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Claras Vater: Drei Erzählungen
Claras Vater: Drei Erzählungen
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eBook305 Seiten4 Stunden

Claras Vater: Drei Erzählungen

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Über dieses E-Book

Der Blick auf unser Leben erscheint plötzlich in einem anderen Licht. Alles verändert sich. Drei Geschichten erzählen von zufälligen Begegnungen, von Verlieren und Finden, von Sehnsucht, Hoffnung und Entscheidungen, von Geheimnissen und der Flüchtigkeit des Glücks.

Dominik ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, dessen Ehe nur noch von seiner kleinen Tochter Clara zusammengehalten wird. Sein Leben gerät ins Wanken, als er seine große Liebe wiedertrifft. Sie vertraut ihm nicht mehr.

Luisa und Johannes sind beide geschieden. Sie verlieben sich ineinander. Ein dunkles Geheimnis tritt zutage.

Antonia ist plötzlich verwitwet, schwanger und voller Ängste. Sie bittet die Äbtissin des Klosters um Hilfe. Ihre Schwägerin, Schwester Charlotte, steht ihr zur Seite. Während dieser Zeit begegnet Charlotte Jonas, Antonias Bruder, der in Indien lebt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum29. Sept. 2023
ISBN9783384031242
Claras Vater: Drei Erzählungen
Autor

Hildegard Liebl

Hildegard Liebl ist im Saarland geboren. Schon als kleines Mädchen träumte sie davon Schriftstellerin und Ärztin zu werden. Aus der Ärztin ist nichts geworden. Als Jugendliche wurde sie sehr krank, musste für lange Monate das Gymnasium aussetzen. Der später erlernte Beruf der Kauffrau, entsprach ihr überhaupt nicht. Mit knapp zwanzig zog sie nach München, ließ sich Jahre später zur Heilpraktikerin ausbilden und begann zu schreiben. Geschichten, wo der Leser eintauchen und sich wieder finden kann. Emotionsgeladen, farbenprächtig, dramatisch. Oft angesiedelt in tropischer oder mediterraner Landschaft. Ihre Leidenschaften Reisen in tropische Länder Sommer in Griechenland Klassische Musik Kino Hildegard Liebl lebt in München-Schwabing. https://hildegard-liebl.de/

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    Buchvorschau

    Claras Vater - Hildegard Liebl

    Claras Vater

    1990 – Freitag, 8. Juni

    1 Pauline

    Auf den Wiesen im Englischen Garten lag Tau. Pauline fuhr am frühen Freitagmorgen gemächlich mit dem Fahrrad durch den Park, tief sog sie die wunderbar reine Luft ein.

    An diesem herrlichen Junimorgen waren kaum Leute unterwegs. Pauline liebte es, sich vor der Öffnung ihrer Buchhandlung zu bewegen. Und Fahrrad fahren war nun mal ihr Lieblingssport. Ein Jogger kam ihr entgegen und winkte, sie winkte zurück, man kannte sich vom Sehen.

    Ihr ging es wieder richtig gut. Gestern Abend hatte sie Stefan getroffen. Seltsam hatte es sich angefühlt, da war nichts mehr von großen Gefühlen. Als wäre ihre Ehe nie gelebt worden. Sie dachte nur noch selten an die gemeinsam verbrachte Zeit. An all die guten Augenblicke, an das Verstehen und die Leidenschaft, die sie viele Jahre lang miteinander geteilt hatten. Letztendlich hatte zur Trennung geführt, dass beide die jeweils eigenen Anliegen für die wichtigsten der Welt gehalten hatten. Konnten sich Gefühle in Luft auflösen? Selbst wenn sie tiefer in sich hineinhörte, war nicht mehr viel von ihrer Ehe zu finden. Sie war froh, als ein letzter gemeinsamer Abend vorbei gewesen war. Gewiss, Stefan hatte sich sehr bemüht, ihr einen schönen Abend zu bereiten. Sie waren im Guten auseinander gegangen. Im Grunde genommen hatten sie immer gewusst, dass ihre Ehe nicht halten würde. Mit seiner neuen Partnerin klappte es wohl auch nicht besonders, aber das war ihr egal. Sie war froh, dass ihr Herz wieder in einem verlässlichen Rhythmus schlug. Die Wunden mit Stefan waren vernarbt. Niemand war schuld, es war eine lange Reise gewesen, ein Kreis der sich geschlossen hatte. Sie konnten wieder respektvoll miteinander umgehen.

    Pauline fuhr Richtung Monopteros. Sie stellte das Rad dort ab, im Vertrauen darauf, dass es um diese Zeit sicherlich nicht gestohlen würde, und lief nach oben auf den Hügel.

    Sie liebte diesen Blick auf ihre Stadt. Hier in München war sie geboren, hier lebte sie gerne, hier war ihr Herzensort. Von hier aus konnte sie herrliche Ausflüge zu den Seen machen. Vor allem zu dem Starnberger See, dem Ammersee und dem Chiemsee. Gewiss war das Leben hier teuer, der Verkehr nahm immer weiter zu. Aber es gab sie immer noch, die besonderen stillen Orte und Parks, die zu bestimmten Zeiten fast menschenleer waren.

    Sobald Pauline sich in der Natur aufhielt, sortierten sich ihre Gedanken wie von selbst. Es gab nichts Schöneres, als den Tag draußen in der Natur zu beginnen. Sie stieg vom Monopteros hinab, nahm ihr Fahrrad, fuhr zum Schwabinger Bach und setzte sich dort auf eine Bank. Sein Wasser plätscherte sanft über die Kiesel hinweg. Glitzernd schlängelte er sich an sattgrünen Wiesen vorbei, unterbrochen von großen Baumgruppen. Durch die Laubdächer fanden Sonnenstrahlen ihren Weg. In der Nähe des Bachufers blühten gelbe und blaue Wasserlilien, umschwirrt von Libellen. Pauline konnte sich kaum satt sehen an dem Spiel des Sonnenlichts. Sie liebte es, wenn unter der grünlichen Oberfläche manchmal unvermittelt flüchtige Schatten auftauchten und blitzartig wieder verschwanden. Pauline blickte auf ihre Armbanduhr. Wenn sie jetzt losfuhr, könnte sie noch mit Bele Kaffee trinken. Nichts wie heim, duschen und umziehen.

    2 Dominik

    Dominik stand am Fenster im Wohnzimmer seines Hauses und betrachtete den blühenden Garten. Weiter hinten konnte man ein Stück vom See entdecken. Mit großer Mühe, Freude und Stolz hatte er dieses Haus gebaut. Für Clara und Friederike ein Heim geschaffen. Und was hatte es gebracht? Er war unruhig, ziemlich aufgewühlt, er musste so schnell wie möglich nach München in seine Agentur. Da lag auch einiges im Argen.

    In Gedanken versunken dreht er sich um und betrachtete das Chaos. Gebrauchte Handtücher, schmutziges Geschirr, verwelkte Blumen in einer Vase. Dominik versuchte, tief durchzuatmen. Er wusste, dass auch er nicht der ordentlichste war, aber so ein Chaos war selbst ihm zu viel.

    „Kannst du dich um Clara kümmern und sie dann in den Kindergarten bringen?" hörte er Friederikes Stimme aus der Küche.

    Dominik zuckte zusammen, das durfte doch nicht wahr sein.

    „Du weißt doch, dass ich gleich fort muss. Ich kann mich nicht kümmern."

    „Du kümmerst dich nie!" schrie Friederike, als sie ins Zimmer kam.

    Mit wütendem Gesicht begann sie, den Tisch abzuräumen.

    „Den ganzen Tag sitze ich hier und weiß vor Arbeit nicht mehr aus noch ein und du, du…" Ihre Stimme überschlug sich fast.

    Ging das schon wieder los. Dominik schüttelte den Kopf.

    „Ich brauche mir nur das Chaos hier anzusehen, dann weiß ich genug!", schrie er zurück.

    Friederike nahm eine schmutzige Tasse und warf sie nach Dominik. Sie verfehlt ihn, die Tasse zerschellte am Boden. In diesem Moment kam Clara weinend ins Zimmer gelaufen. Sie flüchtet in die Arme ihres Vaters. Dominik nahm sie hoch, hielt sie ganz fest. Auch das noch. Wieso hatten sie beide so geschrien? Sie konnten nicht mehr normal miteinander reden.

    Er drückte Clara ganz fest an sich, versuchte seiner Stimme einen ruhigen Klang zu verleihen. Das Kind sollte nicht mitbekommen, wie aufgewühlt er war.

    Clara war ein so schönes, knapp vierjähriges Mädchen. Die rötlichen Haare und die blauen Augen hatte sie von ihm. Er hatte als Kind auch rötliche Haare gehabt. Die zierliche Figur, die hatte sie von ihrer Mutter.

    „Clara, wir haben nur ein wenig gezankt. Du zankst doch auch mit deinen Freunden im Kindergarten. Hast du mir erzählt."

    Clara nickte, ihr Weinen ging in ein Schluchzen über.

    „Wenn Papa und Mama streiten, dann hat das nichts mit dir zu tun.

    Wir lieben dich ganz doll, das weißt du doch."

    Clara Schluchzen verebbte ein wenig. Sie klammerte sich noch fester an ihren Papa. Vorsichtig versuchte Dominik mit seiner Hand ihre Tränen abzuwischen. Clara schluchzte noch ein wenig, beruhigte sich endlich.

    Stumm, noch immer zornig hatte Friederike die Szene beobachtet. „Jetzt ist er wieder der Gute, der tolle Papa", murmelte sie und fuhr fort aufzuräumen.

    Dominik ging vor Clara in die Knie, nahm ihre beiden Hände in seine.

    „Die Mama wird dich nachher in den Kindergarten bringen, der Papa muss dringend in seine Firma nach München, das verstehst du doch."

    Clara sah ihren Vater mit großen Augen an. „Fahren wir bald mit dem großen Schiff auf dem See?"

    „Versprochen Clara, das machen wir."

    Dominik erhob sich und verließ zusammen mit Clara das Wohnzimmer. Mit verkniffenem Gesicht sah Friederike ihnen nach.

    3 Bele

    Ein großes Badetuch um sich geschlungen trat Pauline in ihr Schlafzimmer. Sie zog ihre cremefarbene, spitzenbesetzte Unterwäsche an, schlüpfte in eine silbergraue Leinenhose und ein korallenfarbiges Oberteil. Bei Unterwäsche machte sie keine Kompromisse, als Kind hatte sie furchtbar hässliche Unterwäsche tragen müssen. In ihrem Schrank suchte sie nach einem passenden Schal, dazu den Farben entsprechende Ohrringe. Sie begutachtete sich vor dem Spiegel. „Naja, sie schüttelte ein wenig den Kopf, lächelte sich an. „Pauline, für deine sechsunddreißig Jahre bist du ganz in Ordnung, meinte sie zu ihrem Spiegelbild. „Aber die Ohrringe, die passen nicht!" Schnell wechselte sie diese.

    Die Ampel am Siegestor war ausgefallen und es war nicht einfach, mit dem Fahrrad die Fahrbahn zu überqueren. Pauline passierte das Siegestor, fuhr an der Kunstakademie vorbei und bog nach links ab in die Amalienstraße. Sie hielt an einer kleinen Bäckerei. Vor dem Laden standen zwei kleine, runde Tische mit vier Stühlen. Die waren von den Müllmännern besetzt, die gerade Pause hatten. Ein gewohntes multikulturelles Bild. Pauline fand es jedes Mal schön, dass diese Männer sich immer die Zeit nahmen, um gemeinsam zu frühstücken. Nie erweckten sie den Eindruck, in Eile zu sein. Pauline grüßte, sie grüßten zurück.

    Tassos, der griechische Besitzer, war gerade damit beschäftigt, neue Butterbrezen in die Vitrine zu legen, als sie das Geschäft betrat.

    „Guten Morgen Tassos, da kannst Du mir gleich drei einpacken! „Guten Morgen Pauline, wie hat dir unser kleines Konzert gefallen?

    „Du weißt doch, dass ich griechische Musik liebe. „Deinen Freunden, hat es denen auch gefallen? „Aber ja!"

    „Ihr wart so schnell weg."

    „Es war schon spät, Tassos."

    „Die Deutschen mit ihrer Zeit…" Tassos bewegte den Kopf hin und her, so als würde er das mit der Zeit nochmal betonen wollen, während er die Brezen in eine Tüte packte.

    „Wir wiederholen das Konzert bald", dabei nickte er begeistert.

    Pauline nahm ihren Geldbeutel aus der Tasche.

    „Zahlst du ein anderes Mal." Huldvoll nickte Tassos dabei mit dem Kopf während er Pauline die Tüte reichte.

    „Aber Tassos, du hast mir schon so viel geschenkt…!"

    „Wer gibt, der nimmt auch…also, nimm schon!"

    „Danke."

    Pauline verließ lächelnd das Geschäft. Tassos sah ihr wohlwollend nach. Er hatte schon eine Frau, eine sehr bestimmende Griechin. Die Mutter seiner beiden Söhne. Aber Pauline, die war was Besonderes. Er freute sich immer, wenn sie in seine Bäckerei kam und ihn mit diesen blau-grünen Augen ansah. Eine attraktive Erscheinung mit vielen Lachfältchen. Selbstbewusst, humorvoll. Und was sie als Frau schon alles auf die Beine gestellt hatte. Sie gefiel ihm, aber lieber war er mit seiner Frau verheiratet. Pauline das erkannte er, die wäre nichts für einen griechischen Mann. Naja, er bewunderte sie, aber als Ehefrau, das wäre schwierig, da hätte er keine Freiräume wie bei seiner Frau. Die fragte ihn nicht aus, wenn er spät nach Hause kam und mit seinen Freunden zusammen war. Sie ahnte garantiert nichts von seinen kleinen Affären.

    Pauline legte die Tüte in ihren Fahrradkorb und fuhr die kurze Strecke zu ihrer Buchhandlung. Die befand sich im Erdgeschoss eines fünfstöckigen Hauses. Eine große, schwere Glastüre führte in einen Durchgang, dahinter befand sich ein kleiner Garten und mehrere Fahrradständer. Es war jedes Mal ein Kraftakt, diese Tür aufzudrücken. Pauline stellte das Rad im Hof ab und begab sich wieder nach draußen auf die Straße. Sie bemerkte, dass sich ihr Geschäftspartner Franz Goll schon im Buchladen befand. Sie wechselten sich ab mit den Zeiten, das klappte seit Jahren gut. Pauline hätte sich keinen besseren Partner als Franz wünschen können. Als sie vorbeiging, sah er sie und sie winkten einander zu. Pauline gab ihm mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie noch nebenan zu Bele in den Blumenladen ging.

    Voller Bewunderung betrachtete Pauline eine ganze Weile von außen Beles Laden. Jede Blumensorte hatte diese individuell in Szene gesetzt. Alabasterfiguren, Muscheln und Engel waren überall in dem kleinen Laden verteilt. In verschiedenen Vasen standen aufbrechende Knospen von Klatschmohn neben blassblauen Hortensien. Weiter hinten präsentierte sie Olivenzweige in einer Amphore, daneben fanden sich dicht behangene Zitronenzweige. Große Glasgefäße waren gefüllt mit besonderen Rosensorten. Wenn Bele einen Strauß band, verwendete sie stets nur eine Blumensorte. So kam für sie die Schönheit der jeweiligen Pflanze zur Geltung. Wenn ein Kunde auf einen konventionellen Strauß bestand, schickte sie ihn zur Konkurrenz.

    Sie betrat das Geschäft. Bele war gerade mit einem Kunden beschäftigt.

    „Grüß Gott zusammen!"

    „Grüß Dich Pauline", lächelte Bele und wandte sich wieder dem Kunden zu. Dieser holte eine bestellte Rose im Topf ab. Bewundernd betrachtete er das Gedicht, welches Bele an die Pflanze gebunden hatte. Handschriftlich, auf feinstem Büttenpapier, hatte sie ein Gedicht von Rainer Maria Rilke abgeschrieben

    Wilder Rosenbusch

    Wie steht er da vor den Verdunkelungen

    Des Regenabends, jung und rein

    In seinen Ranken schenkend ausgeschwungen

    Und doch versunken in sein Rose-sein

    Die flachen Blüten, da und dort schon offen

    Jegliche ungewollt und ungepflegt,

    so, von sich selbst unendlich übertroffen

    und unbeschreiblich aus sich selbst erregt,

    ruft er dem Wandrer, der in abendlicher

    Nachdenklichkeit den Weg vorüberkommt

    Ob sie mich sehn, sieh her, was bin ich sicher

    Und unbeschützt und habe was mir frommt

    Rainer Maria Rilke 1875-1926

    „Ja, liebe Frau Petrakis, da ist ihnen wieder einmal eine großartige Überraschung gelungen, äußerte sich der Kunde begeistert. „Die Empfängerin wird sich freuen! Überschwänglich drückt er Beles Hand.

    „Für mich lassen Gedichte die unterschiedlichsten Blüten lebendig werden. Sie haben einfach ein Gespür für das Besondere, Frau Petrakis."

    „So soll es sein", lächelte Bele ihn an.

    Mit erneutem Handschlag verabschiedete sich der Stammkunde.

    Pauline hielt dem Kunden die Türe auf und schloss sie hinter ihm.

    „Deine Rosen, Bele, die sind mal wieder ganz was Besonderes, meinte Pauline und zeigte begeistert auf die Rosen. „Und wie die duften!

    „Die sind heute im Morgengrauen aus Südfrankreich angekommen."

    Für einen Augenblick war es ganz still zwischen den beiden Frauen, während sie die Rosen betrachteten.

    „Rosen haben für mich einen unglaublichen Zauber, unterbrach Bele die Stille. „Kostbarkeiten, die mich ruhig und glücklich machen.

    Pauline nickte zustimmend. Dann gestikulierte sie mit der Bäckertüte.

    „Ich habe uns was zum Futtern mitgebracht."

    „Und der Kaffee ist schon durchgelaufen", antwortete Bele.

    Die beiden Frauen gingen durch den kleinen Laden nach hinten in einen Extraraum. Dort gab es einen Bistrotisch mit zwei Stühlen, einen großen Arbeitstisch für die Blumen und eine winzige Küchenzeile. Auf dem großen Tisch lag ein weiteres, handgeschriebenes Gedicht, diesmal von Goethe

    Blumengruß

    Der Strauß den ich gepflückt

    Grüße dich vieltausendmal!

    Ich habe mich oft gebückt,

    ach, wohl eintausendmal

    Und ihn ans Herz gedrücket

    Wie hunderttausendmal!

    „Wieder für einen Stammkunden?", wollte Pauline wissen.

    „Nicht unbedingt. Ich war gestern Abend in Schreiblaune. Wird schon für jemanden passen."

    Pauline betrachtete Bele, während diese Kaffee in große Tassen goss.

    Sie war einmal Porzellanmalerin gewesen. Bei einem Unfall hatte sie sich damals beide Hände gebrochen. Obwohl sie gut verheilt waren, waren diese Hände für diese besondere Malerei mit einem hohen Qualitätsanspruch nicht mehr zu gebrauchen, da besonders auf Porzellan viel feiner gemalt werden musste als auf Papier. Schon damals galt ihre Liebe der Blumenmalerei und Gedichten, die mit Blumen zu tun hatten. Ihre Eltern waren Griechen, die einst als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen waren. Bele war vor 65 Jahren hier geboren worden, mitten in Schwabing. Obwohl es ihr an Verehrern nicht gemangelt hatte, so hatte Bele nie geheiratet, nie eine Wohnung mit einem Mann geteilt. In ihrem Herzen war sie schon immer eine Feministin gewesen, die sich bis heute für Frauenrechte einsetzte. Sie sperrte immer im August ihren Laden zu und fuhr nach Griechenland, aber wenn man sie fragte, ob sie später mal ganz dort leben wollte, verneinte sie.

    „Das wäre ja noch schöner, die Verwandtschaft würde mir was Schwarzes anziehen, mich bevormunden und ich wäre die Alte, nein danke."

    „Sie würden es kümmern nennen", gab Pauline lachend zur Antwort.

    Seit über zehn Jahren hatte sie nun diesen wunderbaren Blumenladen, den ihr damaliger langjähriger, verheirateter Geliebter ihr eingerichtet hatte.

    Sie war noch immer schön, obwohl sie nicht mehr schön war. Ihre schwarzen Haare waren zu einem Knoten zusammengefasst, um den Kopf geschlungen trug sie je nach Gefühl des Tages einen farbigen Schal. Noch immer dunkel und feurig strahlten ihre Augen und ihre blutrot geschminkten Lippen. Sie hatte ein gutes Leben, einen wunderbaren Freundeskreis und seit vor drei Jahren der Geliebte starb, eine thailändische Freundin, die ihren Haushalt führte und für die Sauberkeit im Blumenladen sorgte.

    Seit Pauline und Franz vor einigen Jahren den Buchladen eröffnet hatten, waren sie gute Nachbarn. Am Anfang, als so manches nicht geklappt hatte, wusste Bele immer Rat und half. Sie waren echte Freundinnen. Sie vertrauten einander. Jeden Freitag nach Geschäftsschluss spazierte Bele in die Schwabinger Ursulakirche, setzte sich dort vor das Bild des Heiligen Judas Thaddäus, ließ die Woche Revue passieren. „Wenn nichts mehr hilft, erklärte sie stets voller Überzeugung, „DER hilft immer!

    Pauline und Bele nahmen einen großen Schluck von dem Kaffee und bissen genießerisch in ihre dick mit Butter bestrichenen Brezen. „Hast du nicht morgen den zweiten Teil deines Fortbildungsseminars für Buchhändler in diesem Kloster?", wollte Bele wissen.

    „Ja, nur noch dieses Wochenende. Das nächste Seminar findet im Herbst statt, das muss dann Franz übernehmen."

    „Sind die Themen interessant?"

    „Sehr. Du glaubst ja gar nicht, wie viele Neuerungen es im Buchhandel gibt."

    „Übrigens, Pauline, ich kenne das Kloster in der Nähe von Weilheim. Ich war mal dort auf einer Kunstausstellung. Es ist sehr schön gelegen. Soviel ich weiß, unterhält das Kloster auch ein Internat."

    „Das stimmt, aber sie haben auch externe Schüler. Keine Mädchen, nur Jungs.

    Seit Jahren vermieten die Mönche Seminarräume und bieten Übernachtungsmöglichkeiten an."

    „Und triffst du auch wieder diesen schnuckligen Pater?", meinte Bele verschmitzt.

    „Wie kommst du darauf?" Pauline sah Bele erstaunt an.

    „So begeistert wie du von diesem Pater Benedikt gesprochen hast…"

    „Hast du das so empfunden?"

    „Und ob. Bele lachte laut. „Tu nicht so überrascht, du hast ihn öfter erwähnt, als deinen Kurs. Irritiert sah Pauline Bele an.

    „Wer weiß? Vielleicht ist es das Verbotene, was dich so anzieht?", meinte Bele verschmitzt.

    Pauline lachte. „Das sagt ja die Richtige!"

    Noch den ganzen Tag musste Pauline an diesen Pater Benedikt denken. Vor Wochen waren sie sich zum ersten Mal begegnet. Sie war auf dem Weg zum Mittagessen gewesen und hatte sich verlaufen. Da entdeckte sie den Proberaum vom Theatersaal. Neugierig hatte sie die Türe geöffnet. Ein Pater im schwarzen Habit probte mit zwei Jungs ein Stück, alle hielten ein Skript in der Hand.

    „…Vater, endlich kann ich es loswerden", sprach einer der Jungs mit monotoner Stimme.

    „Halt!, rief der Pater, „da muss mehr Schwung rein. Bei so einem Text, Markus, passiert doch was, da kommen die unterdrückten Gefühle ins Spiel, das kannst du doch nicht herunterleiern. Nochmal von vorne.

    In diesem Moment entdeckte er Pauline, die ihrerseits verlegen eine Entschuldigung murmelte.

    „Ich habe mich verlaufen", dabei hielt sie noch immer die Türklinke in der Hand.

    „Sie suchen sicher den Speisesaal?", rief er.

    „Einfach geradeaus, dann rechts und dann wieder rechts!"

    Pauline bedankte sich, drehte sich um, ging hinaus und schloss die Türe hinter sich.

    Da war dann noch dieser Sonntagspätnachmittag nach Beendigung des Seminars gewesen. Das Kloster lag in wunderbarem Licht und sie wollte ein wenig den herrlichen Garten und die frische Luft genießen, bevor sie nach Hause fuhr. Auf dem Weg zum Klostergarten war sie dem Pater erneut begegnet.

    Er saß inmitten von Jugendlichen auf einer Wiese und diskutierte laut mit ihnen über ein Fußballspiel. Er trug hellblaue Jeans, ein weißes Hemd und sah ziemlich attraktiv aus. Als sie vorüberging, stand er auf und kam auf sie zu. Er war sehr groß, schlank mit dunklen, dichten, längeren Haaren. Jung, bestimmt noch nicht vierzig.

    Er hatte ihr seine Hand hingestreckt

    „Pater Benedikt. Wir kennen uns vom Proberaum." Dabei lächelte er.

    Sie reichte ihm ebenfalls die Hand. „Pauline Günzburg."

    „Haben sie ihr Ziel erreicht?"

    Sie verstand nicht ganz.

    „Ich meine den Speisesaal?"

    „Ja. Es tut mir wirklich leid, dass ich sie gestört habe."

    „Das passiert öfter, besonders an den Wochenenden, wenn Seminare stattfinden. Es gibt ja auch so viele Möglichkeiten in diesem großen Haus."

    Noch auf dem Weg zurück nach München musste sie an seine großen, dunklen Augen denken, da war etwas in ihnen, was sie nicht konkret benennen konnte, was sie aber auf eigene Weise berührt hatte. Und plötzlich wusste sie, diese Augen waren von einer Art tiefem Schmerz umschattet gewesen.

    Benedikt hatte ihr versonnen nachgesehen. Sie war attraktiv mit ihren roten Haaren und den Sommersprossen, den schönen Augen. Sie war nicht sehr groß, ging ihm bis zu den Schultern. Sie hatte etwas Bezauberndes an sich. Sie wirkte zerbrechlich und gleichzeitig stark, in sich ruhend und gleichzeitig aufgewühlt. Der kurze Moment, als diese Frau in den Proberaum gekommen war, hatte etwas in ihm ausgelöst. Da waren Gefühle, die mit der Weiblichkeit zu tun hatten, die seit Monaten immer stärker wurden. Seit er sie gesehen hatte, musste er an sie denken.

    In letzter Zeit hatte er mehr und mehr versucht, diese Gefühle in einer gepanzerten Kammer seines Bewusstseins wegzusperren, aber das ging nicht, denn mit ihnen verschwanden auch die Engel. Manchmal gewannen die Dämonen den Kampf. Dann versuchte er sich an diesen dumpfen Schmerz zu gewöhnen, reihte ihn unter Alltagsbeschwerden eines Mönchs ein. Suchte Frieden im Gebet. Aber das gelang nicht oft. Erinnerungen machten ihm zu schaffen. Erinnerungen daran, wie er es genossen hatte, Frauen zu verführen, damals, als er sich noch nicht berufen fühlte, ins Kloster einzutreten. Sein Leben war nicht erst seit gestern eine verworrene Geschichte, ein chaotisches Geflecht. Tatsache war, dass er sich im Krisenmodus befand und nicht erst seit heute. Langsam stellte er Vieles infrage. Seine größten Schwierigkeiten waren die der Sexualität und des Gehorsams.

    4 Dominik

    Dominik parkte seinen Wagen in München-Schwabing auf dem firmeneigenen Parkplatz.

    Er hob den Kopf, räusperte sich immer wieder mit großer Anstrengung. Es war, also ob da vorne in seinem Brustkorb etwas festsitzen würde. Das Atmen fiel ihm schwer. Soviel Ärger momentan. Wieder überfiel ihn ein massives Räuspern. Mit der rechten Hand stützte er seinen Kehlkopf, aber er bekam keine Erleichterung.

    Das alles machte ihn ziemlich fertig. Er öffnete die Autotür, stieg aus.

    Half alles nichts, auf in den täglichen Kampf.

    Bevor er die Agentur betrat, betrachtete er das große Schild.

    Prepress Agentur Gutenberg und Lehmann.

    Dann betrat er das Foyer. Ulf Lehmann, sein Kompagnon, war dabei, sich einen Kaffee aus dem Automaten zu holen. Neben ihm stand ihr Mitarbeiter, Herr Kühle.

    „Guten Morgen allerseits!" Dominik hob die Hand zum Gruß.

    „Morgen" grüßte Ulf Lehmann knapp zurück, während er sich vier Würfel Zucker in den Kaffee rührte und einen großen Schluck davon trank. Es herrschte eine bedrückte Stimmung.

    „Sie haben mir gestern erzählt, meinte Dominik zu Herrn Kühle, „dass die Stoffmuster des Kunden immer noch nicht da sind. Wie sieht es aus? Heute ist schon Freitag und am Montag ist die Korrekturbesprechung bei dem Kunden Oberhauser.

    Herr Kühle zögerte eine Weile. „Voraussichtlich kann das Stoffmuster bis morgen nicht angeliefert werden. Wir haben aber verbindliche Farbwerte von dem Kunden bekommen, die wir für die Retuschen verwenden können."

    Dominik sah Herrn Kühle skeptisch an. Ulf Lehmann stand am Fenster und blickte hinaus, so als würde ihn die ganze Sache nichts angehen. Verärgert verließ Dominik das Foyer und begab sich in einen großen Arbeitsraum, wo alle Computer hochgefahren waren, nicht nur

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