Jessica hat Sehnsucht nach der Mami: Mami 1936 – Familienroman
Von Silva Werneburg
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Munter stürmte der sechsjährige Julian in das Wartezimmer und schaute sich um. Die wartenden Patienten, die sich die Zeit mit dem Lesen von Illustrierten vertrieben, blickten auf und lächelten dem kleinen Jungen zu. Jeder kannte den Enkelsohn des Arztes, und alle mochten den aufgeweckten Jungen, der ein schweres Schicksal hinter sich hatte. Vor drei Jahren war Julians Mutter bei einem unverschuldeten Autounfall ums Leben gekommen. Seitdem lebte der Kleine mit seinem Vater in der großzügigen alten Villa der Großeltern, in deren Anbau sich die moderne Arztpraxis befand. Dies Praxis wurde von Doktor Jochen Winkler, Julians Großvater, geführt. Der Vater des Sechsjährigen, Doktor Gerrit Winkler, arbeitete zur Zeit als Assistenzarzt in einer nahegelegenen Klinik und sollte die Praxis in absehbarer Zeit übernehmen. »Wollen Sie alle noch zu meinem Opa?« erkundigte Julian sich mit fragenden Blicken auf die Patienten. »Ja, ich denke schon, daß jeder von uns deswegen hier sitzt«, erwiderte ein älterer Mann. »Es gibt eben viele kranke Leute und nur wenige Ärzte, die so gut sind wie dein Opa. Zu ihm kommen alle gern.« »Ui, dann wird es heute bestimmt wieder spät, bis Opa endlich nach Hause kommen kann«, meinte Julian seufzend und warf einen Blick auf eine junge Frau, die er bisher noch nie gesehen hatte. Die Gesichter der meisten Patienten waren ihm geläufig, aber diese Frau kannte er nicht. »Sie sind zum ersten Mal hier. Hab' ich recht? Ich würde Sie bestimmt kennen, wenn Sie schon öfter bei meinem Opa gewesen wären.« Die junge Frau legte die Zeitung beiseite.
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Buchvorschau
Jessica hat Sehnsucht nach der Mami - Silva Werneburg
Mami
– 1936–
Jessica hat Sehnsucht nach der Mami
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Silva Werneburg
Munter stürmte der sechsjährige Julian in das Wartezimmer und schaute sich um. Die wartenden Patienten, die sich die Zeit mit dem Lesen von Illustrierten vertrieben, blickten auf und lächelten dem kleinen Jungen zu. Jeder kannte den Enkelsohn des Arztes, und alle mochten den aufgeweckten Jungen, der ein schweres Schicksal hinter sich hatte. Vor drei Jahren war Julians Mutter bei einem unverschuldeten Autounfall ums Leben gekommen. Seitdem lebte der Kleine mit seinem Vater in der großzügigen alten Villa der Großeltern, in deren Anbau sich die moderne Arztpraxis befand. Dies Praxis wurde von Doktor Jochen Winkler, Julians Großvater, geführt. Der Vater des Sechsjährigen, Doktor Gerrit Winkler, arbeitete zur Zeit als Assistenzarzt in einer nahegelegenen Klinik und sollte die Praxis in absehbarer Zeit übernehmen.
»Wollen Sie alle noch zu meinem Opa?« erkundigte Julian sich mit fragenden Blicken auf die Patienten.
»Ja, ich denke schon, daß jeder von uns deswegen hier sitzt«, erwiderte ein älterer Mann. »Es gibt eben viele kranke Leute und nur wenige Ärzte, die so gut sind wie dein Opa. Zu ihm kommen alle gern.«
»Ui, dann wird es heute bestimmt wieder spät, bis Opa endlich nach Hause kommen kann«, meinte Julian seufzend und warf einen Blick auf eine junge Frau, die er bisher noch nie gesehen hatte. Die Gesichter der meisten Patienten waren ihm geläufig, aber diese Frau kannte er nicht.
»Sie sind zum ersten Mal hier. Hab’ ich recht? Ich würde Sie bestimmt kennen, wenn Sie schon öfter bei meinem Opa gewesen wären.«
Die junge Frau legte die Zeitung beiseite. »Stimmt, ich war bisher noch nicht hier. Weißt du, früher habe ich woanders gewohnt und bin erst vor ein paar Jahren in diesen Ort gezogen. Jetzt habe ich ein ganz schlimm entzündetes Knie, und die Leute haben mir gesagt, daß ich damit zu deinem Opa gehen soll, weil er ein besonders guter Arzt ist.«
»Ist er auch«, bestätigte Julian. »Mein Vater ist auch ein guter Arzt. Aber der arbeitet im Krankenhaus, und so schlimm, daß Sie ins Krankenhaus müßten, ist Ihr Knie vielleicht dann doch nicht. Keine Sorge, mein Opa wird Ihnen schon helfen.«
»Ins Krankenhaus muß ich sicher nicht. Außerdem vertraue ich deinem Opa, obwohl ich ihn noch gar nicht kenne. Wer so einen netten Enkelsohn hat, der muß einfach ein guter Arzt sein. Magst du ein Stück Schokolade?«
Bevor der Junge antworten konnte, hatte die junge Frau schon einen Schokoriegel aus ihrer Handtasche geholt und hielt ihn Julian hin. Er griff sofort dankbar zu.
»Eigentlich darf ich von Fremden nichts annehmen. Aber Sie sind ja keine Fremde, sondern eine Patientin von meinem Opa. Ich finde Sie nett. Wie heißen Sie?«
»Simone Breuer. Ich wohne ganz in der Nähe im Amselweg und arbeite im Kunstmuseum in der Innenstadt.«
»Das kenne ich. Da bin ich schon einmal mit meinem Vater gewesen. Haben Sie etwa all die vielen Bilder gemalt, die dort an den Wänden hängen?«
»Nein, das habe ich nicht. Ich kann gar nicht malen. Ich arbeite in der Verwaltung. So ein großes Museum muß gut verwaltet werden, damit alles seine Ordnung hat. Das ist eine sehr schöne und wichtige Arbeit.«
Julian nickte verstehend, obwohl er sich unter der Verwaltungsarbeit eines Kunstmuseums eigentlich überhaupt nichts vorstellen konnte. Doch das mochte er im Augenblick nicht zugeben. Simone Breuer sollte ihn nicht für einen dummen kleinen Jungen halten.
»Sind Sie verheiratet?« wollte Julian wissen und achtete nicht auf das belustigte Schmunzeln der anderen Patienten.
»Nein, noch nicht«, gab Simone Breuer bereitwillig Auskunft. »Warum fragst du danach?«
»Ich dachte nur so. Sie sind ziemlich hübsch, und hübsche Frauen sind meistens verheiratet.«
»Danke für das nette Kompliment. Aber weißt du, ich bin noch recht jung, erst dreiundzwanzig Jahre alt. Irgendwann werde ich wahrscheinlich einmal heiraten. Aber ich habe noch Zeit.«
»Sie wollen bestimmt warten, bis Ihnen der richtige Mann über den Weg läuft, nicht wahr? Es muß einer sein, den Sie unheimlich gern mögen. Wenn Sie den gefunden haben, dann heiraten Sie ihn auch.«
»So ist es«, bestätigte Simone Breuer. »Du bist ein ausgesprochen kluger kleiner Junge und siehst die Dinge schon ganz richtig.«
Die Tür wurde geöffnet, und die Sprechstundenhilfe rief Frau Breuer auf. Über den Rand ihrer Brille hinweg schaute sie Julian an.
»Na du, vertreibst du den Patienten deines Opas wieder einmal ein bißchen die Zeit?«
»Ja, aber ich glaube, jetzt gehe ich hinüber zu Oma und sage ihr, daß Opa heute etwas später kommt. Es dauert sicher noch eine ganze Weile, bis alle Patienten behandelt sind.«
»In ungefähr einer Stunde sind wir hier fertig. Das kannst du deiner Oma sagen.«
»Ist gut, das mach ich«, versprach Julian und verließ die Praxis durch einen Nebeneingang, der direkt in die Villa führte. Beim Hinausgehen winkte er Simone Breuer kurz noch einmal zu, und sie winkte lächelnd zurück.
*
Wenn Gerrit Winkler in der Klinik Tagesdienst hatte, gehörte das gemeinsame Abendessen zum festen Familienprogramm. Julians Großmutter, Inge Winkler, kochte dann höchstpersönlich für alle. Früher, als die Mutter des kleinen Jungen noch gelebt hatte, war das anders gewesen. Da die Villa über zwei große, jeweils abgeschlossene Wohnungen verfügte, hatten beide Generationen für sich gelebt. Seit Janinas Tod war aus Großeltern, Vater und Sohn wieder eine Familie geworden. Gerrit war seiner Mutter dankbar dafür, daß sie nicht nur für ihn sorgte, sondern auch Julian beaufsichtigte und Mutterstelle an ihm vertrat. Durch seinen Beruf wurde er daran gehindert, sich ständig um seinen Jungen zu kümmern. Jede freie Minute verbrachte er mit Julian. Doch seine Freizeit war knapp bemessen und deshalb besonders kostbar. Manchmal hatte Gerrit schon daran gedacht, sich wieder neu zu binden. Wie sehr Julian sich eine Mutter wünschte, wußte er genau. Außerdem war ihm klar, daß auch seine Eltern auf eine neue Schwiegertochter hofften. Aber bisher hatte er sich einfach nicht entschließen können, noch einmal zu heiraten. Die Wunde, die Janinas plötzlicher und sinnloser Tod gerissen hatte, war noch nicht verheilt.
»Opa hat eine neue Patientin«, teilte Julian am Abendbrottisch unvermittelt mit. »Ich habe heute im Wartezimmer mit ihr geredet. Sie ist sehr nett und hat mir sogar einen Schokoriegel geschenkt.«
»Hoffentlich hat sie dir den freiwillig gegeben«, meinte Gerrit belustigt. »Es wäre mir peinlich, wenn du Opas Patienten anbetteln würdest.«
»Ich habe überhaupt nicht gebettelt. Das würde ich doch nie tun, höchstens bei Oma. Die Frau hat mich gefragt, ob ich ein Stück Schokolade haben möchte. Sie heißt übrigens Simone Breuer, ist Verwalterin vom Kunstmuseum, dreiundzwanzig Jahre alt und noch nicht verheiratet. Aber sie würde schon gerne heiraten. Sie muß nur noch den richtigen Mann finden. Das hat sie mir erzählt. Schade, daß du sie nicht gesehen hast, Vati. Sie ist unwahrscheinlich hübsch, hat lange braune Haare und ganz liebe braune Augen.«
»Bitte nicht, Julian« begehrte Gerrit auf. »In den letzten sechs Wochen hast du schon dreimal versucht, mich zu verkuppeln. Ich weiß, daß du dir eine neue Mutter wünschst. Vielleicht wirst du eines Tages auch eine bekommen. Aber die Frau, die ich einmal heiraten werde, muß ich mir selbst aussuchen.«
»Dann mußt du mit dem Aussuchen aber langsam mal anfangen«, meinte Julian. »Du arbeitest immer nur und siehst gar nicht, daß es ganz viele nette Frauen gibt. Deshalb wollte ich dir ein bißchen helfen. Du kannst dir Simone Breuer doch einfach einmal ansehen. Sie ist wirklich hübsch und sehr lieb. Wenn sie dir nicht gefällt, dann heiratest du sie eben nicht. Aber gucken kostet doch nichts.«
Gerrit seufzte abgrundtief. »Was soll ich nur mit dir machen? Die Frau fürs