges Gespinst gewesen waren, blickten jetzt große Augen. Es waren die Augen des geschlachteten Tieres, die Marko Silja in der vergangenen Nacht gebracht hatte.

    »Silja, ich …«, wollte Marko erklären, aber die Chimäre ließ ihn nicht aussprechen. Mit einem wütenden Fauchen hob sie ihn mit spielerischer Leichtigkeit hoch und warf ihn sich über die Schulter.

    »Meine Geduld ist am Ende«, sagte die Chimäre geifernd. »Ich lass mich nicht länger von dir narren. Erinnere dich deines Versprechens. Du hast gesagt, dass du mir dein Augenlicht opfern würdest. Jetzt musst du dieses Versprechen einlösen.«

    Die Kreatur wirbelte herum und wollte sich mit ihrem Opfer ins Schilf zurückziehen. Aber ich erreichte sie im rascheren Zeitablauf und verstellte ihr den Weg.

    »Lass Marko sofort frei!«, befahl ich.

    Die Chimäre warf ihre lebende Last mit einem überraschten Ausruf zu Boden und wandte sich mir zu.

    »Sieh an!«, kam es gurgelnd aus dem Fischmund. »Mein Geliebter ist mir untreu geworden. Was für ein niedliches Geschöpf er sich da geangelt hat.«

    »Es verhält sich ganz anders, als du denkst«, sagte ich ruhig und versuchte vergeblich, die Schafsaugen in dem Fischgesicht in meinen Bann zu schlagen, doch ich konnte dieses Scheusal einfach nicht hypnotisieren. Es ging etwas Dämonisches von diesem Wesen aus. Das zeigte, dass es bereits im Bann der Magie einer anderen Macht stand. Mir war klar, dass es sich nur um den Dämon Gorshat handeln konnte.

    Marko raffte sich auf und versuchte, sich zwischen uns zu stellen.

    »Rühr dieses Mädchen nicht an, Silja«, sagte er beschwörend. »Das ist meine Schwester.«

    »Na und?« Die Chimäre wischte Marko mit einer spielerisch wirkenden Armbewegung zur Seite. »Sie hat schöne Augen. Sie sind grün, wenn ich mich nicht täusche. Sie werden gut zu meinem Teint passen.«

    Diesen Worten folgte ein schauriges Gelächter.

    Marko kam wieder auf die Beine. Doch noch bevor die Chimäre ihn erneut zu Boden schlagen konnte, packte ich ihn an den Schultern und drehte ihn zu mir herum. Ich sah ihm tief in die Augen – und dann war es um ihn geschehen.

    »Marko«, sagte ich eindringlich, »ich werde mich für dich opfern. Keine Angst, ich weiß schon, was ich tue. Geh nach Hause und vergiss diese Episode. Diese Kreatur soll dich nie wieder quälen.«

    Da sauste ein geschuppter Arm herunter und traf Marko im Genick. Der wuchtig geführte Schlag fällte ihn wie einen Baum.

    »Jetzt zu dir, Süße«, sagte die Chimäre und stieg mit ihren verwucherten, klumpigen Beinen über den Bewusstlosen hinweg. »Glaube nicht, dass du bei mir Mitleid schinden kannst. Versprochen ist versprochen. Ich will deine großen grünen Mandelaugen haben.«

    Ich wehrte mich nicht, als die Kreatur nach mir griff. Ich spürte einen festen Druck in meinem Nacken, der mein Nervensystem lahmlegte. Ich war bewegungsunfähig und musste es geschehen lassen, dass sie mich hochhob und schulterte. Dann stürzte sie sich mit einem animalischen Laut, der wohl Triumph ausdrücken sollte, ins Schilf.

    Mein Körper war immer noch gefühllos, als die Chimäre mit mir das Schilf hinter sich ließ und in den See hinaus schwamm. Nur langsam merkte ich, wie sich die Nässe und die Kälte in meine Glieder schlich, und als die Lähmung nachließ, wurde mein Körper durch das eisige Wasser gefühllos. Trotz der Jahreszeit – es war Anfang Mai – war die Wassertemperatur ungewöhnlich niedrig.

    Während sie schwamm, sprach die Chimäre kein Wort zu mir. Sie stieß nur immer wieder seltsame Laute aus, sog gurgelnd Wasser ein und spuckte es in hohem Bogen wieder aus. Dabei hielt sie mich mit beiden Armen in sicherem Griff fest und benutzte nur die Beine zum Schwimmen. Selbst wenn ich es gewollt hätte, wäre es mir nicht gelungen, mich aus meiner Lage zu befreien.

    Endlich tauchte vor uns eine üppig bewachsene Insel auf. Durch den Pflanzenwall schimmerten im Mondlicht von Moos bewachsene und efeuumrankte Mauern. Ich sah einen Turm, ein steiles Dach und einige Zinnen, die sich gegen den Mond abhoben. Und ein von flackerndem Licht erhelltes Fenster in einer der Mauern.

    Wir erreichten die Insel, tauchten in eine Bucht ein, und ein dichtes Pflanzendach schob sich über uns. Die Chimäre schwamm bis ans Ufer und warf mich dann einfach an Land. Dann erst erhob sie sich selbst aus dem Wasser. Ich blieb rücklings liegen, als sie sich, vor Nässe triefend und von Wasserpflanzen behangen, über mich beugte und ihr faulig stinkendes Fischmaul ganz nahe an mein Gesicht brachte.

    »Wir sind am Ziel, Süße«, sagte sie. »Bald ist es soweit.«

    »Wo sind wir hier?«, fragte ich zähneklappernd. Mir war erbärmlich kalt.

    »Das ist Gorshats Insel«, sagte die Kreatur. »Ich werde dich zu seiner Burg bringen. Wir wollen keine Zeit verlieren, denn Gorshat hat versprochen, die Operation sofort vorzunehmen, wenn ich ihm ein geeignetes Opfer liefere.«

    Die Kreatur lud mich wieder auf die Schulter und stapfte mit mir landeinwärts. Ich nahm nicht viel von meiner Umgebung wahr, denn die Pflanzen schirmten das Mondlicht ab. Endlich lichtete sich das Unterholz, und wir kamen ins Freie.

    Vor mir ragte eine hohe, senkrechte Mauer auf. Irgendwelche Tiere, die

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