Heidi kann brauchen, was sie gelernt hat
Von Johanna Spyri
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Über dieses E-Book
Auch der zweite Teil der bewegenden Heidi-Erzählung fesselt Groß und Klein bis zum Ende.
Die vorliegende Ausgabe wurde komplett sorgsam überarbeitet.
Johanna Spyri
Johanna Spyri (1827-1901) was a Swiss writer of novels and stories for children. Born in the countryside near Zurich, she spent summers near Chur in the beautiful Grisonian Rhine Valley, a place which she would turn toward for inspiration and as a setting for her fiction throughout her career. She married the lawyer Bernhard Spyri in 1852, moving with him to Zurich where she launched her writing career with a story about domestic violence titled “A Leaf on Vrony’s Grave.” She made a name for herself as a writer of primarily children’s fiction, and much of her work concerns itself with the daily realities of rural life. After the death of her husband and only son in 1884, she primarily devoted herself to charities, though she still wrote stories until the end of her life. She is remembered today as a pioneering woman, devoted feminist, and important figure in Swiss literary history.
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Buchvorschau
Heidi kann brauchen, was sie gelernt hat - Johanna Spyri
Reisevorbereitungen
Der freundliche Herr Doktor, der die Entscheidung getroffen hatte, dass Heidi wieder in ihre Heimat zurückgebracht werden müsse, ging eben durch die breite Straße dem Hause Sesemann zu. Es war ein sonniger Septembermorgen, so hell und lieblich, dass man hätte denken können, alle Menschen müssten sich darüber freuen. Aber der Herr Doktor schaute auf die weißen Steine zu seinen Füßen, so dass er den blauen Himmel über sich nicht einmal bemerkte. Es lag eine Traurigkeit auf seinem Gesicht, die man vorher nie gesehen hatte, und seine Haare waren viel grauer geworden seit dem Frühjahr. Der Doktor hatte eine einzige Tochter gehabt, mit der er seit dem Tod seiner Frau sehr eng zusammen gelebt hatte und die seine ganze Freude gewesen war. Vor einigen Monaten war ihm das blühende Mädchen durch den Tod entrissen worden. Seither sah man den Herrn Doktor nie mehr so recht fröhlich, wie er vorher fast immer gewesen war.
Nach einem Zug an der Hausglocke öffnete Sebastian mit großer Zuvorkommenheit die Eingangstür und machte alle Bewegungen eines ergebenen Dieners; denn der Herr Doktor war nicht nur der beste Freund des Hausherrn und dessen Töchterchen, durch seine Freundlichkeit hatte er sich, wie überall, alle Hausbewohner zu guten Freunden gemacht.
»Alles beim alten, Sebastian?« fragte der Herr Doktor wie gewohnt mit freundlicher Stimme und ging die Treppe hinauf, gefolgt von Sebastian, der nicht aufhörte, allerlei Zeichen der Ergebenheit zu machen, obschon der Herr Doktor sie eigentlich nicht sehen konnte, denn er kehrte ihm den Rücken zu.
»Gut, dass du kommst, Doktor«, rief Herr Sesemann dem Eintretenden entgegen. »Wir müssen noch einmal die Reise in die Schweiz besprechen, ich muss wissen, ob du weiter bei deiner Meinung bleibst, auch nachdem sich der Zustand vom Klärchen gebessert hat.«
»Mein lieber Sesemann, wie kommst du mir denn vor?« entgegnete der Angekommene, während er sich zu seinem Freund setzte. »Ich wünschte wirklich, dass deine Mutter hier wäre; mit ihr wird immer alles gleich klar und einfach und kommt auf den richtigen Weg. Mit dir aber ist ja kein Fertigwerden. Du lässt mich heute zum dritten Mal zu dir kommen, damit ich dir noch einmal dasselbe sage.
»Ja, du hast recht, die Sache muss dich ungeduldig machen, aber du musst doch begreifen, lieber Freund« – und Herr Sesemann legte seine Hand wie bittend auf die Schulter seines Freundes – »es fällt mir gar so schwer, dem Kind zu versagen, was ich ihm so fest versprochen hatte und worauf es sich nun monatelang Tag und Nacht gefreut hat. Auch diese letzte schlimme Zeit hat das Kind so geduldig ertragen, immer in der Hoffnung, dass die Reise in die Schweiz nahe sei und dass es seine Freundin Heidi auf der Alm besuchen könne; und nun soll ich dem guten Kind, das ja sonst schon so vieles entbehren muss, die langgehegte Hoffnung mit einem Mal wieder nehmen – das ist mir fast nicht möglich.«
»Sesemann, es muss sein«, sagte der Herr Doktor sehr bestimmt, und als sein Freund stillschweigend und niedergeschlagen dasaß, fuhr er nach einer Weile fort: »Bedenke doch, wie die Sache steht. Klara hat seit Jahren keinen so schlimmen Sommer gehabt, wie dieser letzte war. Von einer so großen Reise kann keine Rede sein, ohne dass wir die schlimmsten Folgen zu befürchten hätten. Dazu ist es nun schon September, da kann es ja noch schön sein oben auf der Alm, es kann aber auch schon sehr kühl werden.
Die Tage sind nicht mehr lang, und da oben bleiben und die Nächte verbringen kann Klara doch nun gar nicht. So hätte sie nur ein paar Stunden die sie oben bleiben kann. Der Weg von Bad Ragaz dort hinauf muss ja schon mehrere Stunden dauern, denn zur Alm hinauf muss sie unbedingt im Sessel getragen werden. Kurz, Sesemann, es kann nicht sein! Aber ich will mit dir hineingehen und mit Klara reden, sie ist ja ein vernünftiges Mädchen, ich will ihr meinen Plan mitteilen. Im kommenden Mai soll sie erst nach Ragaz kommen; dort soll eine längere Badekur unternommen werden, so lange, bis es hübsch warm wird oben auf der Alm. Dann kann sie dort von Zeit zu Zeit hinaufgetragen werden, da wird sie diese Bergpartien frisch und gestärkt, wie sie dann sein wird, ganz anders genießen, als sie es jetzt könnte. Du begreifst auch, Sesemann, wenn wir noch eine leise Hoffnung für den Zustand deines Kindes aufrechterhalten wollen, ist äußerste Schonung und die sorgfältigste Behandlung angebracht.«
Herr Sesemann, der bis dahin schweigend und mit dem Ausdruck trauriger Ergebung zugehört hatte, fuhr jetzt auf einmal hoch:
»Doktor«, rief er, »sag es mir ehrlich: Hast du wirklich noch Hoffnung auf eine Änderung dieses Zustandes?«
Der Herr Doktor zuckte die Achseln. »Wenig«, sagte er halblaut. »Aber komm, denk einmal einen Augenblick an mich, lieber Freund! Hast du nicht ein liebes Kind, das nach dir verlangt und sich auf deine Heimkehr freut, wenn du weg bist? Nie musst du in ein einsames Haus zurückkehren und dich allein an deinen Tisch setzen. Und dein Kind hat's auch gut daheim. Muss es auch vieles entbehren, was andere genießen können, so ist es in manch anderem auch vor vielen bevorzugt. Nein, Sesemann, ihr seid nicht so sehr zu beklagen, ihr habt es doch recht gut, so zusammen zu sein; denk an mein einsames Haus!«
Herr Sesemann war aufgestanden und ging nun mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, wie er immer zu tun pflegte, wenn ihn irgendeine Sache stark beschäftigte. Auf einmal stand er vor seinem Freund still und klopfte ihm auf die Schulter.
»Doktor, ich habe einen Gedanken: Ich kann dich nicht so sehen, du bist ja gar nicht mehr der alte. Du musst ein wenig aus dir heraus, und weißt du, wie? Du sollst die Reise unternehmen und Heidi auf ihrer Alm in unser aller Namen besuchen.«
Der Herr Doktor war sehr überrascht von dem Vorschlag und wollte sich dagegen wehren, aber Herr Sesemann ließ ihm keine Zeit. Er war so angetan und erfüllt von seiner neuen Idee, dass er den Freund unter den Arm fasste und zu dem Zimmer seines Töchterchens hinüberzog.
Der gute Herr Doktor war für die kranke Klara immer eine erfreuliche Erscheinung, denn er hatte sie von jeher mit einer großen Freundlichkeit behandelt und ihr jedes Mal, wenn er kam, etwas Lustiges und Erheiterndes zu erzählen gewusst. Warum er das jetzt nicht mehr konnte, wusste sie wohl und hätte ihn so gern wieder froh gemacht. Sie streckte ihm gleich die Hand entgegen, und er setzte sich zu ihr hin. Herr Sesemann rückte seinen Stuhl auch heran, und während er Klara bei der Hand fasste, fing er an von der Reise in die Schweiz zu reden und wie er sich selbst darauf gefreut hatte. Aber den wichtigsten Punkt, dass die Reise nun unmöglich mehr stattfinden könnte, erwähnte er kurz und beiläufig, denn er fürchtete sich ein wenig vor den kommenden Tränen. Dann ging er schnell auf den neuen Gedanken über und machte Klara darauf aufmerksam, wie gut es für ihren guten Freund wäre, wenn er diese Erholungsreise unternehmen würde.
Die Tränen waren wirklich aufgestiegen und schwammen in den blauen Augen, wie sehr sich auch Klara Mühe gab, sie niederzudrücken, denn sie wusste, wie ungern der Papa sie weinen sah. Aber es war auch hart, dass nun alles aus sein sollte, und den ganzen Sommer hindurch war die Aussicht auf die Reise zur Heidi ihre einzige Freude und Trost gewesen in all den langen, einsamen Stunden, die sie durchlebt hatte. Aber Klara war nicht gewohnt zu verhandeln, sie wusste recht gut, dass der Papa ihr nur versagte, was zum Bösen führen würde und darum nicht sein durfte. Sie schluckte ihre Tränen hinunter und wandte sich nun der einzigen Hoffnung zu, die ihr blieb. Sie nahm die Hand ihres guten Freundes und streichelte sie und bat flehentlich:
»Oh bitte, Herr Doktor, nicht wahr, Sie gehen zur Heidi, und dann kommen Sie, um mir alles zu erzählen, wie es ist dort oben ist und was Heidi macht und der Großvater und der Peter und die Geißen, ich kenne sie alle so gut! Und dann nehmen Sie mit, was ich Heidi schicken will, ich habe schon alles überlegt und auch etwas für die Großmutter. Bitte, Herr Doktor, tun Sie's; ich werde unterdessen auch gewiss Fischtran nehmen, soviel Sie nur wollen.«
Ob dieses Versprechen der Sache den Ausschlag gab, kann man nicht wissen, aber es ist anzunehmen, denn der Herr Doktor lächelte und sagte: »Dann muss ich ja wohl gehen, Klärchen, so wirst du uns einmal rund und fest, wie wir dich haben wollen, dein Papa und ich. Und wann muss ich abreisen, hast du das schon entschieden?«
»Am liebsten gleich morgen früh, Herr Doktor«, entgegnete Klara.
»Ja, sie hat recht«, fiel hier der Vater ein; »die Sonne scheint, der Himmel ist blau, es ist keine Zeit zu verlieren, für jeden solchen Tag, den du nicht auf der Alm genießen kannst ist es schade.«
Der Herr Doktor musste ein wenig lachen: »Nächstens wirst du mir vorwerfen, dass ich noch da bin, Sesemann; so muss ich wohl machen, dass ich fortkomme.«
Er wollte aufstehen, aber Klara hielt ihn fest; erst musste sie ihm ja noch alle Aufträge an Heidi übergeben und ihm noch so vieles erklären, was er genau betrachten und ihr dann davon erzählen sollte. Die Sendung an Heidi konnte ihr erst später zugeschickt werden, denn Fräulein Rottenmeier musste erst alles verpacken helfen; sie war aber gerade auf einer ihrer Wanderungen durch die Stadt, von denen sie nicht so schnell zurückkehrte.
Der Herr Doktor versprach, alles genau auszurichten, die Reise, wenn nicht morgen früh, so doch möglichst noch im Laufe des folgenden Tages anzutreten und dann bei seiner Heimkehr genaustens Bericht zu erstatten über alles, was er gesehen und erlebt haben würde.
Die Diener eines Hauses haben oft eine merkwürdige Gabe, die Dinge zu erfassen, die im Haus ihrer Herren vor sich gehen, lange bevor diese dazu kommen, sie ihnen mitzuteilen. Sebastian und Tinette mussten diese Gabe in hohem Grad besitzen, denn eben, als der Herr Doktor, von Sebastian begleitet, die Treppe hinunterging, trat Tinette ins Zimmer der Klara ein, die nach dem Mädchen geklingelt hatte.
»Holen Sie diese Schachtel voll ganz frischer, weicher Kuchen, wie wir sie zum Kaffee haben, Tinette«, sagte Klara und deutete auf die Schachtel, die schon lange bereitgestanden hatte. Tinette erfasste die gezeigte Schachtel an einer Ecke und ließ sie verächtlich an ihrer Hand baumeln. In der Tür sagte sie schnippisch:
»Es ist wohl der Mühe wert.«
Als der Sebastian unten mit gewohnter Höflichkeit die Tür aufgemacht hatte, sagte er mit einem Bückling:
»Wenn der Herr Doktor wollten so freundlich sein und dem Mamsellchen auch einen Gruß vom Sebastian bestellen.«
»Ah, sieh da, Sebastian«, sagte der Herr Doktor freundlich; »so wissen Sie denn auch schon, dass ich reise?«
Sebastian musste ein wenig husten.
»Ich bin ... ich habe ... ich weiß selbst nicht mehr recht ... ach ja, jetzt erinnere ich mich: Ich bin eben zufällig durch das Esszimmer gegangen, da habe ich den Namen des Mamsellchens aussprechen gehört, und wie es so