Sascha – nie mehr allein: Mami 1961 – Familienroman
Von Eva-Maria Horn
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Tränen liefen über Corinnas Wangen. Sie beachtete es nicht. »Alle Schulferien habe ich bei Großmutter verbracht. Meine Eltern waren oft wütend, aber ich habe mich immer durchgesetzt. Ich wollte nicht nach Afrika oder auf eine fremde Insel. Mein Ferienparadies war hier, hier auf dem Moorhof. Wenn ich aus dem Zug stieg, stand die Kutsche mit dem alten Johann vor dem Bahnhof. Und dann ging es über die Heide, und ich durfte kutschieren.« Sie saß auf der brüchigen Mauer, die Hände spielten in den Pflanzen, die zwischen den Steinen wuchsen. Sie starrte auf das Wasser, das über den Sand rollte und wieder zurückwich. Der Himmel spiegelte sich im Meer, aber das sah sie nicht. Sie war wieder das junge Mädchen, das die Stufen zum Haus hinaufrannte und die Haustür aufstieß. »Großmama, ich bin da.« Und immer saß die Großmutter in ihrem Sessel, streckte die Arme aus und strahlte über das ganze, liebe Gesicht. »Corinna, mein Liebling, wie schön, daß du da bist.« Corinna spürte sogar die Arme, die sich um sie legten, spürte die Wange der Großmutter an ihrem Gesicht. Die Erinnerung war so stark, daß das gewohnte Glücksgefühl sie überströmte. »Tage, die sich wie Perlen aneinander reihten«, flüsterte sie. Hans Deiters war froh, daß von ihm keine Antwort erwartet wurde.
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Buchvorschau
Sascha – nie mehr allein - Eva-Maria Horn
Leseprobe:
Neuanfang
LeseprobeAuf dem kleinen Flugplatz herrschte emsiges Treiben. Viele Hobbypiloten waren gekommen, um das Wochenende und das schöne Wetter für ein paar Flugstunden zu nutzen oder um die Maschinen zu pflegen und durchzuchecken. Soeben wurde ein motorloser Segelflieger von einem Schleppflugzeug in die Höhe gezogen. Wenke Hellström beobachtete fasziniert, wie sich die Fahrwerke der beiden Flugzeuge von der Startpiste lösten und ihren Flug nach oben aufnahmen; der leichte Segler durch ein Schleppseil mit seinem größeren, motorisierten Bruder verbunden. Irgendwann würde er sich von ihm trennen und in ein hinreißendes Wechselspiel aus elegantem Gleitflug und dem Steigen im Aufwind eintauchen. Als begeisterte Seglerin wusste Wenke einen guten Wind zu schätzen und liebte das Spiel mit ihm – allerdings auf dem Wasser und nicht in der Luft. Schon als kleines Kind war das Segelboot ihr zweites Zuhause gewesen. Diese Leidenschaft hatte sie nie verloren, auch wenn man das nach den jüngsten Ereignissen vermuten dürfte. Es waren fast zwei Wochen vergangen, seit sie zusammen mit Lars bei einem schweren Unwetter in Seenot geraten war. Während es ihm gelang, am gekenterten Boot zu bleiben, wurde sie abgetrieben und galt vier endlos lange Tage als vermisst. Seit etwas mehr als einer Woche war Wenke nun zurück. Lars, ihr Lars hatte sie gerettet! Aus den Händen des merkwürdigen Karl Aresson, der Strandgut sammelte und sie nicht von seinem Hof hatte fortlassen wollen. Nein, verständlicherweise hatte Wenke bislang noch keinen großen Drang verspürt, wieder eine Segeltour zu unternehmen. Seit sie wieder in Lündbjorg war, fühlte sie sich wie in einem Kokon eingesponnen, aus dem sie nicht richtig herauskam. Obwohl sie sich bemühte, es niemanden merken zu lassen. Die Ereignisse auf der abgelegenen Landzunge auf dem Hof von Karl Aresson hatte sie tief in sich verschlossen. Etwas in ihr weigerte sich, darüber zu sprechen. Selbst mit Lars konnte sie darüber nicht reden. Ihr Wiedersehen mit ihm war unaussprechlich und innig gewesen.
Mami
– 1961 –
Sascha – nie mehr allein
… doch liebt Papi die richtige Frau?
Eva-Maria Horn
Tränen liefen über Corinnas Wangen. Sie beachtete es nicht.
»Alle Schulferien habe ich bei Großmutter verbracht. Meine Eltern waren oft wütend, aber ich habe mich immer durchgesetzt. Ich wollte nicht nach Afrika oder auf eine fremde Insel. Mein Ferienparadies war hier, hier auf dem Moorhof. Wenn ich aus dem Zug stieg, stand die Kutsche mit dem alten Johann vor dem Bahnhof. Und dann ging es über die Heide, und ich durfte kutschieren.«
Sie saß auf der brüchigen Mauer, die Hände spielten in den Pflanzen, die zwischen den Steinen wuchsen. Sie starrte auf das Wasser, das über den Sand rollte und wieder zurückwich. Der Himmel spiegelte sich im Meer, aber das sah sie nicht.
Sie war wieder das junge Mädchen, das die Stufen zum Haus hinaufrannte und die Haustür aufstieß.
»Großmama, ich bin da.«
Und immer saß die Großmutter in ihrem Sessel, streckte die Arme aus und strahlte über das ganze, liebe Gesicht.
»Corinna, mein Liebling, wie schön, daß du da bist.«
Corinna spürte sogar die Arme, die sich um sie legten, spürte die Wange der Großmutter an ihrem Gesicht. Die Erinnerung war so stark, daß das gewohnte Glücksgefühl sie überströmte.
»Tage, die sich wie Perlen aneinander reihten«, flüsterte sie.
Hans Deiters war froh, daß von ihm keine Antwort erwartet wurde.
»Bei Großmutter wurde ich mit Liebe eingehüllt, hier bekam ich das, was ich das ganze Jahr entbehrte. Oh, warum bin ich nur in den letzten Jahren fortgeblieben? Warum war mir meine Ausbildung und alles andere wichtiger? Jetzt ist sie tot, und ich kann ihr nie mehr sagen, wie lieb ich sie hatte.«
Hans räusperte sich. Er saß auf der Mauer, die rechts von dem kleinen Törchen stand, das Törchen hing windschief in den Angeln und quietschte entrüstet, wenn man es öffnete. Hans hatte sich von seiner Überraschung noch lange nicht erholt. Ja, er war geradezu erschlagen. Aber auf wunderbare Weise überrascht.
Er kannte Corinna Bieger jetzt ein halbes Jahr, besonders verliebt war er eigentlich nicht in sie gewesen. Sie sah gut aus, war ein lustiger Kamerad, aber sie war ihm zu prüde, andere Mädchen machten es ihm leichter. Aber ihre spröde Art war es wohl, die ihn reizte.
Als sie vom Tod ihrer Großmutter erfuhr, traf er sie völlig aufgelöst. Voll Mitleid hatte er sie in die Arme geschlossen, und zum ersten Mal hatte er in dem Augenblick Zärtlichkeit für sie empfunden. Sie hatte sich in seine Umarmung hineingeschmiegt, hatte sich trösten lassen.
Aber zur Beerdigung war er nicht mitgefahren. »Das ist nicht mein Ding«, hatte er abgewehrt. »Ich gehe nie auf einen Friedhof.«
Sie war allein gefahren, und er hatte nicht mal ein schlechtes Gewissen gehabt.
Aber gestern abend hatte sie ihn angerufen. Ganz aufgeregt. »Stell dir vor, Hans. Großmutter hat mich als Erbin für ihr Haus eingesetzt. Mich, mich ganz allein. Und einen lieben, lieben Brief hat sie mir dazu geschrieben.«
Das hatte ihn wachgerüttelt. Deswegen hatte er sich heute morgen in aller Frühe in seinen alten, klapprigen Wagen gesetzt und war hierher gefahren.
Nicht, daß er sonderlich Großes erwartet hatte. An eine Kate hatte er gedacht, an ein kleines Häuschen, einem Gartenhäuschen ähnlich.
Nicht im Traum war ihm in den Sinn gekommen, was für ein Besitz der Moorhof war.
Hans lag der Länge nach auf der Mauer, hatte den Kopf in die Hand gestützt und sah durch die verwitterten Bäume zum Haus hinüber. Aus grauem Sandstein war es gebaut, es wirkte auf Hans eindrucksvoll, ja, imponierend. Die Fenster waren schmal, bleiverglast, aber die blauen Fensterläden hoben die Strenge auf. Und das tief herabgezogenen Reetdach vermittelte etwas wunderbar Beschützendes, besser konnte Hans es nicht ausdrücken.
Es war kein Gartenhaus. Es war ein Besitz. Und was für einer. Und als er mit ihr ins Haus ging, ja, ja, dann hatte es ihn förmlich umgehauen.
Von Möbeln verstand er nicht viel. Aber daß diese Möbel, die Teppiche wertvoll waren, das sah sogar er.
Und neben dem Kamin, der mit Delfter Kacheln geschmückt war, hing ein Bild. Ein echter Modersohn. Und so ganz nebenbei, als wäre das überhaupt nichts Besonderes, sagte sie: »Ja, das ist ein echter. Die Mutter von Großmutter ist mit ihr in die Schule gegangen. Sie war mit ihr bis zu ihrem Tod befreundet. In ihrem Schlafzimmer hängen noch zwei Bilder, die nie ausgestellt wurden, vermutlich weiß niemand von ihnen. Großmutter hätte sich nie von ihnen getrennt.«
Es hatte Hans einfach umgehauen. Als sie in die Küche zu der alten Haushälterin ging, hatte er sich zurückgezogen und den Makler angerufen. Natürlich mußte Corinna den Besitz verkaufen. Was wollte sie schließlich damit? Und als er den Preis hörte, den der Mann ihm bot, war ihm einfach die Luft fortgeblieben.
Für Hans war alles klar.
Corinna und er würden heiraten. Sie kauften das Haus am Stadtrand, am Sonntag hatten sie es sich zum Spaß angesehen und sich über die kleinen Zimmer amüsiert. Mit Freunden waren sie dort gewesen, die dringend eine Wohnung suchten. Für die waren die Häuser unerschwinglich.
Aber für ihn, für Hans Deiter, nicht. Selbstgefällig, glücklich schnaufte er. Er warf einen Blick auf sie. Sie war noch immer in ihren Träumen gefangen.
Mit ihren verwaschenen Jeans, die sie bis zum Knie hochgekrempelt trug, der Bluse, die durch das viele Waschen die Farbe eingebüßt hatte, sah sie keineswegs wie eine reiche Erbin aus.
Denn reich war sie. Das war sicher.
Es hatte ihn oft gewundert, wie wenig Wert Corinna auf Kleidung legte. Und trotzdem hatte er immer das Gefühl, daß sie stets passend angezogen war. Corinna war eben Corinna, und man nahm sie so, wie sie war.
Träume umfingen Hans. Er würde sie heiraten… das war ja wohl klar. Wer ließ sich schon so einen goldenen Fisch von der Angel nehmen? Das Haus kostete nur einen Bruchteil dessen, was sie für diesen Besitz bekamen.
Er konnte sich den ersehnten Sportwagen kaufen… er konnte seinem Chef die Arbeit vor die Füße werfen.
Er konnte sich endlich selbständig machen. Ein Traum – nie hatte er zu hoffen gewagt, daß er möglich war – ging in Erfüllung.