Marios Traum ...: Mami 1871 – Familienroman
Von Silva Werneburg
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Die meisten Touristen hatten den Strand bereits verlassen, waren in ihre Hotels zurückgekehrt oder tummelten sich noch auf der breiten Promenade, als Catalina Dagero ihren schon etwas altersschwachen blauen Kleinwagen auf einem Parkplatz an der Playa de Palma abstellte. Mütterlich legte sie ihren Arm um Mario und wanderte mit ihm hinüber zu der kniehohen Betonmauer, die den Sandstrand von der Promenade trennte. Fast an jedem Abend kam sie mit dem zwölfjährigen Jungen hierher, um den Sonnenuntergang zu beobachten. Auch an diesem Tag verschwand die Sinne blutrot hinter den Bergen, die die Bucht seitlich begrenzten. Früher hatte Mario oft mit seinen Eltern auf der Mauer gesessen und dem Sonnenuntergang zugeschaut. Lena und Alonso Hernandez waren gute Eltern gewesen, die alles für ihren Sohn getan und mit ihm zusammen als glückliche Familie gelebt hatten. Tagsüber waren sie stets von der Arbeit, die ihre kleine Autovermietung in Son Veri Nou mit sich brachte, in Anspruch genommen worden. Aber ihre Freizeit hatten sie ihrem Sohn gewidmet, Ausflüge mit ihm unternommen und ihn zu einem freundlichen, naturverbundenen Jungen erzogen.
Vor drei Wochen hatte das Schicksal mit unerbitterlicher Härte zugeschlagen. Auf dem Weg zu dem Kollegen, der sich erst kürzlich auf Mallorca niedergelassen hatte, waren Lena und Alonso Hernandez verunglückt. Ein junger, noch unerfahrener Autofahrer hatte den Wagen der beiden in der Sierra Torellas von der Bergstraße abgedrängt, nachdem er selbst die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren hatte. Lena und Alonso waren in eine Schlucht gestürzt und hatten diesen Unfall nicht überlebt. Mario wußte, daß seine Eltern
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Marios Traum ... - Silva Werneburg
Mami –1871–
Marios Traum ...
Er sehnt sich so sehr nach einem Zuhause
Silva Werneburg
Die meisten Touristen hatten den Strand bereits verlassen, waren in ihre Hotels zurückgekehrt oder tummelten sich noch auf der breiten Promenade, als Catalina Dagero ihren schon etwas altersschwachen blauen Kleinwagen auf einem Parkplatz an der Playa de Palma abstellte. Mütterlich legte sie ihren Arm um Mario und wanderte mit ihm hinüber zu der kniehohen Betonmauer, die den Sandstrand von der Promenade trennte. Fast an jedem Abend kam sie mit dem zwölfjährigen Jungen hierher, um den Sonnenuntergang zu beobachten. Auch an diesem Tag verschwand die Sinne blutrot hinter den Bergen, die die Bucht seitlich begrenzten. Früher hatte Mario oft mit seinen Eltern auf der Mauer gesessen und dem Sonnenuntergang zugeschaut. Lena und Alonso Hernandez waren gute Eltern gewesen, die alles für ihren Sohn getan und mit ihm zusammen als glückliche Familie gelebt hatten. Tagsüber waren sie stets von der Arbeit, die ihre kleine Autovermietung in Son Veri Nou mit sich brachte, in Anspruch genommen worden. Aber ihre Freizeit hatten sie ihrem Sohn gewidmet, Ausflüge mit ihm unternommen und ihn zu einem freundlichen, naturverbundenen Jungen erzogen.
Vor drei Wochen hatte das Schicksal mit unerbitterlicher Härte zugeschlagen. Auf dem Weg zu dem Kollegen, der sich erst kürzlich auf Mallorca niedergelassen hatte, waren Lena und Alonso Hernandez verunglückt. Ein junger, noch unerfahrener Autofahrer hatte den Wagen der beiden in der Sierra Torellas von der Bergstraße abgedrängt, nachdem er selbst die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren hatte. Lena und Alonso waren in eine Schlucht gestürzt und hatten diesen Unfall nicht überlebt. Mario wußte, daß seine Eltern tot waren, aber begreifen konnte er das auch jetzt, nach drei Wochen noch nicht. Manchmal wachte er nachts auf und glaubte, nur einen bösen Alptraum erlebt zu haben. Doch dann wurde ihm sehr schnell bewußt, daß er tatsächlich ganz allein auf dieser Welt war. Er besaß keine Angehörigen, die sich um ihn hätten kümmern und seinen Schmerz mit ihm teilen können. Da war nur Catalina Dagero, die Nachbarin seiner Eltern. Die fünfzig Jahre alte Frau, die vor einem Jahr ihren Mann verloren hatte, hatte mitunter in der Autovermietung ausgeholfen, die Räume und Fenster geputzt und sich auf diese Weise etwas nebenbei verdient. Ihre beiden Kinder waren längst erwachsen und hatten das Haus verlassen. Seit dem Tod ihres Mannes arbeitete Catalina Dagero in einem der Touristenhotels an der Playa de Palma. Für einen kleinen Nebenverdienst war sie jedoch immer dankbar gewesen. Nach dem Unglück, durch das Mario seiner Eltern beraubt worden war, hatte die Witwe keinen Moment gezögert und war sofort bereit gewesen, vorläufig für den Jungen zu sorgen. Eine endgültige Lösung, das wußte Mario, konnte dieser Zustand nicht sein. Catalina Dagero hatte durch ihre Arbeit nicht genug Zeit für ihn, und finanziell konnte sie es sich auch nicht leisten, ein Kind dauerhaft aufzunehmen. Aber bis zur endgültigen Klärung, wie es nun weitergehen sollte, war sie für Mario da, versorgte ihn und spendete ihm immer wieder Trost. Er war ihr dankbar dafür, fürchtete sich aber gleichzeitig vor der Zukunft, die völlig ungewiß vor ihm lag. Seine kleine heile Welt war total aus den Fugen geraten, und er hatte keine Ahnung, was nun aus ihm werden sollte.
»Ist dir kalt?« fragte Catalina, als ein Windstoß über den Strand fuhr und den Sand aufwirbelte. »Willst du dir die Jacke aus dem Wagen holen?«
Mario schüttelte den Kopf. »Nein, ich friere nicht. Der Wind ist ziemlich warm.«
Die beiden sprachen spanisch miteinander. Mit seinen Eltern hatte Mario viel deutsch gesprochen. Seine Mutter stammte aus Deutschland, sein Vater war auf Mallorca geboren und aufgewachsen. Beide Elternteile hatten dafür gesorgt, daß ihr Sohn zweisprachig erzogen wurde. Catalina Dagero hatte durch ihre Arbeit im Hotel auch schon einige deutsche Wörter und einfache Sätze aufgeschnappt und verstand die überwiegend deutschen Touristen recht gut, wenn diese langsam und deutlich sprachen. Mit Mario unterhielt sie sich allerdings lieber in ihrer Muttersprache.
»Ob Papa und Mama jetzt wirklich im Himmel sind und von dort auf mich herabschauen können?« fragte der Junge mit einem Blick zu den von der untergehenden Sonne leuchtend rot gefärbten wenigen Wolken, die über den fernen Bergkuppen schwebten.
»Ganz sicher sind sie im Himmel«, erwiderte die gläubige Katholikin. »Sie sind die besten Menschen gewesen, die ich jemals kennengelernt habe. Der liebe Gott wird ihnen einen ganz besonders schönen Platz im Himmel zugewiesen haben, und er wird auch für dich sorgen, Schutzengel über dich wachen lassen und alles so einrichten, daß für dich alles wieder gut wird. Enrico Baleri, der Notar deiner Eltern, hat schon einen Brief an deine Patentante in Deutschland geschickt. Ich bin sicher, daß sie kommen und sich um dich kümmern wird.«
»Tante Simone? Ja, vielleicht kommt sie tatsächlich. Ich kann mich gar nicht mehr so richtig an sie erinnern. Es ist schon fünf Jahre her, seit sie zuletzt mit ihrem Mann hier auf Mallorca gewesen ist. Wie sie und Onkel Alfons aussehen, weiß ich kaum noch. Aber Tante Simone ist nett. Sie schreibt mir manchmal, und zum Geburtstag und zu Weihnachten schickt sie immer ein Geschenkpäckchen. Zwei- oder dreimal im Jahr ruft sie auch an und unterhält sich mit mir. Ich weiß allerdings nicht, ob sie mir tatsächlich helfen kann. Tante Simone und Onkel Alfons haben selbst ein Kind, eine Tochter. Wahrscheinlich können sie sich nicht auch noch um mich kümmern.«
»Man kann vieles, wenn man es wirklich will«, entgegnete Catalina. »Mache dir jetzt keine Sorgen. Es wird sich alles finden.«
Dieser gute Ratschlag war nicht leicht zu befolgen. Mario konnte seine Sorgen nicht unterdrücken, obwohl er sich sehr darum bemühte. Aus einer nahe gelegenen Bar klangen fröhliche Stimmen zu ihm und Catalina herüber. Ein paar Urlauber wanderten gut gelaunt die Strandpromenade entlang, und ein älteres Ehepaar hatte sich in der Nähe auf der Betonmauer niedergelassen, schaute den am Strand auslaufenden Wellen zu und machte Pläne für den kommenden Urlaubstag. Keiner der Gäste, die sich zur Zeit auf der Insel aufhielten, schien irgendwelche Probleme zu haben. Sie alle genossen offensichtlich unbeschwert ihre Ferien. Diese Erkenntnis ließ Mario noch trauriger werden, als er ohnehin schon gewesen war. Aber er fragte sich, warum das Schicksal ausgerechnet ihn so hart getroffen hatte und warum er nicht auch glücklich sein durfte. Schließlich hatte er doch nichts verbrochen, für das er hätte bestraft werden müssen. Trotzdem waren ihm die Eltern genommen worden, und eine noch größere Strafe konnte es für einen so jungen Menschen wohl kaum geben.
»Die Sonne ist untergegangen, und jetzt wird es wirklich kalt«, stellte Mario fest. »Fahren wir wieder zurück?«
Catalina Dagero nickte und erhob sich. Es wurde Zeit, nach Hause zu fahren. Am nächsten Tag begann pünktlich um sieben Uhr morgens ihr Dienst im Hotel. Sie mußte früh zu Bett gehen, um ausgeschlafen und frisch an ihrem Arbeitsplatz zu erscheinen.
*
Hastig löffelte Laura Winkler die Cornflakes aus der Porzellanschale. Obwohl ihre Mutter sie rechtzeitig geweckt hatte, war die Elfjährige zu spät aufgestanden, hatte anschließend noch im Badezimmer herumgetrödelt und wieder einmal nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war. Nun mußte sie sich eilig auf den Schulweg machen und konnte sich nicht viel Zeit für das Frühstück lassen. Simone Winkler hatte es sich abgewöhnt, ihre Tochter noch früher zu wecken. Dann trödelte Laura nämlich noch länger beim Waschen und Anziehen und geriet am Ende in dieselbe Zeitnot. Bis jetzt war es