Eiskinder I: Mysterythriller
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Eiskinder I - Alfred J. Schindler
Eiskinder I
Eiskinder I
- DIE VERWANDLUNG -
Mysterythriller
von
Alfred J. Schindler
VORWORT
Waldhütte, unsere winzig kleine Ortschaft, die in den Chiemgauer Alpen liegt, befindet sich direkt an der Deutschen Alpenstraße. Sie besteht seit etwa einhundertzwanzig Jahren. Die Ur- und Ururenkel der eigentlichen Gründer, die heute unsere Dorfältesten darstellen, sind sehr stolz auf das gepflegte, schmucke Dörfchen. Ihre Ahnen waren arme Bauern, die sich Ziegen hielten und davon auch hauptsächlich lebten. Man kann die Chronik von Waldhütte in der kleinen Bibliothek, die sich in unserem Gemeindehäuschen befindet, nachlesen.
Und vor genau fünfzig Jahren wurde unser wunderschöner Groschensee, der etwas versteckt zwischen dichten Wäldern in einer Mulde liegt, künstlich angelegt. Er grenzt direkt an einige alte Häuser, die am Rande unserer Ortschaft liegen. Am hinteren, westlichen Ende des Sees ergießt sich ein kleiner Wasserfall in ihn, und am anderen Ende, in östlicher Richtung, liegt der Abfluss des Gewässers, das sich in einem kleinen Bach fortsetzt. Schon damals gab es findige Ingenieure, die sich den Wasserfall zunutze machten. Von den Touristen, die besonders im Hochsommer zu uns kommen, ahnt niemand, dass es sich bei unserem Groschensee um keinen natürlichen See handelt.
Jedenfalls sind wir, meine Frau Brunhilde und ich, der festen Überzeugung, dass nicht nur die Ortschaft Waldhütte, sondern vielmehr der See der eigentliche Anziehungspunkt für die Urlauber ist. Die Dorfältesten wollen davon aber nichts hören. Für sie ist der Ort - ihr Schmuckstück - das Vorrangige. Versteht sich. Aber das würde sich in nächster Zeit...
... ganz gewaltig ändern...
01 Mittwoch, 15. Dezember
Die Meteorologen haben einen harten, unbarmherzigen Winter prophezeit. Mir persönlich macht diese Eiseskälte nicht viel aus, aber es soll ja Leute geben, die sich vor der klirrenden Kälte fürchten. Das Weihnachtsfest steht vor der Türe, und Sabine, unsere kleine Tochter, die erst kürzlich ihren siebten Geburtstag feierte, hat sich vom Christkind Schlittschuhe gewünscht. All ihre Freundinnen und Freunde besitzen neue Schlittschuhe, wie sie beharrlich behauptet, und so kommt es, dass ihr Wunsch sicherlich in Erfüllung gehen wird.
„Günter, weißt du zufällig, wo meine gefütterten Winterstiefel sind?"
Sie ist unten im Flur, und ich befinde mich gerade an meinem Schreibtisch im Obergeschoss und arbeite an einem neuen Werbeentwurf.
„Woher soll ich das denn wissen?", schreie ich zurück.
Ich fühle mich in meiner Arbeit gestört und stehe von meinem Stuhl auf. Langsam gehe ich die Treppe hinunter.
„Weißt du, wann Sabine heute von der Schule zurückkommt, Brunhilde?"
„Um dreizehn Uhr dreißig. Vorausgesetzt, der Bus ist pünktlich. Hoffentlich knallt diese alte Karre nicht irgendwann gegen einen Felsen, wenn sie die engen Straßen zwischen Ruhpolding und Waldhütte hinauf- und hinunterfährt."
Ich versuche, sie zu beruhigen: „Der Wagen ist sicherlich gut gewartet, Brunhilde."
„Mütter machen sich nun mal mehr Sorgen als die Väter", antwortet sie.
„Was du dir immer einbildest! Natürlich mache ich mir um Sabine genauso Sorgen wie du! Hast du deine Schuhe gefunden?"
„Ja", erklärt sie gedämpft.
„Wo waren sie denn?"
„Hier, beim Ofen", antwortet sie kleinlaut.
Sabine erscheint endlich. Es ist schon kurz vor vierzehn Uhr. Übermütig kommt sie zur Türe herein. Sie ist gut drauf und erzählt sofort die brandaktuellen Neuigkeiten von der Schule:
„Papa, unsere Lehrerin ist krank geworden!" (Wie sie sich freut!)
„Was fehlt ihr denn, Sabine?", frage ich neugierig.
„Sie hat eine starke Erkältung, und deswegen fällt der Unterricht morgen und am Freitag aus."
Leise sage ich zu ihr: „Wie schön für dich! Somit hast du die nächsten zwei Tage schulfrei!"
Brunhilde mischt sich ein: „Was, die Schule fällt aus?"
„Ja, Mama." Sabine blinzelt mich verschwörerisch an. Und bevor Brunhilde noch etwas sagen kann, fragt mich unsere Tochter:
„Papa, gehen wir heute zum See?"
„Denkst du denn, dass er schon zugefroren ist?"
„Wir können es ja probieren!"
„Ihr wollt zum See hinunter? Da komme ich mit!" Sagt Brunhilde.
„Sollen wir unsere Schlittschuhe mitnehmen, Papa?"
„Ja, sicher. Ohne sie können wir ja auf dem Eis schlecht fahren!"
„Kriege ich die neuen Schlittschuhe schon heute?" Fragt mich unser Goldstück lauernd.
Ich antworte unverfänglich: „Was fragst du mich? Das Christkind ist dafür zuständig!"
Sie schmollt: „Blödsinn. Von wegen Christkind. Du hast sie doch letztens in Bad Reichenhall gekauft, als wir zusammen einkaufen waren."
Ich stelle mich dumm: „Nicht, dass ich wüsste!"
Wir lachen. Aber Sabine versucht trotzdem, uns weich zu klopfen. Zuerst bittet sie, doch dann fordert sie:
„Ich will sie aber jetzt sofort!"
Brunhilde antwortet: „Hör endlich auf, uns zu nerven! Du kriegst die Schlittschuhe erst am Heiligen Abend!"
Sabine motzt noch ein wenig und resigniert schließlich.
Nachdem wir gegessen und uns warm eingepackt haben, geht es auch schon los. Unseren Jeep brauchen wir für dieses kurze Stück nicht, denn es sind höchstens sechs- bis siebenhundert Meter bis zum See.
Zu unserem Groschensee!
Als wir ins Freie treten, schlägt uns eine eisige Kälte entgegen, allerdings schneit es noch nicht. Durch den starken Wind, der momentan vorherrscht, empfinden wir die Minustemperaturen noch stärker, als sie wirklich sind. Am liebsten würde ich gleich wieder umkehren und mich an meinen Schreibtisch setzen, aber versprochen ist versprochen. Sabine kennt da keine Gnade. Die Schlittschuhe baumeln über unseren Schultern, und wir marschieren sportlich drauf los.
„Ich finde es gar nicht kalt, Papa!" Sie lächelt mich von unten an.
„Kinder frieren prinzipiell nicht so sehr wie Erwachsene", antworte ich ihr.
„Und wieso nicht?", will sie wissen.
„Es hängt mit der Fettschicht zusammen."
Sie begehrt auf: „Willst du damit sagen, dass ich fett bin?"
„Aber nein."
„Das hast du aber gesagt."
Unsere kleine Diskussion verebbt, als wir auf dem Waldweg zwei pubertierende Jungen aus dem Dorf treffen, die auch Richtung Groschensee unterwegs sind. Der eine sieht aus wie ein Streuselkuchen, mit all seinen Pickeln im Gesicht. Der andere ist ein großer, schlaksiger Bursche. Auch sie wollen Schlittschuh-laufen, und wir gehen den Rest des Weges zusammen. Die Kinder kennen sich offensichtlich gut. Einer der jungen Burschen erklärt gerade Sabine, die ihm erzählt hat, dass sie in diesem Jahr zum ersten Mal zum Schlittschuhlaufen gehen werde, dass der See bereits vollständig zugefroren sei. Es würde diesbezüglich also keinerlei Probleme geben.
Als wir an unserem herrlichen See ankommen, der eine wunderbare, spiegelglatte Fläche zeigt und etwa siebenhundert Meter lang und dreihundert Meter breit ist, (das Spiegelbild des seitlich daneben liegenden Felsmassivs kann man im See deutlich erkennen), sehen wir, dass etliche kleine Schilder von der Gemeindever-waltung angebracht wurden. Auf ihnen steht mit dicken Lettern, dass der See ab heute zum Betreten freigegeben ist.
Wir ziehen unsere Schlittschuhe an und Sabine mosert, dass sie immer noch mit diesen alten „Mistdingern", wie sie sie nennt, herumfahren muss. Unsere Stiefel legen wir am Rande des Sees, direkt unter einem kleinen Gebüsch, ab. Sie zischt mit den beiden Jungen los, als ob sie das gesamte Jahr über gefahren wäre. Sie nehmen sie in die Mitte. Brunhilde und ich stehen mit wackeligen Beinen auf dem fürchterlich glatten Eis und wagen zaghaft die ersten Schritte.
„Es ist doch seltsam, Brunhilde, dass man es nach acht, neun Monaten wieder fast verlernt hat."
„Da hast du Recht." Sie dreht die erste, unsichere Runde. Es ist ein Bild für Götter...
Ganz hinten, am westlichen Seeufer, laufen noch etwa zehn, fünfzehn weitere Personen Schlittschuh. Sicherlich sind es Kinder, die so ausgelassen herumtollen, überlege ich. Man kann es von hier aus nicht erkennen. Die Erwachsenen müssen schließlich um diese Uhrzeit arbeiten.
Nach einer halben Stunde habe ich persönlich fürs erste Mal genug. Ich schwitze innerlich und friere zugleich. Ich laufe auf immer noch staksigen Beinen über den gesamten See ostwärts, hin zu unseren Stiefeln. Brunhilde folgt mir. Sabine kann ja noch eine Zeitlang mit den anderen Kindern herumlaufen, sage ich mir. Am Ufer angekommen, holen wir unsere Stiefel aus dem Gebüsch und setzen uns an den Rand des Sees, um die Schuhe zu wechseln. Aber es bleibt bei dem Versuch.
Plötzlich kommen die beiden jungen Burschen, die Sabine in ihre Mitte genommen hatten, auf ihren Schlittschuhen zu Brunhilde und mir. Sie haben es offensichtlich sehr eilig. Der eine Junge - er ist völlig außer Atem - steht irgendwie unschlüssig am Rande des Sees auf dem Eis und sagt schüchtern zu mir:
„Herr Münster, Sabine ist verschwunden."
Ich schaue ihn überrascht von unten an und sage: „Wie, verschwunden?"
„Sie war plötzlich weg."
Brunhilde, die ungefähr zehn Meter von uns entfernt ist, kommt hinzu und fragt neugierig: „Wo ist denn Sabine, Jungs?"
„Frau Münster, ihre Tochter ist plötzlich verschwunden", erklärt der Knabe ohne Pickel.
Sie ist sofort in Hektik: „Aber sie kann doch nicht einfach so verschwunden sein!"
Ihr Blick ist entsetzt. Sie hält sich die Hand über die Augen und schaut angestrengt über den See. Der andere Junge, der mit den Pickeln, stottert:
„Sie war auf einmal weg. Einfach so."
„Musste sie austreten, Junge?", will Brunhilde von ihm wissen.
„Nein, das hätten wir gemerkt."
„Ist das Eis gebrochen?", frage ich ihn.
„Nein, das Eis ist absolut stabil, Herr Münster."
Brunhilde ist panisch: „Wir müssen sofort nach ihr suchen!"
Ohne auf uns zu warten, läuft sie los. Wir müssen den gesamten Weg zurück über den See, in westliche Richtung. Genau dort befinden sich, wie gesagt, die restlichen Kinder. Brunhilde rudert wild mit den Armen, aber sie verliert trotzdem das Gleichgewicht und knallt auf das harte Eis. Dabei flucht sie laut und ausgiebig. Sie ist aber sofort wieder auf den Beinen und schreit uns zu:
„Kommt!"
Schnell schließe ich wieder die Bänder meiner Schlittschuhe und eile Brunhilde und den beiden Jungen, soweit es mir möglich ist, hinterher. Wir durchqueren die gesamte Fläche, links und rechts, vor und wieder zurück, rufen nach Sabine, und schließlich rennt Brunhilde (mit ihren Schlittschuhen) über die anliegenden, gefrorenen Wiesen. Dabei brüllt sie wie besessen nach Sabine. Sie verschwindet zwischen Tannen und dürrem Gestrüpp und versucht, ihr einziges Kind zu finden.
Jedoch ohne Erfolg.
Sabine bleibt verschwunden.
Ich fahre den gesamten See noch einmal ab. Völlig aufgelöst und körperlich als auch nervlich ziemlich am Ende, kommt Brunhilde schließlich nach einer knappen Viertelstunde zurück zu uns auf die Eisfläche. Sie starrt mich mit roten, verheulten Augen an und sagt:
„Günter, wir müssen sofort die Polizei verständigen!"
Ich nicke und ahne, dass das Verschwinden unseres Kindes sehr beunruhigend ist. Schon seit der üblen Nachricht von den beiden Jungen habe ich mich gefragt, wie es möglich sein kann, dass ein Kind - inmitten von etlichen anderen Kindern - so einfach abhanden kommen kann. Normalerweise kann es ja so etwas überhaupt nicht geben. Außer, sie wäre ins Eis eingebrochen. Aber dem ist ja nicht so.
Wir hatten sie eigentlich immer im Auge.
Aber eben nur eigentlich.
02
Hin- und her gerissen überlegen wir Beide: Sollen wir zur Polizeistation ins Dorf laufen, oder wollen wir doch weitersuchen? Wir starren uns unschlüssig an. Unsere Handys liegen zu Hause - eben dort, wo sie nicht hingehören. Es ist zum aus der Haut fahren! Wir kommen in der allgemeinen Hektik auch nicht auf die Idee, irgendein Schlittschuh laufendes Kind zu fragen, ob es ein Handy bei sich hat. Die beiden Jungen erklären uns (auch sie sind völlig überfordert), dass sie zusammen mit den anderen Kindern weiter nach Sabine suchen werden. Wir überlegen und überlegen, kommen aber zu keiner Lösung des Falles. Nirgends in der Nähe des Sees befindet sich ein Toilettenhäuschen, eine Grillbude oder sonst etwas, was nach einem Anhaltspunkt aussehen würde.
Rings um den See ist - nichts.
Einfach nichts.
Zu sehen ist nur der düstere, nackte Wald, Unmengen von kahlen Gebüschen und einige kleine, private Zufahrtswege, sowie ein alter Jägersteig. Aber auf diesem wird sie ja wohl nicht sitzen.
„Komm, Brunhilde. Lass uns zur Polizei gehen!"
Sie schaut mich völlig verwirrt an und antwortet: „Ja. Das dürfte wohl das Beste sein."
„Wir müssen sie noch heute finden!"
Ich hätte es besser nicht gesagt, denn jetzt ist sie natürlich noch mehr in Sorge: „Ja, es stimmt. Sie würde in der kommenden Nacht unweigerlich erfrieren."
Wir stehen immer noch am Rande des Sees und schlottern entsetzlich. Wahrscheinlich ist es der Schock, der unsere Herzen zusammenkrampfen lässt. Plötzlich höre ich ein leises, sirrendes Geräusch.
„Hörst du das auch, Brunhilde?"
„Was denn?"
„Dieses hohe, pfeifende Geräusch!"
Angestrengt schaut sie sich um: „Ich höre nichts."
„Da ist es wieder! Hör doch!"
„Ich höre nichts! Verflucht noch mal! Wir müssen zur Polizei!"
Schnell entledigen wir uns der Schlittschuhe und schlüpfen in unsere Stiefel. Sabines Schuhe lassen wir dort liegen. Dann laufen wir los. Die Polizeistation liegt inmitten des Ortes. Wir nehmen eine Abkürzung über einen der Zufahrtswege zum See in nordöstliche Richtung, und laufen gehetzt nebeneinander her. Furchtbare Gedanken durchrasen unsere Gehirne. Natürlich muss man von allem Möglichen ausgehen. Aber es ist uns trotzdem unerklärlich, wie sie plötzlich verschwinden konnte.
Einfach so.
Nach etwa zehn Minuten erreichen wir völlig außer Atem die Station. Unser Dorfpolizist, Anton Hintergruber, sitzt gerade - sichtlich gemütlich - an seinem neuen Computer und versucht verzweifelt, damit zurechtzukommen. Er blickt uns völlig überrascht an, als wir - ohne anzuklopfen, wie das normalerweise so üblich ist - in sein Büro hineinplatzen. Brunhilde überschüttet ihn ohne Vorwarnung mit den wichtigsten Daten:
„Herr Hintergruber! Sabine ist beim Schlittschuhlaufen verschwunden! Sie war inmitten einiger Kinder, und wir waren ja auch dabei! Sie ist von einer Sekunde auf die andere weg gewesen! Sie holt tief Luft und redet weiter: „Es ist jetzt genau eine Stunde her!
Behäbig schaut er auf seine Armbanduhr und sagt: „Es ist also jetzt eine Stunde her. Machen Sie sich mal keine Sorgen, nicht wahr?"
Sie schreit ihn an: „Wenn es Ihr Kind wäre, würden Sie ganz anders reden!"
Er versucht zwar, sie zu beruhigen und faselt etwas, was sich so ähnlich anhört wie: „So kenne ich Sie ja gar nicht!" Aber es gelingt ihm natürlich nicht, sie zu beruhigen, zu erreichen. Ich versuche, ein wenig zu vermitteln, aber Brunhilde führt sich auf wie eine Furie.
„Sofort unternehmen Sie jetzt etwas!", keift sie ihn an.
„Frau Münster, wenn ich wegen jedem Kind, das gerade mal eine Stunde verschwunden ist, eine Suchaktion einleiten würde, wäre die Polizei nur noch am Rotieren, nicht wahr? Hatten Sie einen Streit mit ihr, bevor sie verschwand?"
„Nein! Wir hatten keinen Streit! Sie leiten jetzt sofort eine Suchaktion ein, oder ich mache Sie für alle Zeiten fertig!", kreischt Brunhilde.
Mir ist klar, dass der junge Beamte in gewisser Weise Recht hat, aber er muss auch uns verstehen! Wo soll Sabine denn sein? Ich schäme mich aber trotzdem fast für Brunhilde. Der Ton macht die Musik! Sabine ist noch nie von uns weggelaufen, denn es gab überhaupt keinen Grund dafür. Sie hat ein gutes Elternhaus, und es fehlt ihr an nichts. Da sind wir uns sicher.
Absolut sicher!
Der Beamte stellt uns noch einige blödsinnige Fragen (zumindest empfinden wir sie als solche), und am Schluss seiner Vernehmung will er auch noch wissen, wie viel Geld Sabine dabei hatte.
Er sagt: Hatte!
Nicht hat!
Brunhilde starrt ihn mit weit aufgerissenen Augen an: „Denken sie denn, dass unser Kind verreisen wollte? Was seid ihr Beamten doch für ein hirnrissiges Pack!"
„Noch so eine Beleidigung, und Sie bekommen große Schwierigkeiten, nicht wahr?", knurrt er ungehalten.
Sie verändert ihre Tonlage ein wenig und fängt nun an, zu bitten: „Helfen Sie uns. Bitte, helfen Sie uns. Wenn wir das Kind heute nicht finden..."
„Ja, ich verstehe Sie doch. Ich leite eine Suchaktion ein."
Er macht sich endlich ans Telefon und schildert einem seiner Vorgesetzten in Bad Reichenhall die etwas brenzlige Lage. Nach einem langen, langen Gespräch strahlt er uns an und sagt:
„Die Aktion wird sofort gestartet."
„Wie viele Beamte werden suchen?", frage ich ihn ungeduldig.
„Das kann ich nicht genau sagen. Ich schätze aber schon, dass der Einsatzwagen voll ist. Es werden so ungefähr zehn bis zwölf Leute sein."
„Zehn bis zwölf Leute, wiederhole ich. „Auch Hunde?
„Moment."
Er ruft seinen Vorgesetzten noch einmal an und lacht uns an: „Zwei Schäferhunde sind auch im Einsatz."
„Gut. Zwei Hunde. Die bringen bestimmt mehr als zwölf Beamte", sage ich und schaue ihn zweideutig an.
Brunhilde klagt: „Wie kannst du in dieser Situation Witze machen?"
„Ich mache keine Witze. Das ist mein völliger Ernst!"
Der Beamte ist frustriert. Jedenfalls scheint es so: „Das ist also Ihr Ernst, Herr Münster, nicht wahr?" Seine Stirn liegt in Falten, während er vor uns in seinem bequemen Stuhl sitzt und raucht.
„Ja. Das ist es."
Hintergruber geht auf meine Feststellung nicht weiter ein und sagt zu Brunhilde: „Jetzt beruhigen Sie sich mal. Sie werden sehen, dass unsere Leute Sabine finden werden."
„Ich hoffe, dass Sie uns im Nachhinein keine Rechnung schicken werden!", frotzele ich ihn noch an, bevor wir die Station verlassen. Im selben Moment überlege ich, ob ich nicht ein bisschen zu weit gegangen bin.
„Sie meinen, wegen der Suchaktion?"
„Ja. Es sollte nur ein Scherz sein."
Er meint: „Die Hunde brauchen ein Kleidungsstück oder etwas, was Sabine gehörte (er spricht schon wieder in der Vergangenheit, dieser Affe!), „damit sie Witterung aufnehmen können, nicht wahr?
„Ja, Herr Hintergruber. Sabines Stiefel liegen ja noch am See."
Plötzlich starrt uns Hintergruber an und sagt: „Es könnte sich natürlich auch um eine Entführung handeln, nicht wahr?"
Völlig perplex antworte ich: „Eine Entführung? Aber wir sind doch keine reichen Leute!"
„Wer weiß, wer weiß", antwortet der kleine, untersetzte Beamte.
Brunhilde flüstert: „Vielleicht denkt irgendein Irrer, dass wir Geld haben."
„Das ist doch lächerlich", gebe ich zurück.
Als wir endlich draußen stehen, zünde ich mir eine Zigarette an, und Brunhilde will auch eine haben. Ich sage zu ihr:
„Dieser Typ sitzt das ganze Jahr in diesem Häuschen und tut nichts. Hier passiert ja auch nie etwas. Und wenn man ihn mal braucht, wird er anmaßend."
„War ich etwa zu anmaßend?"
„Nun ja. Es hat genügt."
„Ich könnte ihn... Und sie fährt fort: „Die Polizei wird also für den Fall, dass Sabine heute Nacht nicht gefunden wird, auch eine Entführung in Betracht ziehen.
Sie sieht sehr unglücklich aus.
Da wir innerlich mehr als beunruhigt sind, beschließen wir, zum See zurückzulaufen. Es ist inzwischen schon fast sechzehn Uhr. Um siebzehn Uhr wird es dunkel. Auf dem Weg dorthin jammert Brunhilde:
„Es kann ja sein, dass sie mittlerweile schon wieder aufgetaucht ist!"
Entsetzt schaue ich sie an, da ich ganz in Gedanken war, und sage: „Aufgetaucht?"
„Ich meine natürlich: Zum Vorschein gekommen!"
„Ja, ja, natürlich, antworte ich geistesabwesend. Wie hatte sie das mit dem „auftauchen
wohl gemeint? Ich frage sie lieber nicht...
Zu viele Dinge gehen durch meinen Kopf. Wo könnte sie wohl sein? Sie muss doch irgendwo sein! Auf dem See ist sie nicht. Das steht schon einmal fest. Es gab aber keinerlei Risse im Eis, oder gar ein Loch! Sie muss also logischerweise irgendwo am See sein.
Oder ist sie im Wald?
Oder am Wasserfall!
Aber was würde sie am Wasserfall wollen? Oder ist sie in den kleinen Bach gefallen? Nein. Unmöglich. Denn der liegt genau auf der anderen, östlichen Seite des Sees. Und als sie verschwand, war sie auf der westlichen Seite!
„Komm, Brunhilde. Wenn sie noch nicht da ist, schauen wir am Wasserfall."
„Ja, das wäre noch eine Möglichkeit."
Zuvor jedoch laufen wir zu der Stelle, an der ihre Stiefel liegen. Als ich mich über das Gebüsch beuge, stelle ich erstaunt fest, dass sie verschwunden sind. Sie muss in unserer Abwesenheit hier gewesen sein und die Schlittschuhe gegen die Schuhe getauscht haben! Ist sie etwa...
„Brunhilde, die Schuhe sind weg. Sie muss nach Hause gelaufen sein." Ich atme tief durch.
Und ich spüre, wie sehr Brunhilde nach dem Strohhalm greift, den ich ihr zugeworfen habe. Sie antwortet: „Natürlich! Sie ist nach Hause gegangen! So einfach ist das!"
„Du gehst jetzt heim und schaust, ob sie da ist. Wenn du sie dort antriffst, kommst du aber bitte trotzdem wieder zurück, damit wir die Suchaktion abblasen können. Und rufe die Polizei an! Wenn sie nicht zu Hause ist, bringst du bitte eines ihrer Stofftiere mit. Ich gehe alleine zum Wasserfall, und suche sie dort. Einverstanden?"
„Ja. Ich bin mir fast sicher, dass sie zu Hause ist. Dass wir nicht schon früher darauf gekommen sind?" Ich sehe, wie ihre Augen flackern.
Sie hofft...
Brunhilde macht sich umgehend auf den Rückweg. Ich rufe ihr noch nach, dass sie darauf gefasst sein muss, Sabine daheim nicht anzutreffen. Aber sie hört mich nicht mehr. Sie ist schon zu weit entfernt. Ich überlege: Falls Sabine nicht zu Hause ist, dann spielt sie am Wasserfall. Aber so recht kann ich nicht daran glauben. Schließlich ist unsere Kleine nicht schwachsinnig! Außerdem habe ich ein ganz fürchterliches Gefühl bei dieser Sache. Eine gewisse Vorahnung treibt mir trotz der Eiseskälte dicke Schweißperlen auf die Stirn.
Ich mache mich auf den Weg und betrachte die Szene: Die Kinder laufen völlig normal und ohne Hektik herum. Suchen sie denn nicht nach Sabine? Aber man kann es ihnen nicht verdenken: Wo sollen sie denn suchen?
Ja, wo?
Es sind inzwischen sicherlich zwanzig oder mehr Kinder auf dem Eis. Die beiden Jungen, die uns, zusammen mit Sabine, zum See begleitet hatten, kommen auf ihren Schlittschuhen auf mich zu. Der Schlaksige sagt:
„Wir haben sie nicht gefunden."
Der andere steht betreten daneben und schweigt.
Mein Gesichtsausdruck entgleist: „Ihr habt sie also nicht gefunden?"
„Nein, Herr Münster."
„Wie heißt du eigentlich, Junge?", frage ich ihn.
„Ich bin der Dieter. Und das ist mein Freund Ludwig."
„So, so", antworte ich.
Ich frage: „Kennt ihr Sabine gut?"
„Ja, wir sind zwar einige Klassen über ihr, aber wir treffen uns immer auf dem Schulhof."
Mir geht plötzlich folgender Gedanke durch den Kopf: Ist es nicht komisch, dass sich vierzehnjährige Buben für ein siebenjähriges Mädchen interessieren? Ich fahre mir mit der klammen Hand übers Gesicht und sage:
„Habt ihr auch dieses seltsame Geräusch gehört?"
Der Pickelige meint: „Welches Geräusch denn?"
„Es kam vom See her. Vorher, als sich meine Frau und ich auf den Weg zur Polizei machten."
Ludwig schaut seinen Freund Dieter an (dieser hat furchtbar abstehende Ohren) und fragt ihn: „Hast du ein Geräusch gehört?"
„Nein. Habe ich nicht."
Ich erkläre: „Es war ein sehr hoher Ton. Irgendwie pfeifend und schrill."
Sie schütteln die Köpfe.
„Aber ich habe es ganz deutlich vernommen! Fahre ich beharrlich fort. „Man konnte es sehr gut hören!
Genau in der Sekunde, als ich versuchen möchte, den beiden klar zu machen, dass ich mir die Sache mit dem Ton nicht eingebildet hatte, hört man plötzlich diesen schrillen, singenden Klang. Überrascht schauen wir uns an. Sie haben es also jetzt doch gehört! Fährt es mir durch den Kopf. Ich habe es mir nicht eingebildet. Was ist das für ein ungewöhnliches Geräusch? Ich kann es bei aller Einbildungskraft nirgends zuordnen.
„Hört ihr es?"
Ein einstimmiges „Ja" ist die Folge. Sie hören es also auch. (Wie gesagt.) Und sie schauen völlig verblüfft.
„Was kann das sein, Jungs?"
„Keine Ahnung."
Und plötzlich sagt der Pickelmann Ludwig: „Es hört sich an, als ob es aus dem See käme."
„... aus dem See", wiederhole ich fast andächtig.
Ja, es stimmt, was er sagt. Es klingt ganz so, als ob es von unten kommen würde.
Von unten!
Ich verabschiede mich von den beiden Jungen,