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Sylter Sommerlicht: Romantik-Krimi
Sylter Sommerlicht: Romantik-Krimi
Sylter Sommerlicht: Romantik-Krimi
eBook459 Seiten6 Stunden

Sylter Sommerlicht: Romantik-Krimi

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Über dieses E-Book

Die Passagiere des luxuriösen Kreuzfahrtschiffes »MS Eurora« erfreuen sich einer traumhaften Sommernacht vor der Küste Sylts, da ertönt plötzlich das schrille Signal »Mann über Bord«. Der wohlhabende Unternehmer Lars Larson wird an Bord vermisst, die Kripo steht zunächst vor einem Rätsel. Ein weiterer mysteriöser Todesfall ereignet sich auf der Insel und die Mordkommission tappt trotz intensiver Ermittlungen weiter im Dunkeln. Treibt hier ein eiskalter Mörder sein böses Spiel?
SpracheDeutsch
HerausgeberGMEINER
Erscheinungsdatum13. März 2019
ISBN9783839258880
Sylter Sommerlicht: Romantik-Krimi

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    Buchvorschau

    Sylter Sommerlicht - Christine Rath

    Zum Buch

    Mord ahoi »Mann über Bord«! Erschrocken hören nicht nur Lisa und Sven, sondern alle Passagiere des luxuriösen Kreuzfahrtschiffes »MS Eurora«, die sich auf ihrem Weg nach Sylt an der herrlichen Sommernacht erfreuen, das schrille Signal. An Bord wird der wohlhabende Unternehmer Lars Larson aus Hamburg vermisst. Ist er betrunken von Bord gefallen, wie man zunächst nach einer dramatischen, aber erfolglosen Suchaktion annimmt? Oder hat er Selbstmord begangen? Die Kriminalpolizei steht vor einem Rätsel. Die Ermittlungen der Kripo laufen auf Hochtouren, als auch noch eine ominöse Entführung öffentlich wird. Dass es sich hierbei keineswegs um ein menschliches Wesen handelt, tut der hohen Forderung der Entführer keinen Abbruch.

    Nachdem ein weiterer, äußerst seltsamer Todesfall auf der Insel bekannt wird, tappt die Mordkommission völlig im Dunkeln. Treibt hier etwa ein hinterhältiger Mörder sein böses Spiel?

    Die Autorin Christine Rath, Jahrgang 1964, lebt und schreibt am Bodensee, dem »Schwäbischen Meer«, wo sie mit ihrer Familie ein kleines Hotel betreibt. Hier findet sie durch die vielen interessanten Begegnungen und Situationen mit anderen Menschen neue Ideen für ihre Romane. Ihre Wurzeln hat sie jedoch an der Ostsee und auf der Insel Sylt, auf der ihre Eltern einige Zeit lebten. An beiden Meeren findet sie in der zauberhaften Natur Ruhe und Erholung.

    Ihr Ehemann Dieter Jaeschke wurde an der Nordseeküste geboren, hat zunächst eine Ausbildung zum Reedereikaufmann sowie Schiffmakler absolviert und war danach ein Jahr lang als Seespediteur in London tätig. Anschließend wechselte er zur Polizei nach Berlin und studierte dort an der Hochschule für Wirtschaft und Recht. Insgesamt war Dieter Jaeschke 35 Jahre lang bei der Kripo in Berlin tätig. Inzwischen lebt er seit fünf Jahren am Bodensee.

    Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag

    (Christine Rath):

    Mondblumenrätsel (2020)

    Kastanienfeuer (2017)

    Windflüstern (2017)

    Eisblumenglitzern (2016)

    Heidezauber (2016)

    Maiglöckchensehnsucht (2015)

    Sanddornduft (2014)

    Wildrosengeheimnisse (2013)

    Butterblumenträume (2012)

    Impressum

    Personen und Handlung sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

    sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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    Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

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    info@gmeiner-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    2. Auflage 2020

    Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

    Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

    Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

    unter Verwendung eines Fotos von: © Jenny Sturm / shutterstock.com

    Druck: CPI books GmbH, Leck

    Printed in Germany

    ISBN 978-3-8392-5888-0

    Widmung

    Für unsere Kinder

    Am Strande

    Vorüber die Flut.

    Noch braust es fern.

    Wild Wasser und oben

    Stern an Stern.

    Wer sah es wohl,

    O selig Land,

    Wie dich die Welle

    Überwand.

    Noch braust es fern.

    Der Nachtwind bringt

    Erinnerung und eine Welle

    Verlief im Sand.

    Rainer Maria Rilke

    1. Kapitel

    Briefe

    Lisa

    Ach, wie gut das tut! Lisa streift ihre Schuhe ab, nimmt sie in die Hand und läuft barfuß durch den warmen Sand. Manche Dinge kosten nichts und machen doch so glücklich. Sie lässt den Blick über den weiten Strand schweifen, auf dem sich Dutzende Menschen in der Sonne aalen oder sich an einem Sprung in die kühlen Wellen erfreuen. Als sie einen leer stehenden Strandkorb entdeckt, setzt sie sich für einen Augenblick hinein und lässt den Blick über das weite Meer schweifen. In diesen Anblick – die weißen Schaumkronen auf den blauen Wellen, die unentwegt auf den hellen Sand zurollen, hatte sie sich gleich verliebt, als sie zum ersten Mal auf die Insel kam. Lisa kann gar nicht glauben, dass es erst zwei Jahre her ist. Irgendwie hat sie das Gefühl, schon immer hier gewesen zu sein. Für einen Moment schließt sie die Augen und lässt ihr Gesicht vom warmen Wind streicheln. Intensiv nimmt sie die Geräuschkulisse um sich herum wahr: Spielende Kinder, ein Ehepaar, das sich im Strandkorb nebenan um die Wahl des Abendlokals streitet, eine Möwe, die direkt über ihr einen heiseren Schrei ausstößt. Ein ganz normaler Tag am Meer, nicht nur für die Badegäste, sondern auch für alle Eisverkäufer und Rettungsschwimmer, die seit Tagen im Dauereinsatz sind, weil so mancher die Kraft der Wellen unter- und seine eigene überschätzt. Den ganzen Tag schon hatte Lisa sehnsüchtig die vielen Menschen betrachtet, die mit Badetaschen und Strohhüten ausgestattet an ihrem kleinem Souvenirladen »Strandgut« in Hörnum vorbei auf ihrem Weg zum Strand waren. Leider hatten sich nicht allzu viele von ihnen in ihren Laden verirrt, sodass die Kasse wieder einmal nahezu leer geblieben war.

    Gleich nach der Arbeit hatte Lisa eilig das kleine Geschäft abgeschlossen und sich ihre Einkaufstasche geschnappt, um noch schnell ein paar Zutaten für den »Hamburger Pannfisch«, den Sven so liebt, und eine gute Flasche Wein zu besorgen. Doch kaum als sie bei dem kleinen Lebensmittelgeschäft in Hörnum angekommen war, hatte ihr Handy geklingelt und Sven ihr mitgeteilt, dass aus ihrem geplanten Wochenende, auf das sich Lisa schon so lange gefreut hatte, leider nichts werden könne, weil er einen wichtigen Termin mit einem potenziellen Investor namens Lüders für ein Großprojekt in der Hafencity wahrnehmen müsse. Enttäuscht war Lisa nach Hause zurückgegangen und hatte Alma angerufen, welche Lisa die schlechte Stimmung sofort angemerkt und ein Alternativprogramm für den heutigen Abend angeboten hatte: Ein Konzert mit dem Sylter Shanty-Chor in der Musikmuschel in Westerland und zuvor ein Glas Wein oder ein leckerer Cappuccino sowie eine Kleinigkeit zu essen im hübschen Lokal »Badezeit« an der Kurpromenade.

    Und nun sitzt Lisa hier am Strand von Westerland und lässt sich glücklich vom warmen Wind streicheln. Wie gerne hätte sie diesen Moment mit Sven geteilt! Aber es ist nun einmal, wie es ist: Sven ist ein viel beschäftigter Mann und kann nicht jedes Wochenende mit Lisa verbringen, auch wenn sie sich das noch so sehr wünscht. Sie muss einfach Verständnis für seine Arbeit aufbringen, genauso wie er es versteht, dass Lisa durch den Laden sehr angebunden ist und nicht einmal spontan zu ihm nach Hamburg fahren kann. Lisa blickt auf die kleine Armbanduhr, die Sven ihr zu Weihnachten geschenkt hat: schon kurz vor 19 Uhr! Hat sie tatsächlich eine ganze halbe Stunde im Strandkorb gesessen? Seufzend verlässt sie das schöne Sonnenplätzchen. Obwohl sie so zeitig in Westerland war, ist sie durch die Trödelei am Strand auf einmal spät dran, denn die beiden sind um 19 Uhr verabredet und Alma ist grundsätzlich bis auf die Minute pünktlich. Aber dieser Moment im Strandkorb musste einfach sein!

    Glücklicherweise ist es nicht weit bis zum Café »Badezeit«. Lisa muss nur ein paar Schritte durch den warmen Sand und über die Kurpromenade laufen und schon ist sie da. Wie erwartet sitzt Alma bereits an einem der weißen Tische und rührt in einer Tasse Kaffee, die vor ihr steht. Wie jung sie aussieht, denkt Lisa. Mit ihren hellen Haaren und dem leicht gebräunten Teint, dazu einem flotten Outfit, das aus einem rot-weiß gestreiften Shirt und Jeans besteht, könnte kein Mensch auf den Gedanken kommen, dass Alma schon weit über 70 ist. Grundsätzlich scheint es Alma ohnehin vollkommen egal zu sein, wie alt sie ist, weil sie total mit sich im Reinen ist, denkt Lisa schmunzelnd.

    Alma, die Lisa vor zwei Jahren auf Wunsch ihres verstorbenen Vaters auf Sylt suchen sollte und die ihr damals glücklicherweise den »Strandgut«-Laden mit der dazugehörigen Wohnung vermietet hat, ist inzwischen, wenngleich sie auch wesentlich älter ist, Lisas beste Freundin und Ratgeberin in allen Lebenslagen geworden.

    Wie gut, dass Alma heute Zeit für sie hat. Lisa muss ihr nämlich unbedingt etwas ganz Wichtiges erzählen.

    »Moin, mien Deern«, begrüßt Alma und umarmt Lisa herzlich. »Es ist zwar schade, dass dein Herzblatt heute keine Zeit für dich hat, aber ich freue mich natürlich, dass wir uns auf diese Weise einmal sehen. Weißt du was? Wir beide machen uns jetzt einen richtig schönen Abend. Und ihr beiden seht euch ja nächstes Wochenende sowieso …«

    »Nächstes Wochenende?«, fragt Lisa und angelt sich die Speisekarte herüber. Soll sie auch den leckeren Streuselkuchen nehmen, den Alma vor sich stehen hat, oder lieber einen der leckeren Salate, die auf der Karte stehen?

    »Na, da ist doch dein Geburtstag!«, sagt Alma und grinst schelmisch.

    Eigentlich hatte Lisa das kommende Wochenende schon seit Wochen erfolgreich aus ihren Gedanken verdrängt. Das Wochenende, an dem ihr Geburtstag sein wird. Das Wochenende, an dem sie 50 wird. 50! Bis jetzt war diese Zahl einfach nur eine Zahl. Aber nun, da sich dieser runde Geburtstag in erschreckendem Tempo nähert, erscheint ihr diese Zahl immer bedrohlicher. Ein halbes Jahrhundert wird sie alt. Alt. Dieser Gedanke hatte sie in den letzten Wochen regelrecht aus der Fassung gebracht. Am liebsten wäre ihr gewesen, dieser Tag würde gar nicht stattfinden. Nicht nur in ihrem Kopf, sondern überhaupt nicht. Am liebsten hätte sie ihn übersprungen, wäre abends eingeschlafen und erst am übernächsten Tag aufgewacht. Dann wäre sie zumindest schon 50, was auch nicht gerade lustig wäre, aber sie müsste sich deswegen wenigstens nicht feiern lassen.

    Doch inzwischen sieht alles ganz anders aus. Lisa nimmt ein Kuvert aus der Tasche und schiebt es zu Alma herüber.

    »Was ist das?«, fragt diese neugierig und schiebt sich genussvoll ein Stück Streuselkuchen in den Mund. Die Entscheidung ist gefallen: Auch wenn es bereits Abend ist, dieser Kuchen sieht so lecker aus, dass Lisa auch ein Stück davon haben muss.

    »Das lag vorhin im Briefkasten. Sven meinte, ich hätte ihn wohl länger nicht geöffnet und solle einmal hineinsehen.«

    Alma nimmt das weiße Blatt Papier aus dem Umschlag, auf dem Svens krakelige Schrift und so etwas Ähnliches wie ein Schiff erkennbar ist.

    »Liebste Lisa, da ich weiß, wie wenig dir an einer Geburtstagsfeier gelegen ist, habe ich beschlossen (und auch schon deine Familie und Freunde informiert!), dich für ein paar Tage zu entführen. Ich hole dich am 29. Juni um 16 Uhr am Hamburger Hauptbahnhof ab. Der Rest ist eine Überraschung! Nur so viel: Du benötigst Garderobe für fünf Tage. Dresscode sportlich-elegant, ein paar hübsche Kleidchen dürfen nicht fehlen, ebenso wenig wie ein Badeanzug und eine Daunenjacke. Alma wird dein Lädchen in deiner Abwesenheit übernehmen – das ist ihr Geburtstagsgeschenk. Ich freue mich auf dich! Kuss, Sven.«

    »Meine Güte, ich habe ja schon gedacht, Sven rückt gar nicht mehr mit der Sprache heraus!«, sagt Alma grinsend und legt das Papier beiseite.

    »Du wusstest also davon«, stellt Lisa fest, obwohl dies ja aus Svens Brief hervorgeht. »Natürlich wusste ich davon. Schließlich muss ja jemand auf den Laden aufpassen, wenn du nicht da bist. Und wer könnte das besser als ich?«, sagt Alma und grinst. »Meine Güte, dieser Sven, da macht er so ein Theater, dass wir alle auch ja nix verraten – und dann behält er sein Geheimnis so lange für sich. Ich dachte, womöglich wird das gar nix mehr mit seiner Entführung!«, sagt Alma lachend und sieht dabei wieder so unglaublich jung aus. Auf einmal schämt sich Lisa, weil sie sich wegen ihres 50. Geburtstages so angestellt hat.

    »Du bist mir ja eine! Warum hast du mir nichts davon gesagt? Und was ist das überhaupt für eine Entführung?«, fragt sie nun neugierig.

    »Na, das soll dir dein Sven mal hübsch selber verraten, mien Deern. Ich werde seine Überraschung ganz sicher nicht kaputt machen.«

    »Was für eine süße Idee von Sven. Er wusste, dass ich am liebsten flüchten würde«, sagt Lisa. »Ich freue mich ja so sehr! Weißt du was, Alma? Es mag dir seltsam vorkommen, aber auf einmal macht mir dieser blöde Geburtstag gar nichts mehr aus. Im Grunde hätten wir ja auch eine kleine Feier machen können. Ich weiß auf einmal selbst nicht mehr, warum ich mich so doof verhalten habe«, gesteht sie und steckt sich wieder ein Stück des leckeren Kuchens in den Mund.

    »Ich verstehe dich sehr gut. Glaub mir, als ich 50 wurde, habe ich mich auch nicht gerade gefreut. Nun wirst du alt, habe ich gedacht und mich zu Hause eingeigelt. Doch der Tag ging vorüber, und ich fühlte mich seltsamerweise auch nicht älter als in den 40ern. Von da ab habe ich mir gedacht: »Eigentlich ist das Alter doch schietegol. Hauptsache, man ist gesund. Natürlich zwickt es manchmal hier und da. Und glaube mir, die Wehwehchen werden nicht weniger, je älter man wird. Aber wenn es weiter nix ist! Solange man sich noch freuen kann, ist man doch nicht alt. Den 60. und den 70. Geburtstag habe ich darum wieder richtig gefeiert. Und warte erst auf meinen 80.! Da lassen wir es richtig krachen«, sagt Alma lachend.

    Auch Lisa muss lachen. Von Alma kann ich mir wirklich eine Scheibe abschneiden, denkt sie. Außerdem tut ihr Almas Verständnis für ihr kindisches Verhalten richtig gut. Niemals hätte sie geglaubt, dass sich auch Alma mit 50 schrecklich alt gefühlt hat.

    »Heutzutage gehört man mit 50 doch noch lange nicht zum alten Eisen. Da starten viele Frauen noch einmal richtig durch!«, sagt diese nun. »Früher war das ja noch ’n büschen anders. Da trugen die Frauen eine Kittelschürze und färbten sich nicht die Haare. Ab 50 wurden sie optisch zur Oma«, sagt Alma grinsend. »Heute tragen wir mit über 70 noch Bluejeans und tanzen auf unserer eigenen Hochzeit.«

    Beim Gedanken an Almas und Johanns Hochzeit im vergangenen Jahr muss Lisa lächeln. Die beiden sahen so glücklich aus!

    »Woran denkst du? Du hast so ein hübsches Lächeln im Gesicht«, sagt Alma und lächelt ebenfalls.

    »Ich dachte gerade daran, wie ihr beiden auf eurer Hochzeit getanzt habt. Das war so ein schöner Tag.«

    »Oh ja!«, freut sich Alma. »Und ich freue mich schon darauf, das zu wiederholen. Ich meine, auf eurer Hochzeit zu tanzen!«, setzt sie mit einem Augenzwinkern hinzu.

    »Ach, Alma. Das wird nicht geschehen. Ich glaube nicht, dass Sven das will. Wir sind doch beide geschieden, jeder von uns hat bereits eine Ehe in den Sand gesetzt. Da wird man vorsichtig.«

    »Sooo, Herr Schröder, jetzt setzen wir uns hier erst einmal hin und dann gibt’s gleich etwas Leckeres zu essen« ertönt plötzlich eine laute Stimme am Nebentisch. »Ist dir das nicht zu viel Sonne?«

    Lisa sieht zum Nachbartisch herüber, neugierig, weil die Dame ihren Begleiter erst »Herr Schröder« nennt und ihn dann plötzlich duzt.

    Erstaunt bemerkt sie eine ältere, sehr vornehm aussehende Dame, die einen teuren silberfarbenen Schal von Louis Vouitton trägt und nun genau das gleiche silbergraue Exemplar des Schals auf dem Stuhl neben sich ausbreitet, um … ihren Hund darauf zu setzen! Diesen besonders schönen Schal hat Lisa erst neulich in der Auslage einer Kampener Boutique bewundert. Er war dort für knapp 600 Euro zu erwerben, und diese Dame besitzt ganz offensichtlich zwei davon. Dem kleinen Hundepopöchen dagegen scheint der Schal nicht allzu sehr zuzusagen. Das kleine Hundegesicht sieht irgendwie beleidigt aus, vermutlich, weil er entweder lieber ein richtiges Kissen unter seinem Allerwertesten haben oder am allerliebsten über den Strand toben würde, um die Möwen zu jagen, statt hier zwischen lauter Zweibeinern auf einer Caféterrasse zu sitzen, nur weil sein Frauchen gerade ein Stück Sahnetorte essen möchte.

    »Was möchte denn das kleine Schrödilein happa-happa essen?«, fragt die Dame und setzt sich eine Brille auf, um die Speisekarte zu lesen.

    »Oh, sieh nur! Hier gibt es Lammbratwürste – die isst du doch so gern!«, sagt sie zu dem kleinen Hund, der immer noch demonstrativ in die andere Richtung schaut.

    »Manchen Hunden geht es besser als manchen Kindern«, sagt Lisa mit einem Seitenblick auf die Dame zu Alma.

    »Oder manchen Männern«, antwortet diese grinsend. Dann setzt sie flüsternd hinzu:

    »Kennst du die Dame nicht? Das ist Freya von Elsholt, sozusagen eine Nachbarin von uns in Kampen. Sie geht öfter einmal mit ihrem Hundchen an Johanns Kiosk vorbei spazieren. Das heißt, sie geht spazieren und ›Herr Schröder‹ sitzt in ihrer teuren Handtasche und streckt nur sein kleines, verwöhntes Cavalier King Charles Spaniel-Köpfchen heraus.«

    »Ach, so nennt sich die Rasse also?« , fragt Lisa amüsiert. »›King Charles‹ passt auch besser zu ihm als ›Herr Schröder‹, finde ich.« Lisa kann sich das Lachen nicht verkneifen.

    »Psssst!« Alma legt einen Finger über den Mund. »Sie muss uns ja nicht unbedingt hören. Eigentlich ist Frau von Elsholt nämlich eine sehr nette und vor allem sehr einsame ältere Dame. Seit dem Tod ihres Mannes lebt sie ganz allein in ihrem schönen Haus in Kampen. Kinder hat sie nicht, also wird eben der kleine Hund total verwöhnt und vergöttert. Sieh dir nur sein Halsband an! Es ist mit echten Diamanten besetzt! Ist das nicht total verrückt?«

    Lisas Blick fällt auf das Halsband des Hundes, das in der Tat mit lauter funkelnden Steinen besetzt ist.

    »Bist du sicher, dass es nicht nur billige Bling-Bling-Steine sind?«, fragt sie erstaunt.

    Alma schüttelt den Kopf.

    »Sie hat es mir selbst erzählt. Neulich auf dem Gemeindefest. ›Herr Schröder‹ war in diesen Tagen ihren Worten zufolge sehr depressiv, weswegen sie gleich einen Termin beim Hundeflüsterer gemacht hat.«

    »Bitte wo? Ein Hundeflüsterer? So etwas habe ich noch nie gehört!«

    »Das ist ein Hundepsychologe. Angeblich soll der Typ der Beste seines Fachs sein, jedenfalls laut Frau von Elsholt. Bei Schrödis Depressionen hat er jedoch offenbar nicht allzu viel geholfen. Weswegen ihm sein Frauchen zum Trost das schmucke Halsband geschenkt hat.«

    »Du liebe Zeit! Die hat doch einen Knall!«, echauffiert sich Lisa und schüttelt den Kopf.

    »Sie hat auf jeden Fall ein einsames Herz und weiß nicht, wohin mit ihrem Geld. Da wird eben der kleine Hund verwöhnt.«

    Die beiden blicken zum Nachbartisch herüber, an dem Herr Schröder gerade mit Lammbratwürstchen gefüttert wird. Der leichte Abendwind weht durch seine kleinen Puschelohren, wodurch das teure Halsband zu sehen ist.

    »Unglaublich. Wo kann man denn so etwas kaufen?«, fragt Lisa neugierig.

    »Hier in Westerland gibt es doch diesen schicken Laden für Hundeaccessoires mit dem klangvollen Namen ›Chica Puppy‹. Dort gibt es alles, was das Hunde- beziehungsweise Frauchenherz begehrt«, klärt mich Alma auf. »Dort kann man glamouröse Hundehalsbänder ebenso wie Kaschmirdecken oder Designermäntelchen für sein Hundeschätzchen finden.«

    »Ein Hundeschätzchen habe ich ja noch nicht, aber wer weiß? Vielleicht werde ich ja auch einmal so enden: einsam und allein und nur mit einem kleinen Hund zu meinen Füßen. Allerdings wird das dann wohl eher ein Mischling und kein King Dingsbums sein, und sein Halsband vom Discounter statt vom Chica-Laden«, antwortet Lisa grinsend.

    »Ich denke nicht, dass du einmal einsam und alleine enden wirst, Lisa«, sagt Alma lächelnd.

    »Womit wir wieder bei dem Thema wären, bei dem wir eben stehen geblieben sind. Du denkst also, Sven möchte nicht noch einmal heiraten? Was ist mit dir, was möchtest du denn? Würdest du gerne noch einmal vor den Traualtar treten?«, fragt Alma und ihre Augen blitzen schelmisch.

    »Ich weiß nicht«, sagt Lisa ausweichend.

    Es gibt wenig Menschen, denen Lisa so vertraut wie Alma, darum gibt sie zu:

    »Weißt du, nach der Trennung von Andreas war ich erst einmal froh, alleine zu sein. Nach den vielen Jahren unserer Ehe, in denen ich ja mehr oder weniger nur dazu da war, seine Wünsche und Bedürfnisse zu erfüllen, war ich glücklich, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Alleine die Entscheidung treffen zu können: Gehe ich frühstücken oder mache ich mir ein Marmeladenbrot in der Küche, hat mich mit Freude erfüllt. Doch in letzter Zeit habe ich öfter gedacht, dass es schön wäre, wieder jemanden immer um sich zu haben. Nicht nur am Wochenende. Nicht nur zu Besuch. Morgens zusammen aufwachen. Zusammen frühstücken. Abend für Abend zusammen einschlafen. Das Gefühl, zusammenzugehören. Dass der andere nicht einfach wieder weggeht, für immer, meine ich.«

    »Als ob Sven das tun würde«, sagt Alma.

    »Ach, wer kann das schon sagen?«, antwortet Lisa.

    Sie sieht Alma an, unsicher, ob sie nach allem, was sie ihr heute schon gestanden hat, auch noch mit ihr über ihre Verlustangst sprechen soll. Die Angst, die seit ihrer Kindheit tief in ihr schlummert. Genau genommen, seitdem Lisas Mutter weggegangen und sie und ihren Vater von einem Tag auf den anderen verlassen hat. Seitdem gibt es tief drin in ihr dieses Gefühl, dass sich das einmal wiederholen könnte. Vielleicht hatte sie ja gerade deswegen so lange in einer unglücklichen Ehe ausgeharrt, weil sie weder ihren Kindern, noch ihrem Mann das Gleiche antun wollte. Und natürlich auch selbst Angst davor hatte, wieder alleine zu sein. Erst als Lisas Mann Andreas sie auf schamlose Weise betrog und ihre Kinder alt genug waren, ihr eigenes Leben zu führen, war sie zu diesem Schritt bereit gewesen. Doch der Weg in ein freies und selbstbestimmtes Leben war nicht leicht gewesen. Wäre sie nicht nach Sylt gekommen und hätte diese Insel, das Meer und diese wunderbaren und ehrlichen Menschen Alma und Johann kennen- und liebengelernt – wer weiß, ob sie nicht eines Tages umgekehrt wäre.

    »Sven und ich sind sehr glücklich. Auch ohne Trauschein«, sagt sie nun bestimmt.

    »Das weiß ich doch. Deshalb glaube ich auch nicht, dass Sven die Absicht hätte, dich jemals zu verlassen.«

    »Woher willst du das wissen? Das kann man ja nicht vorausahnen. Ich meine, schließlich kommt es oft genug vor. Es gibt eben Menschen, die gehen einfach weg. Ohne das vorher anzukündigen. Von einem Tag auf den anderen stehst du da und fragst dich: Was habe ich getan? Hätte ich es verhindern können? Was ist falsch an mir?«

    Alma sieht Lisa prüfend an. »Worüber sprichst du? Lisa, ich kenne dich nun schon eine ganze Weile, und ich glaube gut genug, um zu wissen, dass es hier nicht um Sven geht?«

    Nein, es geht nicht um Sven. Selbst wenn Lisa manchmal Angst hat, auch ihn zu verlieren. Sie fürchtet sich davor, dass er eines Tages anruft und nicht nur ein Wochenende aus geschäftlichen Gründen, sondern ihre ganze gemeinsame Zukunft über den Haufen werfen wird. Aber haben sie denn überhaupt eine gemeinsame Zukunft? Sie haben nie darüber gesprochen. Sie leben im Hier und Jetzt, also genau so, wie man es tun soll. Sie sind glücklich miteinander. Doch Lisa weiß aus eigener Erfahrung, dass von heute auf morgen alles ganz anders sein kann. Der Mensch, dem man vertraut, der Mensch, den man an seiner Seite glaubt, kann einen aus heiterem Himmel verlassen. Einfach weggehen. Ohne einen Grund anzugeben, sodass man sich fortan stets fragen wird, was man falsch gemacht hat.

    »Du denkst an deine Mutter, ja?«, fragt Alma nun plötzlich, als könne sie Lisas Gedanken erraten. Natürlich weiß Alma, was damals geschehen ist. Dass Lisas Mutter ihren Vater und die kleine Lisa verlassen hat, um als Schauspielerin in Berlin zu arbeiten, als Lisa noch zur Schule ging. Aber Alma weiß nicht, wie sehr Lisa darunter gelitten hat. Lisas Vater hatte sein Leben lang sein Bestes getan, um seinem Kind Vater und Mutter zugleich zu sein. Er hatte auf seine eigenen Bedürfnisse und sogar auf seine große Liebe Alma, die er in einem Urlaub auf Sylt kennengelernt hatte, verzichtet, um Lisa ein geregeltes und ordentliches Leben am Bodensee zu ermöglichen. Doch obwohl er immer für Lisa da war, hatte ihr die Mutter oft gefehlt. Vor allem, als sie in die Pubertät kam und viele Fragen zu ihrer Weiblichkeit hatte, die sie weder ihrem Vater noch der Großmutter stellen wollte. Es gab so viele Momente, in denen sie sich gewünscht hatte, eine Mutter zu haben, die für sie da ist. Zum Beispiel, als alle ihre Freundinnen mit ihren Müttern ein Kleid für den Abiball aussuchten. Sie hätte eine Mutter gebraucht, die sie berät, ob sie sich die Haare schneiden lassen … oder die Pille nehmen soll … ob es sich lohnt, wegen der ersten Liebe zu weinen. Aber es gab keine Mutter. Das Schlimmste jedoch war, dass Lisa sich lange Zeit gefragt hatte, ob sie vielleicht schuld daran war, dass ihre Mutter sie verlassen hatte, denn welche Mutter lässt schon ihr einziges Kind im Stich?

    Ohne lange zu überlegen, nimmt Lisa nun einen weiteren Brief aus ihrer Handtasche. Ein fliederfarbenes Kuvert, das mit kleinen Röschen bedruckt ist.

    »Lies mal«, sagt sie und schiebt den Brief zu Alma herüber.

    »Noch ein Brief?«

    »Der lag vorhin auch im Briefkasten. Keine Ahnung, wie lange er da schon drin war. Ich habe den Briefkasten in letzter Zeit nicht so oft geöffnet. Ist doch immer nur Reklame drin, und Rechnungen«, gesteht Lisa.

    Unsicher betrachtet Alma das fliederfarbene Kuvert. Hatte sie sich bei dem letzten Brief bereits gedacht, dass er von Sven sein könnte, so zögert sie nun, das Kuvert zu öffnen.

    »Das kann ich doch nicht lesen, das ist doch an dich adressiert!«, zögert Alma.

    »Doch, bitte. Ich brauche deinen Rat«, sagt Lisa, auch wenn das eigentlich nicht stimmt, da sie ihre Entscheidung bereits getroffen hat.

    »Na gut, wenn das so ist«, gibt sich Alma geschlagen und öffnet vorsichtig das Kuvert.

    »Liebe Lisa,

    ich hoffe sehr, dass du diesen Brief geöffnet hast und meine Zeilen lesen wirst. Du wirst sicher den Absender gelesen haben und wissen, von wem der Brief stammt. Ich habe schon dreimal begonnen, und jedes Mal finde ich nicht die richtigen Worte. Nun will ich einfach versuchen, dir so zu schreiben, wie ich denke und empfinde.

    Wir haben lange, viel zu lange nichts voneinander gehört. Ich weiß nicht, ob dir dein Vater je von mir erzählt hat und wenn ja, was er gesagt hat. So viele Jahre sind vergangen, seitdem ich dich zum ersten Mal in meinen Armen gehalten habe …«

    Bei diesen Worten entfährt Lisa ein »Pah!« und sie verdreht die Augen.

    »Um genau zu sein: 50 Jahre! Ein halbes Jahrhundert, ist das nicht unglaublich? Ich möchte, dass du weißt, dass ich in all den Jahren immer an dich gedacht habe. Besonders in diesen Tagen, in denen sich dein Geburtstag nähert, sind meine Gedanken immer besonders bei dir.«

    Lisa schüttelt unbewusst den Kopf.

    »Zuerst habe ich Briefe und Pakete geschickt, doch nachdem diese unbeantwortet blieben, gab ich irgendwann auf.«

    Alma sieht Lisa fragend an. Wieder schüttelt diese den Kopf.

    »Das stimmt nicht! Ich habe nie wieder von ihr gehört«, sagt Lisa mit Nachdruck. Wie kommt diese Frau dazu, so dreist zu lügen? Lisas Vater hätte ihr doch kein Geschenk von ihrer Mutter vorenthalten!

    »Doch warst du immer in meinen Gedanken, das musst du mir glauben. Irgendwann bekam ich mit, dass du eine eigene Familie gegründet hast und ich habe mich für dich gefreut, dass du glücklich bist. Es muss etwas geschehen sein, dass dieses Glück zerbrach, weshalb du – ebenso wie ich – den Bodensee verlassen hast, um fern von zu Hause ein neues Leben anzufangen.

    Ich würde mich sehr gerne mit dir darüber unterhalten. Mehr noch, ich wünsche mir so sehr, ein klein wenig Teil deines neuen Lebens zu sein, nachdem wir so viele Jahre verschenkt haben. Vielleicht kannst du mich nun, da du selbst ein ähnliches Schicksal erlebt hast, besser verstehen. Das wünsche ich mir wirklich von Herzen. Ich möchte dich gerne besuchen, Lisa. Und ich denke, dein 50. Geburtstag wäre eine gute Gelegenheit dafür.

    Deine Mutter«

    »Ist das nicht unglaublich? Was bildet sie sich eigentlich ein?«, entfährt es Lisa. »›Vielleicht kannst du mich nun, da du selbst ein ähnliches Schicksal erlebt hast, besser verstehen?‹ Das ist doch unfassbar, oder? Ich habe kein ähnliches Schicksal wie sie erlebt! Ich habe nicht meinen Mann und mein kleines Kind verlassen, um aus egoistischen Gründen ein Lotterleben am Theater zu führen!«

    »Ich verstehe sehr gut, dass du wütend bist, Lisa«, versucht Alma zu beruhigen und sieht sie verständnisvoll an.

    »In der Tat kann man wohl euer beider Leben kaum miteinander vergleichen. Dennoch muss man wohl die Absicht anerkennen …«

    »Anerkennen?«, unterbricht Lisa sie.

    »Ich soll anerkennen, dass sie mich im Stich gelassen hat? Dass sie sich mein ganzes Leben lang nie um mich gekümmert hat, weil ihr andere Dinge wichtiger als ich waren? Die große Bühne, ihre Schauspielkollegen, die Regisseure –das ist natürlich eine andere Welt als die einer kleinen Mietwohnung am Bodensee, wo der Mann in einem Möbelhaus arbeitet, um Geld zu verdienen, und ein kleines Mädchen Tag für Tag nur von ihren Schulproblemen erzählt!«

    Wütend springt Lisa auf, wobei der Tisch zu wackeln beginnt, dass die Tassen klirren.

    »Meine Güte!« Frau von Elsholt nimmt am Nachbartisch den kleinen Herrn Schröder in den Arm.

    »Nun mäßigen Sie sich einmal! Mein Hund hat sich ja total erschrocken!«, empört sie sich. Plötzlich erkennt sie Alma und grüßt, wenn auch nicht gerade freundlich.

    Vermutlich fragt sie sich, wie die ruhige Alma an eine derartig ungezogene Person wie Lisa geraten konnte.

    »Donnerwetter! Ich hätte ja nicht gedacht, dass du ein solches Temperament hast!«, staunt Alma und grinst Lisa an, nachdem sie Frau von Elsholt freundlich zugenickt hat. »Das sind wohl die stillen Wasser …«

    »Bitte entschuldige«, sagt Lisa. »Aber dieser Brief macht mich so unglaublich wütend. Wie kann sie annehmen, dass ich mich nach über 40 Jahren, in denen sie sich null für mich interessiert hat, über einen solchen Brief freue und sie sogar zu mir nach Hause einlade? Um sich mit mir zu ›unterhalten‹? Worüber denn? Über ihr Leben? Oder meins? Da ist mir doch der Briefträger näher, der mir jeden Tag die Post bringt. Nein, das kann sie vergessen! Auf eine Einladung zu mir kann sie warten, bis sie schwarz wird. Ich habe sie nie gebraucht und das tue ich auch jetzt nicht. Es hat nie eine Mutter in meinem Leben gegeben und das wird es in diesem Leben auch nicht mehr. Egal, wie viele Lügen sie über Briefe und Päckchen, die sie angeblich an mich geschickt hat, verbreitet.«

    Lisa atmet tief aus.

    »Das ist aber ein bisschen hart, findest du nicht?«, fragt Alma sanft.

    »Hart? Weißt du, was hart ist? Wenn man die Windpocken hat und als einziges Kind keine Mutter, die einen liebevoll einreibt oder einem zur Ablenkung aus dem Märchenbuch vorliest. Wenn die anderen Kinder, die zum Spielen kommen, fragen: ›Wo ist denn deine Mama?‹ und man am liebsten sagen würde ›auf dem Friedhof‹, weil man sich schämt, dass die eigene Mutter einfach abgehauen ist.«

    »Es gibt viele Paare, die heutzutage geschieden sind. Und so manches Kind wächst beim Vater auf«, wirft Alma ein.

    »Heutzutage ja. Aber nicht vor 40 Jahren. In unserer kleinen heilen Welt am Bodensee gab es nur intakte Familien mit Vater, Mutter, Kind. Nur bei uns war es anders. Jedenfalls kam mir das so vor.«

    »Vielleicht kam dir das wirklich nur so vor. Nicht alle ›intakten‹ Familien sind so intakt, wie wir glauben, Lisa. Und das war damals sicher nicht anders als heute. Vielleicht warst du neidisch auf diese in deinen Augen ›richtigen‹ Familien, aber wer weiß, ob da nicht Abend für Abend gestritten wurde, während dein liebevoller Vater mit dir auf dem Trimm-dich-Pfad war und dir anschließend eine Leberwurststulle geschmiert hat?«

    Alma hat es tatsächlich geschafft, Lisa wieder zum Lächeln zu bringen. Vielleicht hat sie ja recht. Alma kannte Lisas Vater, sie hat ihn sogar geliebt. Und sie hat erlebt, wie er zu seinem Kind war.

    Irgendwann hatte Lisa gelernt, ihre Mutter nicht mehr zu vermissen. Sie hatte sie aus ihren Gedanken gestrichen. Und das soll auch so bleiben! Dieser Brief jedoch hat die Vergangenheit wieder aufgewühlt. All die traurigen Gedanken und Gefühle, auch die Wut auf sie sind auf einmal wieder da.

    »Lass deine Mutter kommen, Lisa! Vielleicht habt ihr euch ja viel zu sagen«, schlägt Alma vor.

    »Warum soll ich jemanden zu mir kommen lassen, der mir fremd ist? ›Meine Mutter‹ nennst du sie? Ich habe keine Mutter, Alma.«

    2. Kapitel

    »Ein Schiff wird kommen«

    Lisa

    Das Treiben auf dem Hamburger Hauptbahnhof ist unbeschreiblich. Nun ärgert sich Lisa, dass sie nicht genauer hingehört hat, als Sven den Namen des Zeitungsladens genannt hat, vor dem sie sich heute treffen wollen. Aber sie war so beschäftigt gewesen, nebenbei ihren kleinen Koffer nach Svens Vorgaben zu packen, dass sie vermutlich nicht richtig zugehört hat. Nun steht sie hier, mit dem Köfferchen in der Hand, das, wie sie hofft, die richtigen Dinge für den Überraschungstrip enthalten wird, und wartet. Sie fischt ihr Handy aus der Handtasche und bemerkt, dass Sven bereits zweimal versucht hat, sie zu erreichen. Das muss sie bei dem unbeschreiblichen Geräuschpegel, der hier auf dem Hamburger Hauptbahnhof herrscht, überhört haben.

    »Wo steckst du denn, Liebling?«, fragt Sven gleich, als Lisa zurückruft.

    »Ich stehe vor dem Zeitungsladen an der Ecke.«

    »An welcher Ecke?«

    »Neben dem Backshop und dem Blumenladen.«

    »Wo es zu den S-Bahnen geht?«

    Die S-Bahnen? Keine Ahnung, wo es hier zu den S-Bahnen geht. Lisa sieht sich suchend um. Da entdeckt sie plötzlich das Schild mit dem großen »S«.

    »Genau!«

    »Dann bin ich gleich bei dir!«

    Kurz darauf bahnt sich Sven mit großen Schritten einen Weg durch die Menge.

    Wie weltmännisch er aussieht, denkt Lisa, als sie ihn erblickt. Er trägt einen grauen Anzug, vermutlich kommt er geradewegs aus dem Büro. Auf einmal kommt sich Lisa in ihrer Jeans und der weißen Bluse gar nicht mehr hübsch vor.

    Mit einem Lächeln kommt Sven auf sie zu und schließt sie fest in die Arme.

    »Lisa, wie schön, dass du da bist!«, spricht er in ihre Haare.

    Lisa verharrt für einen Moment in seinen Armen. Um sie herum sind so viele Menschen, doch in diesem Augenblick kommt es ihr so vor, als wären sie beide ganz allein.

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