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Unbedarft: Raw, #1
Unbedarft: Raw, #1
Unbedarft: Raw, #1
eBook472 Seiten6 Stunden

Unbedarft: Raw, #1

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Über dieses E-Book

Wenn man so aufwächst wie ich, sollte man meinen, dass ich noch kaputter bin, als es tatsächlich der Fall ist.

Als ich sechzehn Jahre alt war, habe ich das Nest, das ich mein Zuhause nannte, verlassen und mich auf die Straße gewagt.

Das war die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe.

Jetzt, im Alter von sechsundzwanzig Jahren, habe ich eine gute Ausbildung erhaltenen, einen Arbeitsplatz und ich bin verdammt gut in meinem Job.

Meine Freunde sind zu meiner Familie geworden. Genau wie ich wissen sie, wie es ist, ungeliebt aufzuwachsen.

Aber die Redensart ist wahr: Die Welt schafft Platz für diejenigen, die wissen, wohin sie gehen.

Und das weiß ich.

Ich weiß, wohin ich gehe, und irgendwann werde ich dort auch ankommen. Und zwar auf meine eigene Art und Weise und in meinem eigenen Tempo.

Aber dann ist da noch er.

Ich spüre seine Blicke auf mir. Ich sehe, wie er sich in der Öffentlichkeit versteckt, wie er mich beobachtet.

Er lässt mich etwas fühlen.

Es ist unkonventionell.

Aber es ist echt.

 

Sie fragen sich sicher, wie man sich in seinen Stalker verlieben kann.

Das tue ich auch.

 

Das hier ist keine Geschichte.

 

Es ist mein Leben.

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum14. Juni 2022
ISBN9781643664453
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    Buchvorschau

    Unbedarft - Belle Aurora

    Kapitel 1

    Sydney, Australien. 2014.

    Lexi

    Die Klopfgeräusche an der Tür wollten nicht aufhören.

    Ich vergrub mich also tiefer in mein Bett, wickelte mich fester in meine Decke und seufzte verträumt.

    Klopf, klopf, klopf …

    »Alexa, beweg deinen Hintern aus dem Bett! Hast du vergessen, was für ein Tag heute ist?« Das klang nach Drew.

    Ich riss die Augen auf und keuchte: »Scheiße.« Dann sprang ich aus dem Bett, als wäre ich herauskatapultiert worden. »Scheiße!«

    Ich rannte durch den Flur bis zur Haustür, zog den Riegel zurück und riss die Tür auf. Vor ihr stand ein ärgerlich dreinschauender Drew. Er warf mir einen Blick zu, und sein Mund klaffte auf.

    Ich runzelte die Stirn, sah an mir hinab, und krächzte: »Scheiße!«

    Ich mochte es nicht, in etwas zu Auftragendem zu schlafen. Ein Tanktop mit Spaghettiträgern und ein Höschen waren die übliche Kombination für das Bett. Als ich zurück in mein Zimmer hastete, hörte ich Drew leise lachen und rief ihm zu: »Lach ruhig, Drew! Du wirst dein Fett noch abbekommen.«

    Drew war ein Sozialarbeiter, mit dem ich zusammenarbeitete. Ich hatte vergessen –verdammt nochmal vergessen –, dass wir heute Morgen früh im Gericht sein mussten.

    Mit achtzehn Jahren war ich aus den USA nach Australien umgezogen. Meine Pflegemutter hatte sich um mich gekümmert, seit ich sechzehn war. Als sich ihre Gesundheit verschlechtert hatte, wollte sie umziehen, um näher bei ihrer Familie zu sein. Als gebürtige Australierin hatte es sie zurück in ihr Geburtsland gezogen, und ich hatte akzeptiert, dass ich meine Pflegemutter verlieren würde.

    Nur war es nicht so gekommen.

    Nachdem ich tagelang wegen ihrer bevorstehenden Abreise deprimiert gewesen war, hatte sie verkündet: »Du musst deine Sachen in Kisten packen, damit ich sie vorausschicken kann. Du solltest nur einen Koffer mit Kleidung mitnehmen. Ich werde darauf achten, nicht alles zu früh abzuschicken, aber ich will unsere Sachen vorfinden, wenn wir ankommen.«

    Mit einem Ruck hatte ich den Kopf gehoben.

    Wie bitte?

    Als meine Pflegemutter meinen Gesichtsausdruck sah, hatte sie traurig das Gesicht verzogen. »Willst du nicht mit mir kommen?«

    Ich hatte mehrmals geblinzelt, dann schließlich einen aufgeregten Schrei ausgestoßen und mich in ihre Arme geworfen. »Doch! Ja! Natürlich will ich, Mama!«

    Damit hatte unser kleines Missverständnis ein Ende gefunden.

    Ich zog mich aus und sprühte meinen Körper gut dreißig Sekunden lang mit Deo ein. Dann warf ich die Dose beiseite und begann, nach etwas Anständigem zum Anziehen zu suchen. Ich entschied mich schließlich für ein langärmeliges weißes Hemd, das ich in eine schwarze Hose steckte, und fügte dem Ganzen einen dünnen schwarzen Gürtel hinzu.

    Eindeutig gerichtsschick.

    Ich schlüpfte in ein Paar Schuhe mit niedrigen Absätzen, rieb mir den Schlaf aus den Augen, löste mein Haar aus dem Pferdeschwanz, schüttelte es aus und betrachtete mich im Spiegel.

    Nicht schlecht. Es hätte schlimmer sein können.

    Ich schürzte die Lippen und nickte meinem Spiegelbild zustimmend zu.

    Es würde reichen müssen. Im Moment hatte ich keine Zeit für mehr.

    Als ich aus meinem Zimmer kam, drehte Drew sich zu mir um und musste zweimal hinsehen. Seine blauen Augen weiteten sich. »Du hast das«, er deutete auf meinen Körper, »alles in nicht einmal fünf Minuten geschafft?«

    Als ich in die Küchenzeile hastete, um dort nach meiner Handtasche zu suchen, antwortete ich mit einem zustimmenden Brummen.

    Er schüttelte den Kopf und murmelte: »Ich muss mich wirklich mit meiner Freundin unterhalten. Im Ernst. Wer braucht schon zwei Stunden, um sich für einen Kinobesuch fertig zu machen?«

    Das war viel Zeit.

    Als ich endlich meine Handtasche und meine Akten gefunden hatte, kehrte ich zu ihm zurück. »Fang nichts an, was nach hinten losgehen könnte. Sie nimmt sich nur so viel Zeit, weil sie für dich hübsch aussehen will.«

    Als ich zur Haustür ging, sagte er spöttisch: »Ich mag sie lieber ohne diese ganze Scheiße im Gesicht.«

    Ich blieb stehen, stemmte eine Hand in die Hüfte und neigte den Kopf zur Seite. »Hast du ihr das gesagt?«

    Drew verzog entrüstet den Mund.

    Hatte ich es mir doch gedacht. Nein. Hatte er nicht.

    Ich hob die Augenbrauen und deutete mit dem Finger auf ihn: »Das musst du ihr sagen.«

    Wir verließen mein Apartment und gingen zu seinem Auto. Auf dem Weg zum Gerichtsgebäude fragte er: »Weißt du, was du sagen musst?«

    Ich nickte und antwortete: »Es ist ganz einfach. Rein und wieder raus. Tahlia sorgt besser für sich, als es ihre Eltern tun. Außerdem ist sie siebzehn. Wenn sie sich emanzipieren will, dann glaube ich, dass sie eine gute Chance hat. Wir reden hier nicht über eine Dreizehnjährige. Sondern über eine Siebzehnjährige, die mit fünfzehn von zu Hause ausgezogen ist, sich einen Job besorgt und eine eigene Wohnung gefunden hat. Ohne. Jede. Hilfe. Sie ist verantwortungsbewusst, und außerdem«, ich wandte mich Drew zu und fügte lächelnd an, »ist sie ein nettes Mädchen. Süß und charmant. Ich glaube, sie hat das Zeug dazu, sich aus dem System herauszuhalten.«

    Drew richtete mit einem Lächeln auf den Lippen den Blick wieder auf die Straße. »Ich glaube, das passt.«

    Ein kackfreches Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. »Ich weiß.«

    Ich war aufgeregt.

    Sobald wir den Gerichtssaal verlassen hatten, ließ ich mein Pokerface verschwinden, eilte zu Tahlia und rief ihr zu: »Glückwunsch, Schätzchen!«

    Sie lachte leise und erwiderte meine Umarmung. Ich hielt sie fest und lächelte dabei die ganze Zeit.

    Ich liebte meinen Job.

    Sie murmelte in meine Bluse: »Danke. Wirklich. Vielen Dank.«

    Ich lehnte mich ein Stück zurück, strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr und gab zu: »Es war mir ein Vergnügen.«

    Als ich sie losließ, ging ich den Plan mit ihr durch. »Was jetzt passiert, ist, dass du tun kannst, was du willst. Das ist aber kein Freifahrtschein, um die ganze Nacht durchzumachen und dich besaufen zu können, klar?«

    Tahlia verdrehte die Augen. »Ja, Mama

    Ich lachte leise. Ich liebte es, wie unverblümt der australische Akzent klang.

    Lächelnd legte ich ihr eine Hand auf den Unterarm und drückte sanft zu. »Du weißt, dass du jederzeit anrufen kannst. Auch wenn es nicht wichtig ist.« Ich zuckte mit den Schultern und sagte: »Es könnte etwas Albernes sein, wie Ratschläge über einen Jungen oder welches Waschmittel man für eine bestimmte Art von Fleck verwenden sollte.« Sie lachte mich an, und mein Lächeln wurde sanfter. »Egal, worum es geht, Schätzchen. Du stehst nicht mehr auf meiner Liste, aber du wirst immer eines meiner Kinder sein.«

    Ihr Lächeln verschwand, und ihre Augen begannen feucht zu schimmern. Sie flüsterte: »Danke, Miss Ballentine.«

    Ich schüttelte den Kopf und sagte völlig ernst: »Oh nein. Du bist jetzt erwachsen. Du darfst mich Lexi nennen.«

    Sie wischte sich über die Augen, um die Tränen zu vertreiben, bevor sie fallen konnten. »Danke, Lexi.«

    Ich ging rückwärts zu Drews Auto und sagte: »Gern geschehen.«

    Drew wartete geduldig auf dem Fahrersitz und spielte dabei auf seinem Telefon herum. Als ich mich dem Auto näherte, spürte ich jedoch, dass er mich beobachtete.

    Ein Schauder jagte über meinen ganzen Körper, und mir standen die Haare zu Berge.

    Abrupt blieb ich stehen und versuchte, die Ruhe zu bewahren. Ich öffnete meine Handtasche und tat so, als würde ich nach etwas suchen.

    Mein Herz raste.

    Wo war er?

    Ich versuchte, mich unauffällig umzusehen. Mein Blick schweifte auf die andere Straßenseite zu einem der vielen Cafés, die sich dort befanden. Ich suchte nach dem vertrauten schwarzen Kapuzenpulli. Als ich gerade aufgeben wollte, sah ich ihn.

    Er beobachtete mich, unter der Kapuze seiner Jacke herausschauend, und lehnte sich dabei auf seinem Stuhl zurück.

    Ich wusste, dass ich das melden sollte.

    Er war überall. Wirklich überall. Es schien fast so, als wüsste er, wo ich sein würde, bevor ich es selbst wusste.

    Er hob den Kopf und sah mich direkt an.

    Er grüßte mich nie. Und er machte keine Anstalten, sich mit mir zu treffen.

    Er … war einfach da, belästigte mich aber nie.

    Und es war in der Tat so, dass ihn zu sehen etwas in mir auslöste.

    Er war in meinem Unterbewusstsein verankert. Der Stern meiner Träume. Ich wusste, dass das lächerlich klang, aber so war es.

    Sein Blick war voller Leidenschaft und Feuer. Und ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.

    Drew rief: »Können wir losfahren, Lex?«

    Als ich bemerkte, dass ich seit fast fünf Minuten dastand und einen fremden Mann auf der anderen Straßenseite anstarrte, schüttelte ich den Kopf. Meine Wangen glühten, als ich antwortete: »Ja. Lass uns zurück ins Büro fahren.«

    Mein Blick wanderte zurück zu ihm.

    Nur noch ein kurzer Blick.

    Aber er war verschwunden. Wie immer.

    Verfolgt von einem Phantom.

    Innerlich lachte ich spöttisch auf.

    Wie toll.

    Als wir das Gebäude erreichten, in dem sich unsere Büros befanden, verabschiedete ich mich von Drew und nahm den gefühlt vierhundertsten Glückwunsch entgegen, dass wir Tahlias Freiheit gewonnen hatten.

    Ich lächelte den ganzen Weg bis zu meinem Büro und trat ein. Ich war überrascht, dass sich dort bereits jemand befand und auf meinem Stuhl saß.

    Eigentlich schaukelte er darauf. Mit den Füßen auf meinem Schreibtisch wie ein millionenschwerer Geschäftsmann.

    »Füße vom Schreibtisch, Michael. Sofort.«

    Meine Mutterstimme zu benutzen brachte mich aber nicht weiter, da ich mit einem breiten Lächeln im Gesicht sprach.

    Michael war aber anders. Er war ein guter Junge.

    Er ließ die Füße von meinem Schreibtisch rutschen und grinste. »Haben Sie Neuigkeiten für mich?«

    Scheiße.

    Meine Gesichtszüge entgleisten. Als er das sah, verzog auch er das Gesicht.

    Michael war fast siebzehn. Er hatte eine Pflegefamilie, aber genau das war das Problem. Seine Mutter war erst vor sechs Monaten aus dem Gefängnis entlassen worden, und er wollte wieder bei ihr leben.

    Aber sie …

    »Sie will mich nicht zurückhaben.« Er starrte auf seine Füße.

    Ich ging auf ihn zu, stellte meine Handtasche auf den Schreibtisch und nahm seufzend auf dem Stuhl für Besucher Platz. »Oh, Schatz. Das ist es nicht. Es geht um mehr als nur darum, ob sie dich zurückhaben will. Was im Übrigen so ist.«

    Er sah mich mit einem finsteren Blick an. »Ich dachte, Sie wären auf meiner Seite.«

    Ich beugte mich vor und sah ihm direkt in die Augen. »Ich bin auf deiner Seite. Immer. Stell das nie infrage.«

    Er sah niedergeschlagen aus, war aber immer noch wütend und fragte leise: »Warum?«

    Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und erklärte: »Es dauert lange, um das Sorgerecht zurückzubekommen, wenn jemand aus dem Gefängnis kommt. Die Unterkünfte, die diesen Menschen zur Verfügung gestellt werden, sind normalerweise nicht so toll und so einfach wie nur möglich gehalten. Und dann ist da noch die Jobsuche. Und wenn sie einen hat, ihn auch zu behalten. Deine Mutter muss jede Woche zur Therapie gehen, und sie wird einige Zeit monatliche Drogentests machen müssen. Und ehrlich gesagt, Schatz«, bei diesen Worten sah er zu mir auf, »denkt sie, dass du etwas Besseres verdient hast. Genau wie ich. Ihre größte Sorge ist, dass sie dich für einige Monate zurückbekommt, du volljährig wirst und dann allein weitermachst. Was du auch tun wirst. Stimmt’s?«

    Michaels Gesichtsausdruck wurde weicher. »Ja. Ich brauche nur zuerst Geld.«

    Ein sanftes Lächeln erschien auf meinem Gesicht. »In Ordnung. Wir werden dir einen Job besorgen.«

    Er nickte und fragte dann: »Wie ist es mit Tahlia gelaufen?«

    Der kleine Scheißer.

    Er wusste, dass ich darauf nicht antworten durfte.

    Ich setzte mein Pokerface auf und sagte: »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

    Er grinste: »Doch, tun Sie. Ihr Gerichtstermin war heute. Und Sie sind ihre Sozialarbeiterin.«

    Ich zuckte lässig mit den Schultern. »Wenn du etwas über Tahlia wissen willst, schlage ich vor, dass du sie selbst fragst.«

    Michaels Gesicht nahm einen verträumten Ausdruck an. »Sie ist heiß. Ich sehe sie in der Schule, aber ich habe nie die Gelegenheit, mit ihr zu reden. Das würde ich aber gern.«

    Wie süß. Mein Pokerface begann zu bröckeln. »Dann solltest du dir etwas Mühe geben. Bitte sie um ein Date. Geh mit ihr ins Kino oder so.«

    Er sah mich mit einem stoischen Ausdruck an. »Ich gehe nur dann mit einem Mädchen aus, wenn ich mich um sie kümmern kann. Und das kann ich im Moment nicht. Also ist ein Date keine Option.«

    Gott steh uns bei. Wir hatten einen herrischen kleinen Versorger in der Mache.

    Mein Gesichtsausdruck wurde sanft, als ich lächelte. »Du bist ein guter Junge, Mikey. Wir werden einen Job für dich finden. Und zwar bald.«

    Er stand unvermittelt auf, nahm seine Schultasche und ging zur Tür. »Bis später, Miss Ballentine.«

    Ich wandte mich der Tür zu und rief: »Bis später, Schatz.«

    Kurz nachdem Michael den Raum verlassen hatte, trat Charlie ein. Charlie war mein Chef und ein großartiger Kerl. Er war ein Maori aus Neuseeland. Also war er groß, dick, und seine Haut hatte einen olivenfarbigen Ton. Seine Stimme war aber so lieblich und hoch, dass ich immer das Gefühl hatte, mit einem Lamm im Wolfspelz zu sprechen.

    »Hast du ein paar Minuten Zeit, Lex?«

    Ich winkte ihn herein. »Sicher. Was kann ich für dich tun?«

    Während ich um meinen Schreibtisch ging, um mich zu setzen, trat er zu dem Stuhl mir gegenüber und reichte mir zusammen mit einigem Papierkram einen Flyer. Ich nickte bereits, denn ich wusste, was das war.

    Der jährliche Drogentest.

    In meinem Job war das Pflicht. In Australien galt für Sozialarbeiter eine Null-Toleranz-Politik in Sachen Drogen. Und das war auch gut so. Außerdem nahm ich keine Drogen.

    Charlie beugte sich vor und sagte leise: »Er findet dieses Jahr früher statt. Wir haben einen Tipp bekommen, dass jemand hier Drogen nimmt.«

    Bei der Vorstellung, dass einer meiner Kollegen beim Drogenkonsum erwischt werden könnte, kribbelte meine Kopfhaut, und meine Nackenhaare stellten sich auf. Mit weit aufgerissenen Augen flüsterte ich: »Oh.«

    Charlie nickte, als er meine Reaktion sah. »Genau. Wir denken darüber nach, sie nicht mehr jährlich, sondern halbjährlich durchzuführen. Wir müssen sicherstellen, dass sich alle an die Regeln halten.«

    Ich nickte zustimmend. »Es ist keine besonders gute Idee, wenn die Leute anfangen, nachlässig zu werden. Vor allem dann, wenn einer von uns Drogen nimmt.«

    Die Vorstellung, dass einer meiner Schützlinge von jemandem betreut wurde, der Drogen nahm, machte mich wütend.

    Viele von ihnen hatten bereits zu viel Falsches in der Welt gesehen, und das meiste davon hatte mit Drogen zu tun gehabt. Ich wollte sie beschützen. Ich wollte, dass sie auf eine Weise aufwuchsen, die mir verwehrt geblieben war. Ich wollte für sie da sein, um sie wieder aufzurichten, wenn sie am Boden lagen.

    Aber ich musste vorsichtig sein.

    Und das würde ich auch.

    So sehr es ein Mensch sein konnte, dem ein Stalker nachstellt.

    Während der Fahrt nach Hause hörte ich im Radio Musik und sang mit.

    Da ich nichts, aber auch gar nichts im Kühlschrank hatte, um zu kochen, legte ich bei einem Drive-in-Restaurant einen Zwischenstopp ein und holte mir einen Burger.

    Als ich an meinem Apartmentblock ankam, um auf meinem normalen Platz zu parken, runzelte ich die Stirn. Die Scheinwerfer über der Parkbucht waren beide erloschen. Normalerweise funktionierte immer zumindest einer, während der andere darauf wartete, repariert zu werden. Ich blieb einen Moment im Auto sitzen.

    Am gestrigen Abend hatten noch beide funktioniert.

    Ich schloss die Autotür ab und sah mich unauffällig auf dem Parkplatz um. Nichts schien fehl am Platz zu sein.

    Warum raste also mein Herz?

    Du machst dir selbst Angst.

    Ich stieß ein humorloses Lachen aus und rieb mir mit den Händen über das Gesicht. Ich machte mir wirklich selbst Angst. Das Licht war aus und ich völlig nervös. Ich schüttelte den Kopf über mich selbst, seufzte und entriegelte die Autotür wieder. Als ich ausstieg, griff ich über den Sitz, um mein Abendessen mitzunehmen.

    »Scheiße!«

    Ich hatte mein Getränk umgestoßen, und es lief auf dem Sitz aus.

    Mit einem Knurren griff ich zwischen den Sitzen nach hinten, wo ich immer ein Handtuch für den Sport aufbewahrte. Als ich es gefunden hatte, warf ich das durchgeschwitzte Handtuch auf den Sitz und versuchte damit, so viel wie möglich der Flüssigkeit aufzusaugen. Als ich schließlich rückwärts aus dem Auto stieg, legte sich eine Hand auf meinen Mund, und eine zweite schlang sich um meine Hüfte. Eng.

    Ich hörte erregte Atemzüge in meinem Ohr. »Wenn du schreist, ficke ich dich ohne Kondom. Ich habe AIDS, du Schlampe. Willst du AIDS bekommen?«

    Ich versuchte, ruhig zu bleiben, und schüttelte schnell den Kopf, woraufhin er mir ins Gesicht lachte.

    Er roch schlecht. Wirklich schlecht. Er stank.

    Dann sagte er: »Du kommst jetzt mit mir. Du wirst dich nicht wehren. Du wirst doch ein braves Mädchen sein, nicht wahr?«

    Ich schloss die Augen und nickte. Als er mich an der Seite des Gebäudes entlangzog, begann ich aber zu weinen. Die Tränen rannen über mein Gesicht, und ich begann vor Angst zu zittern. Ich konnte nicht anders. Ich wusste, dass ich gesagt hatte, dass ich mich nicht wehren würde. Trotzdem stemmte ich die Füße in den Boden und krallte mich in seinen Arm. Ich wollte nicht, dass er mich an einen Ort brachte, wo es dunkel war und man mich nicht sehen konnte.

    Er war ein großer Mann. Einer, mit dem ich es allein nie aufnehmen konnte. Als mir das klar wurde, begann ich noch heftiger zu weinen.

    Als er mit seiner warmen, feuchten Zunge langsam über die Wange leckte, zuckte ich angewidert zusammen. »Oh, bleib ruhig. Es wird dir gefallen. Das verspreche ich.«

    Das wird es nicht, du perverser Scheißkerl!

    Er forderte: »Schließ die Augen.«

    Ich gehorchte nicht. Ich war trotzig. Und ich schloss die Augen nicht.

    Daraufhin drückte er mir ein Messer in die Seite. Tief. Als ich spürte, wie die Spitze durch meine Haut drang, wimmerte ich in seine schmutzige Hand. »Schließ deine verdammten Augen, du Schlampe.«

    Mein Körper bebte. Ich schloss die Augen und spürte, wie er mit der freien Hand versuchte, mir die Hose herunterzuziehen. Mein Gürtel hinderte ihn jedoch daran, und er zischte: »Mach den Gürtel und die Hose auf. Sofort!«

    Meine zitternden Hände arbeiteten nur langsam, um Zeit zu gewinnen. Viel konnte ich jedoch nicht herausschinden, bevor er heftig an meinen Haaren zog. Ich schrie vor Schmerz auf. Das Messer verschwand für einen Moment, bevor er den Unterarm um meinen Hals schlang. Er hielt mit der Hand das Messer fest und führte die Klinge unter mein Ohr. Irgendwie gelang es mir mit zitternden Händen, den Gürtel und die Knöpfe der Hose zu öffnen. Er drehte mich um und drückte meine Wange gegen die kalten Ziegelsteine der Gebäudewand. Das Messer ruhte nun seitlich an meiner Kehle. Er zog mir die Hose herunter, griff nach vorne und dann nach unten, und ich schloss instinktiv die Beine. Seine Finger arbeiteten sich an den Ort zwischen meinen Schenkeln vor, und er rieb mir durch mein Höschen hindurch den Venushügel. Ich schrie auf. Er drückte seine Erektion gegen meinen Hintern, und ein so heftiger Schauder jagte über meinen Rücken, dass mein ganzer Körper bebte.

    Ich war angewidert. Das war ekelhaft.

    Er schlang seinen Arm fester um meinen Hals und zischte: »Halt die Klappe und gib keinen Mucks von dir.« Mit seinem Geruch, der mich umgab, und wegen meines Weinkrampfes, musste ich würgen.

    Seine Hand verschwand von meiner intimsten Stelle, wand sich unter meine Bluse, und er drückte meine Brust.

    Mein Herz weinte bei jeder abscheulichen Berührung. Er begrabschte meinen Körper, wie es ihm gefiel. Als wäre ich für ihn nur ein Spielzeug und kein Mensch. Er strich mit der Hand an meinen Rippen entlang nach unten und legte sie einen Moment auf meine Hüfte, bevor er sagte: »Oh, Mann. Du bist ein hübsches Ding.« Dann ließ er die Hand hinten in mein Höschen gleiten, drückte meine Pobacken fest zusammen, und mein Körper bebte bei jedem lauten, gedämpften Schluchzen, das ich ausstieß.

    Ich war noch nie vergewaltigt worden. Aber ich arbeitete mit Menschen, denen genau das zugestoßen war. Jetzt wusste ich, dass es nicht die Wahrheit gewesen war, wenn ich die Worte Ich verstehe zu einem meiner Kinder gesagt habe.

    Nicht einmal annähernd.

    Ich fühlte geradezu, wie mein Herz zerbrach.

    Plötzlich wurde ich grob nach hinten gerissen. Ich fiel mit einem dumpfen Aufprall auf den harten Beton und beobachtete erschrocken die Szene, die sich jetzt vor mir abspielte.

    Ein Mann, der genauso groß wie mein Angreifer war, knallte dessen Gesicht gegen die Ziegel der Hauswand.

    Der schwarze Kapuzenpullover.

    Das war er gewesen.

    Er hielt den Nacken meines Angreifers fest und drückte dessen Kopf nach unten, während er sein Knie hochschnellen ließ.

    Bumm, knack.

    Das tat er immer wieder. Mein Magen drehte sich angesichts des Ausmaßes der Gewalt um, deren Zeugin ich wurde. Als ich schließlich ein leises Klimpern auf dem Boden hörte, begriff ich, dass mein Angreifer einige Zähne verloren hatte.

    Oh Gott.

    Der Mann mit dem Kapuzenpulli setzte seinen stummen Angriff jedoch fort. Er stieß meinen Angreifer zu Boden und trat ihm in die Rippen, als ob er gegen einen Fußball treten würde. Das tat er noch mehrere Male, bis sein Blick auf mich fiel.

    Schwer atmend hörte er auf und kam auf mich zu.

    Wie gelähmt beobachtete ich mit einem verschleierten Blick, wie er sich mir näherte. Als er beinahe bei meinen Füßen angelangt war, flüsterte ich mit zitternder Stimme: »Bleib stehen, bitte. Komm nicht näher.«

    Meine Ellenbogen pochten – die Haut an ihnen war bestimmt abgeschürft. Ich versuchte, rückwärts davonzukrabbeln, und schrie vor Schmerz auf.

    Dann tat er etwas, was ich mir schon immer gewünscht hatte.

    Er schlug die Kapuze zurück.

    Kapitel 2

    Lexi

    »I ch werde dir nicht wehtun.«

    Oh Gott. Diese Stimme. Sie hörte sich genau so an, wie ich sie mir in meinen Träumen vorgestellt hatte.

    Sanft und ein wenig heiser. Dann fiel mir jedoch etwas auf. »Du bist Amerikaner.«

    Ohne eine Miene zu verziehen, antwortete er: »Du auch.« Seine Stimme hörte sich an, als wäre er gelangweilt.

    Ich sah zu ihm auf, konnte aber sein Gesicht in der Dunkelheit nicht ausmachen. Als ich hörte, dass er einen Reißverschluss öffnete, wimmerte ich laut auf. Unter Tränen flehte ich: »Bitte, tu mir nicht weh. Bitte.«

    Er kam auf mich zu, ohne ein Wort zu sagen. Ich zitterte, kniff fest die Augen zusammen und wimmerte: »Bitte. Bitte. Nein.«

    Er schob seine starken Arme unter mich und zog mich auf die Beine. Dann legte er mir etwas Warmes über die Schultern. Erst da bemerkte ich, dass der Reißverschluss, den ich gehört hatte, der seiner Jacke und nicht der seiner Hose gewesen war.

    Darüber war ich so erleichtert, dass ich mich an ihn drückte.

    Ich vergrub mein Gesicht in seiner Brust, und er legte seinen Arm um mich, während ich laut zu schluchzen begann. Er beugte sich vor und griff nach unten. Meine Hose rutschte an meinen Beinen nach oben, und er hielt sie an Ort und Stelle fest. Sie war offensichtlich zu zerrissen, als dass er den Reißverschluss hätte schließen können.

    Wir ließen meinen Angreifer dort, wo er war, und ich hoffte insgeheim, dass er tot war. Ausgehend von den schaudernden, keuchenden Geräuschen, die er von sich gab, hatte ich aber nicht so viel Glück.

    Mein Retter hielt mich an sich gedrückt und brachte mich zu meiner Wohnung. Er nahm sich Zeit und war extrem geduldig, als ich versuchte, mit zitternden Beinen die Treppe in den zweiten Stock hinaufzusteigen.

    Erst als wir meine Wohnung erreichten, er die Tür öffnete und wir eintraten, fiel mir auf, dass er wusste, wo ich wohnte.

    Warum hast du dann nicht das Gefühl, dass du in Gefahr bist?

    Weil ich es nicht war. Das spürte ich.

    Nein, ich war mir sicher.

    Er schloss die Tür hinter uns, schaltete das Licht ein und ging mit mir den kurzen Flur entlang zu meinem Schlafzimmer. In diesem Augenblick fiel mein Blick auf seine Haut.

    Sie war bunt. Wie ein einziges großes Kunstwerk.

    Jetzt weinte ich nicht mehr und fragte zwischen zwei zittrigen Atemzügen: »Warst du schon einmal hier?«

    Er antwortete aber nicht.

    Stattdessen führte er mich zu meinem Bett, setzte mich hin und verließ dann wieder das Zimmer. Keine dreißig Sekunden vergingen, bevor ich die Dusche rauschen hörte und er wieder in meinem Schlafzimmer erschien.

    Er sah mich nicht einmal an, sondern ging meine Schubladen durch und zog Kleidungsstücke für mich heraus.

    Da ich einen Moment Zeit hatte, musterte ich ihn genauer.

    Wenn ich diesen Mann auf der Straße sehen würde, so wie er gerade gekleidet war, würde ich den Kopf senken, in die andere Richtung gehen und zu Gott beten, dass er das nicht mitbekam. Denn ein Mann, der so aussah wie er, wenn er stinksauer ist, konnte bestimmt nichts Gutes bedeuten.

    Er war aber wunderschön. Nur nicht auf eine herkömmliche Weise.

    Er war groß, etwas über einen Meter achtzig, hatte einen muskulösen Körperbau und olivenfarbene Haut. Sein dunkelbraunes Haar war an den Seiten kurz rasiert, oben aber lang. Er trug eine dunkelblaue Jeans, die seine langen und kräftigen Beine umhüllte, und ein weißes T-Shirt, das seine breite Brust und Schultern bedeckte. Gepaart mit weißen Turnschuhen und einem dicken schwarzen Ledergürtel. Es war aber das, was sich unter dem T-Shirt befand, was meine Aufmerksamkeit erregt hatte.

    Tätowierungen bedeckten seine Arme und seinen Hals. Auf seinem rechten Wangenknochen prangte die tätowierte Zahl 13.

    Seine Handrücken waren wunderschön. Es gab kein anderes Wort dafür. Auf dem linken Handrücken prangte eine verschlungene, schwarz schattierte Rose mit rauchgrauem Umriss – auf dem rechten ein grau schattierter Totenkopf, der von Rauch durchzogen war. Er sah so lebensecht aus, dass ich erschauderte.

    Oh Gott.

    »Du bist verletzt.«

    Seine Fingerknöchel bluteten und waren geschwollen.

    Er hielt abrupt inne, und der Blick aus seinen halbgeschlossenen Augen fiel auf mich. Er wirkte aber nicht sexy, sondern eher gelangweilt und grüblerisch. Permanent. Das stand ihm gut zu Gesicht.

    Er sah gut aus und hätte ohne die Tätowierungen als Model durchgehen können. Er hatte ein kräftiges Kinn, eine volle Unterlippe und hohe Wangenknochen. Die Augen zeigten einen warmen Braunton. Schließlich murmelte er: »Mach dir deswegen keine Sorgen. Geh duschen.«

    Ich wusste nicht, warum ich Anweisungen von einem Mann annahm, der es liebte, mich von unter seiner Kapuze heraus zu beobachten. Aber ich tat es. Sobald ich aufstand, kribbelte mein Nacken, und ich fragte ihn, als er davonging: »Wirst du noch da sein, wenn ich wieder rauskomme?«

    Er drehte sich langsam zu mir um und musterte mich mit einem neugierigen Blick aus seinen halbgeschlossenen Augen. Wir sahen einander gut dreißig Sekunden lang an, bevor er mit heiserer Stimme fragte: »Willst du, dass ich es bin?«

    Ich traute meinen Worten nicht, also wich ich seinem Blick aus und nickte.

    Als er ebenfalls nickte, sich umdrehte und befahl: »Geh duschen«, fühlte ich mich erleichtert.

    Ich nahm meinen Bademantel von der Rückseite meiner Schlafzimmertür, schlurfte in mein kleines Badezimmer und zog mich aus, ohne in den Spiegel zu sehen. Ich wusste, dass ich, wenn mein Spiegelbild so aussah, wie ich mich gerade fühlte, wahrscheinlich völlig die Fassung verlieren würde. In der Tat fragte ich mich, warum das nicht ohnehin geschah.

    Bei diesem Gedanken fühlte ich mich töricht, ich sah in den Spiegel und stieß ein raues Lachen aus.

    Der Spiegel war so beschlagen, dass ich nichts sehen konnte. Es hatte nicht sein sollen.

    Ich zog mich schnell aus, trat unter die brühend heiße Gischt und blieb darunter stehen, so lange es ging, ohne mich zu verbrennen. Ohne hinzusehen, drehte ich an den Knöpfen, bis das Wasser kühler wurde. Erst dann gestattete ich mir, darüber nachzudenken, was gerade geschehen war.

    Wurde ich wirklich gerade von einem großen, furchterregenden Mann angegriffen und dann von meinem Stalker gerettet?

    Ja. Das bringt es auf den Punkt.

    Die erste Träne wollte nicht kommen.

    Die nächste hingegen schon.

    Die übrigen fielen so hemmungslos, als hätten die ersten beiden sie herbeigerufen.

    Ich stützte mich mit einer Handfläche an der Duschwand ab, um mich zu beruhigen, und mein Körper zitterte, während ich leise schluchzte.

    Ich wollte aber nicht, dass er mich hörte.

    Also atmete ich tief durch, riss mich zusammen und brachte meine restliche Energie dafür auf, mir die Haare zu waschen. Ich seifte mich ein, wusch mir dann die Seifenlauge vom Körper und verließ schließlich wieder die Dusche.

    Nachdem ich mich in meinen Bademantel gewickelt hatte, bürstete ich mir die Haare. Als ich Geräusche aus der Küche hörte, trat ich aus dem Badezimmer. Ich ging in mein Zimmer, ließ den Bademantel fallen und zog mir die Kleidungsstücke an, die er für mich bereitgelegt hatte.

    Erst als ich angezogen war, bemerkte ich, dass er meine Lieblings-Pyjama-Kombination gewählt hatte.

    Zufall?

    Irgendwie glaubte ich nicht daran.

    In meiner Elmo-Pyjamahose, dem weißen Tanktop und mit nassen Haaren ging ich langsam den Flur hinunter in mein Fernsehzimmer und sah mich dort vorsichtig um. Von meinem Standpunkt aus sah ich, wie er mit dem Rücken zu mir in der Tür des Kühlschranks stand.

    Da ich wusste, dass er dort nichts finden würde, erschaudere ich. Ich wusste nur wenig über ihn. Nur, dass er immer die gleiche Kleidung trug, wenn ich ihn auf der Straße sah. Mein Solzialarbeitergehirn nahm automatisch an, dass er obdachlos war.

    Mein Brustkorb schnürte sich zusammen. Er musste hungrig sein.

    Ich räusperte mich und er drehte sich zu mir um: »Hast du Hunger?«

    Verwirrt runzelte ich die Stirn. Sollte nicht ich diejenige sein, die diese Frage stellte?

    »Äh, nein. Ich glaube nicht, dass ich etwas essen könnte. Selbst wenn ich wollte.«

    Er nickte nachdenklich und fragte dann: »Alles klar?« Dabei musterte er meinen Körper.

    Ich senkte den Kopf und antwortete leise: »Ja. Mir wäre es hundertmal schlechter ergangen, wenn du nicht da gewesen wärst, also …«

    Mein Herz raste. Plötzlich fühlte ich mich nervös und unruhig.

    »D-danke. F-für das, was du vorhin getan hast«, stotterte ich.

    Sein kalter Blick bohrte sich in meine Augen. »Bilde dir nur nichts ein«, sagte er spöttisch.

    Er kam einen Schritt auf mich zu, und es schien, als würde er mit seinen braunen Augen bei zur Hälfte gesenkten Lidern geradewegs durch mich hindurchblicken. »Monster lauern nicht immer in den Schatten.«

    Er griff nach oben und strich mit einer Fingerspitze langsam an meinem Kiefer entlang. Dann beugte er sich vor, sein Atem strich warm über mich, und nur eine Haaresbreite von meinen Lippen entfernt murmelte er: »Manchmal halten sie sich in aller Öffentlichkeit verborgen.«

    Ich hielt die Augen geschlossen und bekam Gänsehaut. Die Haare in meinem Nacken standen zu Berge. Als er mit dem Daumen unglaublich sanft über meine Wange strich, wurden meine Brustwarzen hart. Er murmelte: »Du hast einige Kratzer.«

    Ich schluckte heftig und trat einen Schritt zurück.

    Er war wie ein Magnet, der mich unwiderstehlich anzog. Das war in diesem Augenblick aber zu viel für mich.

    Als ich die Augen öffnete und sah, dass er mich immer noch musterte, fragte ich leise: »Wie heißt du?«

    Seine Mundwinkel zuckten nach oben. »Das spielt keine Rolle. Du wirst meinen Namen wieder vergessen, wenn ich weg bin.«

    Ich trat einen kleinen Schritt näher und versprach: »Nein, das werde ich nicht.«

    Jetzt war er es, der einen Schritt zurückwich.

    Er musterte mich ein wenig eindringlicher. Diese Augen. Sein Blick fühlte sich an, als würde er mich durchschauen.

    Er holte Luft und sagte beim Ausatmen: »Ich bin Twitch.«

    Twitch?

    Twitch? … Wirklich?

    Ich fühlte mich jetzt ein wenig mutiger und erklärte: »Ich habe deinen richtigen Namen gemeint.«

    »Das ist mein richtiger Name.«

    Kopfschüttelnd erwiderte ich leise: »Nein, deinen Vornamen.«

    Er sah genervt aus. »Dieser Name wurde mir gegeben.«

    Jetzt war ich es, die ärgerlich wurde. »Von deinen Eltern?«

    Er erwiderte: »Nein. Ist er deshalb nicht mein Name? Er ist der einzige, den du hören wirst. Also benutz ihn oder lass es sein.«

    Hm. Interessant.

    Ich ließ meinen Blick durch den Raum wandern. Überallhin, nur, um ihn nicht ansehen zu müssen, und fragte: »Warum beobachtest du … Warum stellst du mir nach?«

    Als ich keine Antwort bekam, richtete ich meinen Blick auf ihn und bemerke, dass er mich wieder musterte.

    Es war seltsam. Er sah nicht wie ein Sexualstraftäter aus. Außerdem verhielt er sich nicht wie einer. Was hatte es also damit auf sich?

    Blitzschnell kam Ärger in mir auf. Ich stemmte eine Hand in die Hüfte und fragte: »Worauf hast du es abgesehen?«

    Darauf erhielt ich eine Reaktion. Er grinste, weil er wusste, dass er damit zu mir durchdrang: »Das nennt man Menschenbeobachtung.«

    Frustriert fauchte ich: »Mit Menschenbeobachtung bezeichnet man, wenn man mehrere Menschen beobachtet. Unterschiedliche Menschen in verschiedenen Situationen. Du beobachtest keine Menschen. Du bist ein Sta…«

    Von einer Sekunde auf die andere stand er direkt vor mir. Er war mir so nah, dass ich ihn riechen konnte.

    »Was bin ich?«,

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