Das Kind seines Bruders: Mami 1955 – Familienroman
Von Marianne Schwarz
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Die junge Frau, die in Hamburg aus dem Fernzug stieg, sah krank und elend aus. Sie war nicht sehr groß und zierlich. Üppige schwarze Locken umrahmten ein zartes, auffallend trauriges Gesicht. Ja, diese Traurigkeit, diese verzweifelte Traurigkeit war der jungen Frau anzusehen. Aber es war niemand da, der sie in Empfang nahm, der sie tröstete, ihr Hilfe anbot. Auf einem so großen Bahnhof hat jeder mehr oder weniger mit sich selbst zu tun. Die meisten Menschen sind in Eile, für andere liegen Wiedersehensfreude und Abschiedsschmerz dicht beieinander, es gibt Wartende und Müßiggänger, gibt Taschendiebe, Obdachlose, schräge Existenzen, Menschen in echter Not… jeder hat seine Probleme, man achtet kaum auf seine Mitmenschen. Und so fiel auch diese junge, krank aussehende Frau niemandem auf. Sie trug schwer an ihrem einzigen Gepäckstück, einer Reisetasche aus grauem Nylongewebe, deren Reißverschluß nur zur Hälfte geschlossen war. Sie trug schwer daran – und doch irgendwie behutsam, und als sie, nachdem sie aus dem Zug ausgestiegen war, einen hastigen, verstohlenen Blick in die Tasche warf, füllten sich ihre großen dunklen Augen mit Tränen. Vielleicht merkte sie es nicht einmal, denn sie ordnete sich nun in den Strom der anderen Reisenden ein, die dem Ausgang zustrebten. Draußen auf dem Bahnhofsvorplatz blickte sie sich suchend um. Nein, sie erwartete nicht, von jemandem begrüßt zu werden. Sie hielt Ausschau nach einem Taxi. Sie hatte Glück, es waren viele da, sie brauchte nicht zu warten. Nachdem sie vorsichtig mit ihrer Tasche in den Wagen eingestiegen war, reichte sie dem Fahrer einen zerknitterten Zettel, den sie aus der Tasche ihrer hellen Jacke genommen hatte. Der Fahrer, ein älterer freundlicher Mann, glättete den Zettel, warf einen Blick darauf und fragte: »Da wollen Sie hin?« »Ja« »ist das möglich? Kennen Sie die Straße?«
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Das Kind seines Bruders - Marianne Schwarz
Mami
– 1955–
Das Kind seines Bruders
Das Findelbaby aus Hamburg
Marianne Schwarz
Die junge Frau, die in Hamburg aus dem Fernzug stieg, sah krank und elend aus. Sie war nicht sehr groß und zierlich. Üppige schwarze Locken umrahmten ein zartes, auffallend trauriges Gesicht. Ja, diese Traurigkeit, diese verzweifelte Traurigkeit war der jungen Frau anzusehen. Aber es war niemand da, der sie in Empfang nahm, der sie tröstete, ihr Hilfe anbot.
Auf einem so großen Bahnhof hat jeder mehr oder weniger mit sich selbst zu tun. Die meisten Menschen sind in Eile, für andere liegen Wiedersehensfreude und Abschiedsschmerz dicht beieinander, es gibt Wartende und Müßiggänger, gibt Taschendiebe, Obdachlose, schräge Existenzen, Menschen in echter Not… jeder hat seine Probleme, man achtet kaum auf seine Mitmenschen.
Und so fiel auch diese junge, krank aussehende Frau niemandem auf. Sie trug schwer an ihrem einzigen Gepäckstück, einer Reisetasche aus grauem Nylongewebe, deren Reißverschluß nur zur Hälfte geschlossen war. Sie trug schwer daran – und doch irgendwie behutsam, und als sie, nachdem sie aus dem Zug ausgestiegen war, einen hastigen, verstohlenen Blick in die Tasche warf, füllten sich ihre großen dunklen Augen mit Tränen. Vielleicht merkte sie es nicht einmal, denn sie ordnete sich nun in den Strom der anderen Reisenden ein, die dem Ausgang zustrebten.
Draußen auf dem Bahnhofsvorplatz blickte sie sich suchend um. Nein, sie erwartete nicht, von jemandem begrüßt zu werden. Sie hielt Ausschau nach einem Taxi. Sie hatte Glück, es waren viele da, sie brauchte nicht zu warten. Nachdem sie vorsichtig mit ihrer Tasche in den Wagen eingestiegen war, reichte sie dem Fahrer einen zerknitterten Zettel, den sie aus der Tasche ihrer hellen Jacke genommen hatte.
Der Fahrer, ein älterer freundlicher Mann, glättete den Zettel, warf einen Blick darauf und fragte: »Da wollen Sie hin?«
»Ja«, nickte die junge Frau,
»ist das möglich? Kennen Sie die Straße?« Sie hatte eine angenehme, weiche Stimme mit südlichem Tonfall. Aber die Stimme klang auch sehr ängstlich, so als fürchtete die junge Frau, daß der Fahrer vielleicht verneinen könnte, daß er ihr sogar sagen würde, diese Straße gäbe es gar nicht in Hamburg.
Doch der Mann lächelte seinem ängstlichen Fahrgast beruhigend zu. »Natürlich kenne ich die Goethestraße in Altona. Das ist kein Problem. Also, los geht’s. Schnallen Sie sich bitte an. Sie wissen ja, das ist bei uns Vorschrift.«
Die junge Frau ließ nicht erkennen, ob sie von dieser Vorschrift wußte oder nicht. Sie folgte jedenfalls der Aufforderung des Fahrers und schaute dann, als der Wagen sich in Bewegung setzte, demonstrativ aus dem Fenster und machte damit deutlich, daß sie nicht in ein Gespräch verwickelt werden wollte.
Der Taxifahrer respektierte natürlich den unausgesprochenen Wunsch, aber er dachte bei sich, daß dem jungen Ding, so elend es aussah, ein freundliches Gespräch bestimmt nicht schaden würde. Aber das war natürlich nicht seine Entscheidung, er hoffte nur, daß die junge Frau dort, wohin sie nun gebracht werden sollte, Freundlichkeit finden würde.
Und Hilfe. Ja, Hilfe brauchte sie wohl auch. Der Taxifahrer war ein erfahrener Mann, er wußte seine Fahrgäste in der Regel richtig einzuordnen.
»Goethestraße«, sagte er schließlich. »Wir sind gleich da. Welche Hausnummer?«
Doch die junge Frau schüttelte den Kopf. »Lassen Sie mich aussteigen, wenn wir in der Goethestraße sind.«
»Wissen Sie die Hausnummer nicht?«
»Nein. Aber das ist unwichtig.«
»Na gut. Wie Sie meinen.«
An der nächsten Ecke ließ der Fahrer den Wagen auslaufen. »Das ist die Goethestraße«, sagte er.
»Ja, danke. Was muß ich zahlen?«
Der Fahrer nannte den Betrag und nahm das Geld in Empfang. »Kommen Sie denn allein zurecht?« fragte er. »Kann ich noch etwas für Sie tun?« Die junge Frau sah so hilflos aus, er mochte sie gar nicht gern allein lassen. Und auf der Straße war offensichtlich auch niemand, der auf sie wartete.
»Nein, nein, danke. Ich brauche keine Hilfe. Sie waren sehr freundlich. Danke.«
Ein wenig schwerfällig, so als hätte sie Schmerzen, kletterte sie aus dem Wagen, nahm die graue Reisetasche an sich und schenkte dem Fahrer ein kleines Lächeln, hinter dem sich wieder diese große Traurigkeit verbarg. Der Mann merkte es wohl, aber er wußte auch, daß er nichts tun, nicht helfen konnte, so leid es ihm auch tat. Also nickte er der jungen Frau nur aufmunternd zu, sagte freundlich: »Alles Gute für Sie«, und setzte sein Fahrzeug wieder in Bewegung.
Die junge Frau, ihre Reisetasche behutsam, fast zärtlich an sich gedrückt, wartete, bis der Wagen um die Ecke verschwunden war. Dann erst sah sie sich suchend um. Ja, da war das Straßenschild – Goethestraße, las sie. Und die Hausnummer wußte sie sehr genau, sie hatte sie nur nicht nennen wollen. Goethestraße siebenundzwanzig.
Das Haus war schnell gefunden. Viel zu schnell, fand die junge Frau, und ihre Schritte wurden immer schwerer, immer langsamer. Aber da war das Haus, und da war die Eingangstür – genau so, wie sie es in der Beschreibung gelesen hatte. Noch einen Augenblick zögerte die junge Frau, es sah so aus, als wolle sie umkehren, zurücklaufen, aber sie tat es nicht.
Alle Überlegungen, Unsicherheiten, die verzweifelte Suche nach einem anderen Ausweg lagen hinter ihr. Der Entschluß war gefaßt, er war unwiderruflich, denn sie wußte ja, es gab keine andere Lösung. Also ging sie nun entschlossen auf die Tür zu, die so lag, daß sie von der Straße her vor Einsicht ziemlich geschützt war.
Und da war sie… die Klappe in der Tür. Etwa dreißig Zentimeter hoch und siebzig Zentimeter breit. Eine Stahlklappe, die man von außen sehr leicht öffnen konnte. Die junge Frau tat es nun ohne weiteres Zögern, und gleich hinter der Klappe sah sie dann das Babybettchen.
Sauber, einladend, ein Wärmebett, das einem Neugeborenen Geborgenheit verhieß. Ein Informationsblatt war auch da, und ein Stempelkissen und Papier.
Die junge Frau hatte die Reisetasche auf den Boden gesetzt und öffnete den Reißverschluß nun ganz. Mit einem leisen, verzweifelten Weinen nahm sie das Bündel heraus, das sie in dieser Tasche transportiert hatte – es war ein Baby. Ihr Baby!
Es hatte ruhig geschlafen, öffnete nun die großen dunklen Augen, was der jungen Frau beinahe die Fassung raubte. Sie schluchzte laut auf, bedeckte das süße Gesichtchen mit Küssen, sie schmeckte ihre eigenen salzigen Tränen, und sie wußte nicht, wie sie das durchstehen sollte, was sie nun tun mußte. Rasch wollte sie das Bündel in das Wärmebettchen legen, aber ihr Blick fiel auf das Stempelkissen.
Wenigstens ein Erinnerungsstück wollte sie von ihrem Kind behalten, und dafür hatten liebevolle und fürsorgliche Menschen die Utensilien wohl auch bereitgestellt. Weinend schälte die unglückliche junge Mutter eines der winzigen Händchen aus der schützenden Decke, drückte es auf das Stempelkissen, dann auf das daneben liegende Papier, ein letzter, inniger, verzweifelter Kuß… dann legte die junge Frau ihr Kind behutsam in das Wärmebettchen. Sie nahm das Blatt Papier an sich, schloß die Stahlklappe, die sich nun, das wußte sie, nicht mehr öffnen lassen würde… und dann lief sie davon.
Blind vor Tränen, das Blatt Papier an sich gepreßt. Das einzige, was sie nun noch von ihrem Kind hatte.
*
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