Mami 1806 – Familienroman: Das Vermächtnis einer großen Liebe
Von Rosa Lindberg
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Annette hatte die Vorhänge aufgezogen, aber kein Stern drang durch die grauschwarze Wolkendecke. Es war kalt. Sie ging zurück zum Bett, rückte mit angewinkelten Knien an die Wand und raffte die Decke bis zu den Schultern hoch. "Er kann sich nicht scheiden lassen", hatte Katharina gesagt, und ihre kakaobraunen Augen waren beinahe schwarz geworden vor Kummer um die Freundin. "Aber Niklas will…" "Sie bestens versorgen, habe ich recht?" "Ja.
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Buchvorschau
Mami 1806 – Familienroman - Rosa Lindberg
Mami –1806–
Das Vermächtnis einer großen Liebe
Roman von Rosa Lindberg
Annette hatte die Vorhänge aufgezogen, aber kein Stern drang durch die grauschwarze Wolkendecke. Es war kalt. Sie ging zurück zum Bett, rückte mit angewinkelten Knien an die Wand und raffte die Decke bis zu den Schultern hoch.
»Er kann sich nicht scheiden lassen«, hatte Katharina gesagt, und ihre kakaobraunen Augen waren beinahe schwarz geworden vor Kummer um die Freundin.
»Aber Niklas will…«
»Sie bestens versorgen, habe ich recht?«
»Ja.«
Sie waren in Katharinas Büro gewesen, das sie in der Kanzlei ihres Vaters hatte.
»Weißt du eigentlich, daß Niklas den Wagen fuhr, mit dem der Unfall passierte?«
Ja, das wußte Annette. Niklas hatte ihr nichts verheimlicht. Auch nicht, daß er sich deshalb schuldig fühlte daran, daß Stella, seine Frau, seitdem an den Rollstuhl gefesselt war. Obwohl er an dem Unfall nicht die geringste Schuld hatte. Das war einwandfrei erwiesen.
»Weißt du«, Katharina hatte zweimal hintereinander trocken geschluckt, bevor sie weitersprach, »mir geht es gar nicht so sehr um Niklas. Männer verwalten ihre Gefühle letztlich doch mit dem Verstand, im Gegensatz zu uns Frauen. Nein, es geht mir um dich! Du wirst diejenige sein, die nicht verkraften wird, daß er Stella deinetwegen verließ.«
Annette hatte einen großen Schluck Tee getrunken, ihre Kehle war glashart und heiß. Sie wußte nicht, wie sie fertig werden sollte mit ihrem inneren Zwiespalt. Es war so schwer. Nie in den achtundzwanzig Jahren ihres Lebens hatte sie vor einer so peinigenden Entscheidung gestanden. Nie war ihr Herz so zerrissen gewesen. Und noch nie – hatte sie so geliebt…
Ein paar Herzschläge lang hatte sie gezögert, dann die Frage doch gestellt: »Weißt du – ich meine – weißt du, ob – ob sie Niklas liebt?«
In Katharinas Augen lag stets ihr ganzes Herz.
Auch jetzt.
»Er war und ist die große Liebe ihres Lebens.«
Und ihr dunkler Blick sagte, was sie nicht aussprach: Stella Korff würde sterben, wenn Niklas sie verließe.
Annette bemerkte, daß sie weinte. Immer noch stand einzig die dunkle Wolkenwand vor den Fensterscheiben, sternenlos und drohend. Eine freudlose Finsternis, wie die in ihrer Seele, ohne einen Hauch, der ein bißchen von der Unfaßbarkeit wegwehte.
Langsam schob sie die Decke von sich und stand auf. Ihre Bewegungen waren schwer, als wäre Blei in ihren Gliedern. Die Gedanken bewegten sich nicht weniger bleiern. Es wäre schön, das Denken überhaupt abzuschalten, wenigstens für eine Weile. Doch was brachte das? Nichts! Sie ging in die Küche, machte einen Tee und ließ ihn lange ziehen. Den Gedanken an eine Schlaftablette verwarf sie. Während sie auf den Tee wartete, überlegte sie, ob Katharina auch in dieser Offenheit mit ihr gesprochen hätte, wenn sie von dem Kind wüßte, das sie erwartete. Vermutlich nicht. Selbst Katharina nicht.
Stella Korff hatte keine Kinder. Auch das eine bittere Folge des Unfalls.
Vor Annettes Augen verschwamm das Blau und das Weiß der Küchenfliesen, wurde zu einem kompakten Grau.
Als sie diese Küche mit viel Liebe einrichtete, hatte sie Niklas Korff noch nicht gekannt. Da war Liebe für sie noch Spiel, Flirt, gehörte eben ein bißchen in das Leben einer jungen aufstrebenden Journalistin, die soeben ihr Studium abgeschlossen hatte.
Wünschte sie diese Zeit zu-rück?
Eine müßige Frage! Ob sie das tat oder nicht, keine Zeit kommt wieder zurück. Das macht sie ja so kostbar, vor Annettes Augen wurden die Fliesenfarben wieder klar, und trotzden gehen wir so sorglos mit ihr um! Als würde sie sich vervielfältigen und nicht verringern. Jede Sekunde, jede Minute, jede Stunde…
Auch diese! Annette straffte sich, goß Tee ein, nahm Zucker und Milch, trank einen Schluck, noch einen und wußte plötzlich, was sie zu tun hatte.
»Es gibt solche«, behauptete Tante Charlotte immer, »die was anpacken, und solche, die sich treiben lassen!«
Hinzugefügt hatte sie, stets mit diesem lächelnd-drohenden Unterton, den nur sie allein beherrschte: »Laß dich nie treiben! Nie!«
Und Tante Charlotte mußte es wissen. Sie hatte nicht nur Annette aufgezogen, sondern auch ihr eigenes schweres Leben mit Bravour gemeistert. Ihre Lebensmaxime, daß Rückschläge und Widerstände stark machen, hatte sie in die Tat umsetzen müssen, weil es anders gar nicht gegangen wäre. Zugegeben hatte sie allerdings, daß das schlaflose Nächte und bittere Tränen nicht ganz ausschließe.
Als sie all die ihr vom Leben, vom Schicksal und auch von einigen Menschen auferlegten Pflichten erledigt hatte, zog sie sich in das westfälische Dorf zu-rück, in dem sie geboren war. Sie hatte sich so nahtlos wieder in die Dorfgemeinschaft eingefügt, als wäre sie nie fortgewesen.
Die Gedanken an Tante Charlotte stärkten Annette. Sie war nicht allein! Das zu wissen, tat gut, gab Kraft und Mut.
Beides würde sie brauchen für ihren Weg.
Sie trank den Tee aus, löschte die Lichter und ging zurück ins Schlafzimmer. Die dunkle Wolkenwand hatte sich leicht gelichtet, und drei, vier, fünf Sterne schimmerten auf. Annette ließ die Vorhänge geöffnet.
*
Nie, im ganzen Leben nicht, würde Annette Niklas’ Blick vergessen, als sie ihm gesagt hatte, daß sie sich von ihm trennen wollte und müßte. Erst sehr viel später würde sie sich wieder erinnern, was sie in der Stunde der Trennung alles gesagt hatte.
Eines jedoch hatte sie ihm nicht gesagt: Daß sie ein Kind von ihm trug, das sie auch bekommen würde. Er hätte sie nicht gehen lassen. Und wäre sie geflüchtet vor ihm, er hätte sie gefunden. Überall.
So aber ließ er sie gehen, verbittert und enttäuscht. Daß er sie nicht vergessen würde, daß er leiden würde unter dieser für ihn gänzlich unverständlichen Trennung, wußte Annette. Sie konnte es ihm nicht ersparen. Aber ersparen konnte sie ihm die Scham, die unweigerlich gekommen wäre eines Tages, über sein Tun, eine rollstuhlabhängige Frau verlassen zu haben. Er haßte sie ja nicht, seine Frau Stella, vielleicht liebte er sie sogar noch auf eine bestimmte Art, die sich in dem einfachen Gernhaben äußerte. Er hatte sie seinerzeit wirklich aus Liebe geheiratet und nicht, wie gemunkelt wurde, wegen des Geldes.
Stella Korff war Alleinerbin einer florierenden pharmazeutischen Fabrik gewesen. Inzwischen waren sie und Niklas die Besitzer. Der Unfall – er hatte die Träume von beiden zerstört, und sie versuchten, das Beste daraus