Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Warte, ich komme mit
Warte, ich komme mit
Warte, ich komme mit
eBook198 Seiten2 Stunden

Warte, ich komme mit

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

„Eine mittlere Stadt in Baden-Württemberg in den 80er Jahren, gut bürgerliche Wohngegend, nicht wirklich aufregend. Hier lebt Anne, aparte Mittdreißigerin, verheiratet und Mutter von Zwillingen. Alles scheint seinen normalen, vorbestimmten Weg zu gehen, bis eines Tages ein dramatische Ereignis ihrem Leben einen Domino-Effekt gibt: wird sie den Fortlauf stoppen, Ihre Emotionen in den Griff bekommen und vor allem: das Geheimnis ihrer Herkunft bewahren können?“
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum30. Jan. 2015
ISBN9783738694192
Warte, ich komme mit

Ähnlich wie Warte, ich komme mit

Ähnliche E-Books

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Warte, ich komme mit

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Warte, ich komme mit - Lisa Fuchs

    27

    Kapitel 1

    Der 9. Januar war ein Montag und ein Wintertag von der Sorte, die einen mehr an Frühlingshimmel als an klirrenden Frost denken lassen.

    Lea erinnerte sich, irgendwo gelesen zu haben, daß man besonders schöne Erinnerungen in Einweckgläsern haltbar machen und so die Zeit überbrücken könne, die nicht so schön ist. Sie beschloß, sich nachher ein Glas »Urlaub im Süden, Sonne, den Duft von Rosenbüschen im Tessin und den der Lavendelfelder der Provence« aufzumachen.

    Sie war in der Zwischenzeit mit dem Frühstück fertig, die knapp neunjährigen Zwillinge Simon und Andreas in der Schule, und die Hausarbeit nebst einem Berg Schmutzwäsche warteten auf sie. Während sie das Waschbecken putzte, betrachtete sie sich im Spiegel: Ihr längliches Gesicht mit diesen schlecht zu beschreibenden Augen, deren Farbe an die von einem billigen grünen Preßglasaschenbecher erinnerte; »das einzige, was zählt in deinem Gesicht, sind die Augen, den Rest kannste vergessen«, hörte sie ihren Mann sagen. Na ja, so unrecht hat er nicht, dachte sie, der Rest war wirklich nicht der Rede wert: die lange schmale Nase, deren echte Herkunft sie erst vor wenigen Jahren erfahren hatte, der kleine, schmallippige Mund, der sie in Teenagerzeiten zu gewagten Schminktricks veranlaßt hatte und mit dem sie jetzt ungeschminkt besser zurechtkam. Genauso wie sie sich jetzt zu ihren kupferroten Haaren bekannte, deretwegen sie in ihrer Jugend oft gehänselt worden war. Als sehr rücksichtsvoll und diskret konnte man die Gegend nicht bezeichnen, in der sie aufgewachsen war. »Rothaarig und geil!« hatte man ihr als Sechzehnjähriger nachgerufen. Und als sie Jahre später während einer Auseinandersetzung ihren Mann gefragt hatte, weshalb er sie denn überhaupt geheiratet habe, hatte er, ohne zu überlegen, geantwortet: »Weil du die Geilste von allen warst.« Damals wäre ihr es lieber gewesen, wenn er statt dessen zugeschlagen hätte. Unter »Geilheit« verstand sie etwas anderes als das, wie sie sich sah: eine sinnliche Frau von fünfunddreißig Jahren, der man ihr Alter – wenn überhaupt – nur beim Lachen ansah; dann legte sich ein Kranz feiner Fältchen um ihre Augen, was diese im übrigen gar nicht unvorteilhaft unterstrich. Und sie lachte gern und viel.

    Ihre Figur war eher die einer Fünfundzwanzigjährigen, »wie ein Mannequin, nur mit zuviel Busen«, pflegte ihre Freundin Dagmar ohne Neid zu sagen. Und Neid gab es zwischen den beiden nicht, dreißig Jahre kannten sie sich, hatten Kindheit und den größten Teil ihrer Jugend zusammen in der gleichen Straße verbracht, bis sie Heirat und verschiedene Wohnsitze getrennt hatten. Erst nach den Kindern, einem Haus- bzw. Umbau beider Elternhäuser kamen sie nach zehn Jahren wieder zusammen, und es war, als wären sie nie getrennt gewesen.

    Obwohl sie sich äußerlich so stark unterschieden wie kaum zwei gleichaltrige Frauen gleicher Rasse, teilten sie doch fast alle Ansichten, konnten über das gleiche lachen und fanden ein- und dasselbe widerwärtig oder geschmacklos. Auch ihre Kinder glichen sich in der Beziehung; zumindest zwei davon: Andreas und Dagmars Alexander waren nahezu unzertrennlich. Obwohl sie äußerlich ebenso verschieden waren wie ihre Mütter; gegen Andreas mit der Ballettfigur seiner Mutter, dem betonten Hinterkopf seines Vaters und der legendären Nase seiner Vorfahren war Alex die identische Nachbildung seiner Mutter: Mit seinem schweren Knochenbau, trotz seiner zehn Jahre bereits breithüftig und mit einer deutlichen Neigung zu einem Bauchansatz ausgestattet, dem fröhlichen Lockenkopf seiner Mutter und der ererbten Kurzsichtigkeit seines Vaters gewiß nicht von der Natur verwöhnt, trug er alles mit dem ebenso genetisch veranlagten Mutterwitz und Humor, wie er in der Form bei Kindern seines Alters gewiß nicht häufig vorkommt.

    Als vor zwei Jahren Leas Mutter starb und kurz darauf Joachim die Leitung einer Zweigstelle in Leas Heimatstadt angeboten wurde, überlegten beide nicht lange und bauten das Haus ihrer Mutter um; das heißt, es wurde fast vollständig abgerissen und neu angebaut. Nur die Straßenfassade blieb in ihrer ursprünglichen Bauweise und wurde renoviert. Lea dachte gerne an die Baustellenzeit zurück; schließlich war es auch die Zeit der »Selbstverwirklichung«, obwohl sie diesen stark abgenutzten Begriff eigentlich nicht mochte. Aber er gab doch das wieder, was sie in dieser Zeit alles einbringen und verwirklichen konnte, was bisher nicht möglich gewesen war.

    Es war ihr so gut gelungen, daß sogar eine vielgelesene Wohnzeitschrift um einen Fototermin bat und das Ganze dann auch veröffentlichte; sehr zum Verdruß ihres Mannes, der all diesen Rummel haßte und doch seinen Stolz kaum verbergen konnte. In zwölf Ehejahren spielen sich gewisse Verhaltensweisen aufeinander ein, wie das Kochen eines gemeinsamen Gerichtes, das Lächeln in einer bestimmten Situation oder das Verändern der Stimme an ein- und derselben Stelle, das den Partner aufhorchen läßt.

    Er ließ ihr diesen Rahmen, den sie brauchte, und all das viele Neue, das sie immer wieder gegen seinen gespielten Widerwillen durchsetzte. Bewegungen, die sie in erstarrte Formen brachte, stellte er Dritten gegenüber gerne als »sein Werk« vor. Sie konnte gut leben damit, und obwohl sie nie ein Wort darüber verloren, war ihr dies im Grunde eigentlich lieber, als für eine dieser vorlauten, hysterischen und ständig ihren Mann herunterputzenden »Emmis« gehalten zu werden. Lea und Joachim amüsierten sich oft, nachdem sie solche Gäste zu Besuch gehabt hatten, wenn Lea sie anschließend überzeichnend parodierte.

    Als das Telefon klingelte, lächelte sie: Joachim rief oft in der Mittagszeit zu Hause an, um zu fragen, ob »alles in Ordnung« sei. Außenstehende empfanden es vielleicht als Kontrolle, Lea sah es als Anteilnahme an ihrem häuslichen Alltag; ein Stück ihrer Geborgenheit.

    »Hier spricht das 2. Polizeirevier der Autobahnpolizei, Hauptwachmeister Münzer. Spreche ich mit Frau Engelhorn?« Leas Herz klopfte plötzlich im Hals, und sie brachte keinen Ton heraus. »Können Sie in die Unfallklinik kommen, wir erwarten Sie.« – »Ist was mit meinem Mann?« hörte sie sich fragen und hatte Angst vor der Antwort. Doch der Polizist hatte bereits aufgelegt.

    Kapitel 2

    Das Personal der Unfallchirurgie war gewohnt, wahrscheinlich auch geschult, mit Angehörigen sogenannter »verstorbener Unfallopfer« umzugehen. Sie taten das umsichtig, fast routiniert. Man hatte Lea eine Beruhigungsspritze gegeben, nicht ohne vorher zu fragen, ob Kinder zu versorgen, weitere Angehörige zu verständigen oder wichtige Anrufe zu erledigen seien. »Dazu sind Sie nachher nicht mehr in der Lage«, meinte der Stationsarzt lakonisch. Lea wollte nur heim, weg von hier. Panik ergriff sie, als sie Joachim identifizieren sollte; man holte sie erst am Ende des Flures wieder ein. Dann kam der Schock. »Das Übliche«, vermerkte der behandelnde Arzt in seinem Bericht.

    Trotz der Spritze blieb die Ratlosigkeit. Sie wollte nur heim. Helmut, ein ehemaliger Schulkamerad und heute Polizist, erkannte sie auf dem Krankenhausflur und fuhr sie schweigend nach Hause. Mit wenigen Worten hatte er Dagmar die Situation erklärt. Sie nahm die Kinder zu sich und bat den Hausarzt, nach Lea zu sehen. Anschließend rief sie den Pfarrer an. Eigentlich wollte sie nur die Todesnachricht übermitteln und wegen eines Beerdigungstermines nachfragen, aber eigentlich hoffte sie auch darauf, er möge Lea besuchen, um etwas von ihrer Verzweiflung nehmen zu können. Aber das Pfarramt war an diesem Tag nur von dem neuen Diakon besetzt, der vor einer Woche hier sein Diakonatsjahr angetreten hatte. Dagmar versuchte, ihm in wenigen Sätzen das Geschehene zu schildern, und er versprach, es dem Pfarrer auszurichten, der bei einer Beerdigung sei.

    Nachdem Dagmar aufgelegt hatte, beschloß sie – die Bodenständige, die stets durch ihre klare Realitätsbezogenheit hervorstach und sich so leicht nicht aus dem Konzept bringen ließ – etwas zu Mittag zu kochen. Diese »Das-Leben-gehtweiter«-Theorie« war ihre große Stärke; sie behielt in noch so großer Hektik den Überblick. Und das war heute auch nicht anders. Spätestens heute abend, dachte sie, wird mich die Erkenntnis, daß Joachim nicht mehr lebt, wie ein Dampfhammer in den Boden rammen. Aber jetzt haben die Kinder Hunger. Und ich auch. Schon als Kind hatte sie gefuttert, sobald Probleme aufgetaucht waren. Darin unterschied sie sich gründlich von Lea; während die einen »Knoten in die Speiseröhre« bekam, sobald sie Sorgen hatte, war es bezeichnend für Dagmar, als ihr Jüngster unter dramatischen Umständen ins Krankenhaus gebracht werden mußte, daß man sie zu Hause mitten in der Nacht Leberwurstbrote verschlingen sah.

    Und als jetzt das ganze Haus nach Bratkartoffeln mit Frikadellen und Gurkensalat duftete, setzten sich alle um den großen, runden Eßtisch in Dagmars Küche, während sie mit Tellern und Besteck klapperte. Es klingelte an der Haustür. Dr. Scholl brachte Dagmar ein Rezept und sagte, daß Lea jetzt schlafe. Auch er konnte dem Geruch und der Einladung nicht widerstehen, obwohl die Frikadellen nicht reichten. »Ich brate mir ein paar Rühreier, machen Sie sich keine Sorgen um mich; ich komm’ schon zu meinen Sach’«, lächelte Dagmar. Während er, der Zyniker, in anderer Situation wohl auf die Kalorien zu sprechen gekommen wäre, zu denen sie dann auch kommen würde, sagte er entgegen seinem sonstigen Tonfall: »Was ein Glück, daß es Sie gibt! Und daß Lea Sie hat.«

    Kapitel 3

    Die Beerdigung war an einem Freitag, dem 13. Joachim hätte bestimmt gesagt: »So was kann auch nur dir passieren.« Zwar für zehn Uhr vorgesehen, waren schon kurz nach neun gut zwei Dutzend Menschen vor der Friedhofskapelle versammelt. Lea kam mit Absicht sehr spät. Es war ein bitterkalter Januarmorgen, und die Trauergäste saßen bereits, und wer keinen Sitzplatz mehr bekam, stand mit scharrenden Füßen auf dem kalten Terrazzo-Boden der Trauerhalle. Erst als das asthmatische Harmonium »So nimm denn meine Hände« zu spielen anfing, kam Lea hocherhobenen Hauptes, das Gesicht weiß und unbewegt, den Mittelgang entlang. Ohne nach rechts oder links zu blicken, setzte sie sich in die vorderste Reihe, neben Joachims Bruder, dessen Frau und Töchter sowie seiner Mutter, die die Reihe rechts außen abschloß, auf den äußersten linken Stuhl, fast unmittelbar vor den Sarg. Danach teilte sich nochmals die Menschenmenge, um dem Priester, dem Diakon sowie zwei Ministranten Platz zu machen. Die vier verbeugten sich vor dem Sarg, beweihräucherten ihn und drehten sich anschließend der Gemeinde zu, und dann geschah das, was Michael später als den Augenblick bezeichnete, der sein gesamtes Leben verändert habe. Er sah Lea.

    Zunächst sah er nur ihre Augen. Diese unbeschreibliche Farbe von innen leuchtenden grünen Steinen, vielleicht Smaragden, aber er hatte noch nie angestrahlte Smaragde gesehen. Lea hatte ihre Augen ziemlich stark geschminkt, teils um die Spuren der durchweinten Nacht zu beseitigen; in erster Linie allerdings, weil sie wußte, wie sehr Joachim es liebte, wenn sie die Augen anmalte, wie er das nannte. Und heute hatte sie es nur für ihn gemacht. Die schwungvoll gebogenen Brauen, eigentlich kräftiger als zur Zeit Mode war, dann diese unvergleichliche Nase – gleichbleibend breit von der Nasenwurzel bis zur Spitze, die sich tiefer biegt als die Nasenflügel –, darunter ein Mund, der im herkömmlichen Sinne vielleicht nicht unbedingt schön, auf Michael allerdings ungeheuer erotisch wirkte. So wie das ganze Gesicht und ihre ganze Gestalt eine vollkommene Synthese fleischgewordener Sinnlichkeit, ja Vollkommenheit darstellten. An genau berechneten Stellen schienen Fältchen zu sitzen, die der Mimik ihres Gesichtes eine große Tiefe gaben und das Trauern dramatischer, das Lachen übermütiger und die Leidenschaft intensiver machten.

    Michael war wie verzaubert. Man sah ihm seine vielen kleinen Fehler, Patzer und Unaufmerksamkeiten, die ihm von jetzt an passierten, wegen der kurzen Zeit, die er als Diakon tätig war, nach. Das einzige, was es ihm offenbar nicht verschlagen hatte, war seine Stimme: Er hatte einen ausgebildeten Bariton, dessen Fülle und Reinheit ursprünglich der Grund zum Musikstudium gewesen waren. Daß er dann über die Kirchenmusik zur Theologie kam, ist eine andere Geschichte. Jedenfalls sang er auf dieser Beerdigung wie ein »junger Gott«, wie anschließend viele meinten. Selbst Lea fiel das durch die Glocke, die sie sich durch die vielen Beruhigungsmittel übergestülpt hatte, auf, und sie überlegte, wer wohl diesen Opernsänger bestellt haben könnte, wo allgemein bekannt war, für wie geschmacklos sie so was auf Beisetzungen hielt. Allerdings beeindruckten sie die Festigkeit und Stärke der Stimme, und als sie bemerkte, daß sie dem jungen Diakon gehörte, war sie so etwas wie beruhigt.

    Das schier endlose Kondolieren am Grab ging schließlich doch über ihre Kräfte. Nach einer Stunde in dieser Eiseskälte erlitt sie einen Kollaps, und ihr Schwager wollte sie nach Hause fahren. Sie protestierte heftig; erstens ginge es ihr schon wieder viel besser, und zweitens wolle sie unbedingt am anschließenden Seelenamt teilnehmen, das für Joachim in der Gemeindekirche gehalten würde. Er gab nur zögernd nach, aber als sie auf dem Parkplatz aus dem Auto stieg, wurden ihr erneut die Knie weich, und hätte der junge Diakon nicht in dem Moment das Pfarrhaus verlassen, um in die Kirche zu gehen … Zusammen mit Leas Schwager stützten sie sie bis zur Sakristei und setzten sie dort vorsichtig auf eine Bank. Ihr Kreislauf spielte verrückt, und der kalte Schweiß war ihr ausgebrochen. Sie öffnete ihren Nerzmantel und murmelte mit blutleeren Lippen: »In meiner Handtasche, die Flasche, zwanzig Tropfen.« Nun gab es in der Sakristei weit und breit keinen Löffel, und so tröpfelte der Diakon in den leicht geöffneten Mund ihres weit zurückgelegten Kopfes die Medizin. Für ihn war die Situation so erregend wie verwirrend, wie er den Oberkörper einer jungen, schönen Frau auf sich fühlte, die mit hochgerutschtem Rock und schweißnasser Seidenbluse, die sich an zwei große, runde Brüste klebte, ihren Kopf in seine Armbeuge legte und die Augen schloß. Doch dann ging plötzlich ein Ruck durch ihren Körper, sie stand rasch auf, strich ihren Rock glatt, schloß den Mantel, brachte mit zehn Fingern und einer kräftigen Schüttelbewegung ihre Frisur in Ordnung und verschloß ihr Gesicht zu dem, was es den ganzen Vormittag gewesen war: eine starre Maske.

    Michael kannte ganz wenige Menschen, die eine solch strenge Disziplin hatten; denn so, wie sie jetzt mit leicht staksigen, aber selbstbewußten Schritten die Kirche betrat, hätte niemand vermutet, wie es ihr vor wenigen Minuten – und vielleicht jetzt noch – ergangen war. Michael sah sie auf die ersten Bankreihen zuwanken und glaubte, sie jeden Augenblick hinstürzen zu sehen, dachte aber auch merkwürdigerweise im selben Moment, schönere Beine noch nie gesehen zu haben. Er war verwirrt und schuldbewußt zugleich, und diese Zwiespältigkeit seiner Gefühle sollte sich in den kommenden Wochen und Monaten noch verstärken.

    Kapitel 4

    Am Donnerstag, dem 2. Februar, einem katholischen Feiertag, der sich »Maria Lichtmeß« nennt, wurden die Zwillinge neun Jahre alt. Lea wollte ursprünglich mit den Kindern ein buntes, fröhliches Fest feiern, aber dazu hatte keiner mehr so rechte Lust. Jedes der Kinder hatte den Tod des Vaters verschieden aufgenommen; Andreas, der verschlossene, fast introvertierte Typ, trug seinen Schmerz in sich. Für den vier Minuten jüngeren Simon war der Verlust ebenso schlimm, aber für Lea greifbarer: Er schrie seinen Schmerz hinaus, schlug wie wild um sich und tobte, trampelte gegen Tür und Wände – und dann war es vorüber. Zumindest äußerlich. Inzwischen gingen beide wieder in die Schule, und jeder kompensierte auf seine Art die Trauer: Andreas wurde noch ruhiger, während Simon, der lebhaftere, fast aggressiv geworden war. So hielten sie es beispielsweise auch mit der Musik. Andreas konnte sich stundenlang mit Übungen auf seinem Cello beschäftigen, dafür drehte Simon die Stereoanlage mit einem herzschlagrhythmusähnlichen Hard Rock auf, daß Lea manchmal glaubte, ihr fielen die Ohren ab.

    So war es

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1