Heimatkinder 35 – Heimatroman: Als das Schicksal an die Tür klopfte
Von Steffi Seethaler
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Über dieses E-Book
Traude Radlinger blieb abrupt vor einem der Schaufenster stehen, als sich der Schmerz in der Magengrube wieder bemerkbar machte und ihr sogar übel wurde. Sie versuchte tief durchzuatmen und – wie so manches Mal zuvor – diese Beschwerde zu ignorieren.
Passanten eilten an ihr vorbei. Es war Feierabendzeit. Jeder strebte eiligst seinem Heim zu. Auch sie wäre längst in ihrer kleinen Wohnung im Hochhaus, hätte sie nicht die U-Bahn verpaßt und den Weg zu Fuß angetreten.
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Buchvorschau
Heimatkinder 35 – Heimatroman - Steffi Seethaler
Heimatkinder –35–
Als das Schicksal an die Tür klopfte
Roman von Steffi Seethaler
Traude Radlinger blieb abrupt vor einem der Schaufenster stehen, als sich der Schmerz in der Magengrube wieder bemerkbar machte und ihr sogar übel wurde. Sie versuchte tief durchzuatmen und – wie so manches Mal zuvor – diese Beschwerde zu ignorieren.
Passanten eilten an ihr vorbei. Es war Feierabendzeit. Jeder strebte eiligst seinem Heim zu. Auch sie wäre längst in ihrer kleinen Wohnung im Hochhaus, hätte sie nicht die U-Bahn verpaßt und den Weg zu Fuß angetreten.
Nun stand Traude da, starrte blicklos in die Auslage und wartete darauf, daß der Schmerz endlich nachlassen würde. Das geschah tatsächlich nach wenigen Minuten. Als sie langsam weiterging, hatte sie dennoch das Gefühl, wie durch eine anstrengende Arbeit zusätzlich erschöpft zu sein.
Das Hochhaus betrat sie jedoch dann mit dem gewohnten Lächeln, das ihrem kleinen Sohn galt, bevor sie ihn sah. Marcus! Wie eine zweite Sonne leuchtete er in ihrem Leben. Sobald sie an ihrem Schicksal verzweifeln wollte, richtete sie sich immer wieder an dem tröstenden Gedanken auf, trotz allem dankbar und zufrieden sein zu dürfen.
Auch heute saß Marcus am Küchentisch und hatte Hefte und Bücher um sich verstreut. Seinen dunklen Lockenkopf neigte er tief hinab, während er mit dem rechten Zeigefinger über eine Landkarte fuhr.
»Mami!« rief er, als sie auf ihn zuging, und sprang vom Stuhl hoch. Sein Gesicht war stark gerötet. Gleich fürchtete Traude, er könnte Fieber haben, und legte die Hand prüfend auf seine Stirn.
»Habt ihr heute etwas Neues in der Schule durchgenommen?« erkundigte sie sich, beruhigt darüber, daß er keine erhöhte Temperatur hatte.
»Wo warst du nur so lange?« fragte er. »Ich hab’s mit meiner Neuigkeit kaum noch aushalten können.«
Traude lächelte weiterhin, obwohl es ihr schwerfiel. Die Müdigkeit lag ihr wie Blei in den Gliedern. Daß sie Überstunden gemacht hatte, um ihrem Sohn zum Geburtstag eine besondere Überraschung bereiten zu können, verriet sie nicht. Statt dessen forderte sie ihn auf:
»Na, erzähl schon. Du bist ja so aufgeregt, als würdest du gleich platzen.«
»Rate mal, was wir in den Schulferien vorhaben, Mami«, verlangte er, und seine dunklen Augen funkelten.
»Wahrscheinlich das gleiche wie im vergangenen Jahr«, meinte sie leichthin, »lange schlafen, schwimmen gehen oder mal den Zoo besuchen.«
»Falsch!« Marcus lachte. »Die ganze Klasse wird zusammen Ferien machen – drei Wochen lang.«
Traude Radlinger Iächelte nicht mehr. Sie dachte an die Unkosten, die ein solches Unternehmen bringen würde, und unterdrückte einen Seufzer. Sich mit einem Kind durchzuschlagen, das war nicht leicht, wenn man keinen Beruf erlernt hatte und zudem noch ledig war. Seit einem Jahr arbeitete sie im Akkord in einer Keksfabrik. Sie verdiente nicht schlecht; doch es wollte nie reichen.
»Wir kriegen einen Zuschuß von der Stadtverwaltung«, berichtete Marcus weiter. »Dann haben wir noch unsere Schulkasse, und den Rest muß man selber zusteuern. Aber – aber das wird nicht viel sein. Das Geld, das ich mir für ein Fahrrad angespart habe, werde ich für diese Ferien verwenden«, setzte er hastig und mit einem ängstlichen Blick auf seine Mutter hinzu.
»Du wirst einiges anzuziehen brauchen. Vielleicht kann ich dir abends auch noch etwas stricken«, überlegte Traude laut.
Marcus war aufgesprungen. Er umarmte sie stürmisch und sagte: »Du bist die beste Mutter der Welt. Ich wünschte, ich wäre schon erwachsen und könnte Geld verdienen! Dann brauchtest du dich nicht mehr so zu plagen!«
»Und wohin werdet ihr fahren?« erkundigte sich Traude lächelnd, als sie ihn auf seinen Stuhl zurückgedrückt hatte.
»Schau... hier... ich habe es rot angezeichnet, damit ich es immer schnell wiederfinde!« verkündete er strahlend und tippte auf die Landkarte. Wie er beugte sich nun auch Traude darüber, um im selben Augenblick ungläubig auf die Stelle der Karte zu starren, die Marcus rot umrandet hatte. Nadelstichen gleich traf es sie, was sie da sah: bekannte Namen an kleinen Punkten, die Ortschaften kennzeichneten, und links unten zwei durch Querlinien markierte Seen!
»Ihr – ihr wollt dorthin?« Diese Frage brachte sie nur mit Mühe über die blaß gewordenen Lippen.
»Ja, und es sieht schon auf der Karte schön aus, nicht wahr? Die braune Farbe, das sind Berge. Je dunkler, desto höher.« Marcus strahlte. Der sonst so stille Junge war kaum wiederzuerkennen. Als er den staunenden Blick seiner Mutter auffing, wurde er ernst und beteuerte:
»Natürlich werde ich mich vorsehen und dir keine Sorgen machen, Mami. Ich kann es kaum glauben, daß mein größter Wunsch in Erfüllung gehen soll. Weißt du – ich hab die Berge schon immer mal sehen wollen – aus der Nähe. Hohe Berge, wo auf den Gipfeln nie der Schnee schmilzt und man bei klarem Wetter kilometerweit schauen kann.«
Wieder hatte Traude das Gefühl, von einem Schmerz zermalmt zu werden. Aber diesmal strahlte er nicht vom Leib her aus, sondern vom Herzen und von den Erinnerungen, die sie jäh überfielen.
»Was für eine Idee von euch, eine so lange Reise zu unternehmen! Da kann unterwegs eine Menge passieren«, sagte sie.
»Wir fahren doch mit dem Bus. Es wird bestimmt keiner von uns verlorengehen. Unser Klassenlehrer nimmt ja seine Frau mit, Mami.«
Traude kehrte ihrem Sohn den Rücken zu. Absichtlich verschloß sie sich der Bitte wie auch der Furcht, die in seinen Worten mitgeklungen hatten. »Warum macht ihr nicht an der See Ferien?« murmelte sie, während sie damit begann, ein warmes Abendessen zu machen.
Marcus jedoch redete nur noch von den Bergen, während er den Tisch deckte und sich auch sonst nützlich zu machen versuchte. Er war ein lieber, aufmerksamer Junge. Dieses wieder einmal festzustellen, trieb Traude heute keine Tränen der Rührung in die Augen. Im stillen grollte sie ihrem Sohn, weil er ahnungslos an etwas rührte, das sie unbedingt vergessen wollte.
Es traf sie dann wie ein Faustschlag, als er während des Essens gestand:
»Ich habe alle Fotos von den Bergen aus den Zeitungen geschnitten und aufbewahrt. Zwei Schachteln sind schon voll. Willst du sie mal sehen?«
Ehe sie ihn daran hindern konnte, war er schon aufgesprungen und ins Schlafzimmer gerannt. Mit glühenden Wangen und blitzenden Augen kehrte er dann mit seinen Schätzen zurück und breitete sie auf dem Tisch aus.
Traude wußte nicht, was sie sagen sollte. Zu deutlich und niederschmetternd war für sie die Tatsache, nichts von dem größten aller Wünsche ihres Sohnes gewußt zu haben.
»Ein Berg ist wie der andere«, sagte sie mit rauher Stimme.
»Aber – aber wenn man das wirklich erlebt – alles von nahem sieht…« Marcus hielt inne und lächelte verträumt. Auch das quälte Traude mehr als die Beschwerden, die sie manchmal wie aus heiterem Himmel überfielen.
»Es wird bestimmt nicht zu teuer, Mami«, redete Marcus eifrig weiter. »Ich krieg ja noch einmal Taschengeld und verdiene mir was dazu, indem ich für Frau Brauer und Herrn Köhler Besorgungen mache. Meinem Schulkameraden Ralf könnte ich bei den Rechenaufgaben helfen. Das brächte mir auch ein paar Mark ein.«
»Nichts da!« wehrte Traude mit ungewohnter Heftigkeit ab. »Kümmere dich um deine eigenen Hausaufgaben.«
»Und das Geld, das dann noch fehlt, Mami?«
Traude dachte an ihre Mitarbeiterin Ellen, die sich oft und gern vertreten ließ. Das bedeutete zwar mehr Überstunden, aber die Garantie dafür, daß Marcus’ Freude nicht getrübt wurde.
»Das Geld, das du brauchst, bekommst du von mir«, erklärte sie mit einem harten Unterton in der Stimme. »Ich habe nichts dagegen, wenn du für alte oder gebrechliche Menschen einkaufst oder ihnen sonstwie hilfst. Ich dulde es aber nicht, daß du dich dafür bezahlen läßt, Marcus!«
»Aber – wenn sie es unbedingt wollen?«
»Dann mach