Und noch einmal von vorn: Mami 1923 – Familienroman
Von Mara de Winter
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Über dieses E-Book
»Mama?
»Ja, mein Schatz? Was ist denn los?«
»Mama, ich hab' so einen großen Hunger!«
»Charlie, meine Maus, das glaube ich dir nicht!«
»Doch, hab' ich wohl. Ich hab' schon ein riesiges Loch im Bauch vor lauter Hunger! Schau. Schau mal!«
»Schätzchen, du kannst doch gar keinen Hunger haben. Du hast doch erst vor zehn Minuten ein riesengroßes Käsebrötchen verputzt. Es wird ja nun nicht mehr lange dauern! Wir sind bestimmt gleich da.«
Ein wenig entnervt versuchte Christina Westphal durch den heftig fallenden Regen die verschwommene Straße zu erkennen. Die quietschenden Scheibenwischer gaben wirklich ihr bestes, doch der alte Wagen hatte schon einmal bessere Zeiten gesehen. Weit bessere Zeiten. Sie konnte sich sehr glücklich schätzen, wenn sie ihr Ziel heil erreichten.
»Aber Mama, ich hab doch Hunger! Jetzt! Und nicht erst, wenn wir da sind!« Das kam so anklagend aus dem schmollenden Mund der hübschen Fünfjährigen, daß Christina sich ein Lächeln verkneifen mußte.
Trotzdem schüttelte sie den Kopf. »Das glaub ich dir nicht. Aber du kannst gern noch einen Apfel haben, wenn du am Verhungern bist. In der Tüte hinter meinem Sitz müßte noch einer sein.«
Doch einen Apfel wollte Charlie nicht. »Dann hab' ich eben Durst!«
»Charlie, du mußt noch ein wenig Geduld haben. Bitte, mein Schatz. Wir müßten in einer halben Stunde ankommen, so lange hältst du es doch bestimmt noch aus.«
Charlie, eigentlich Charlotte, verkreuzte die Arme über dem Bauch. Verstimmt blickte sie aus dem Fenster, konnte jedoch vor lauter Regentropfen auf der Fensterscheibe nichts von der vorbeifliegenden Umwelt erkennen. Sie stöhnte laut auf.
»Mir ist sooo langweilig. Niemand
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Buchvorschau
Und noch einmal von vorn - Mara de Winter
Mami
– 1923–
Und noch einmal von vorn
Christina und Charly wagen einen neuen Anfang
Mara de Winter
»Mama?
»Ja, mein Schatz? Was ist denn los?«
»Mama, ich hab’ so einen großen Hunger!«
»Charlie, meine Maus, das glaube ich dir nicht!«
»Doch, hab’ ich wohl. Ich hab’ schon ein riesiges Loch im Bauch vor lauter Hunger! Schau. Schau mal!«
»Schätzchen, du kannst doch gar keinen Hunger haben. Du hast doch erst vor zehn Minuten ein riesengroßes Käsebrötchen verputzt. Es wird ja nun nicht mehr lange dauern! Wir sind bestimmt gleich da.«
Ein wenig entnervt versuchte Christina Westphal durch den heftig fallenden Regen die verschwommene Straße zu erkennen. Die quietschenden Scheibenwischer gaben wirklich ihr bestes, doch der alte Wagen hatte schon einmal bessere Zeiten gesehen. Weit bessere Zeiten. Sie konnte sich sehr glücklich schätzen, wenn sie ihr Ziel heil erreichten.
»Aber Mama, ich hab doch Hunger! Jetzt! Und nicht erst, wenn wir da sind!« Das kam so anklagend aus dem schmollenden Mund der hübschen Fünfjährigen, daß Christina sich ein Lächeln verkneifen mußte.
Trotzdem schüttelte sie den Kopf. »Das glaub ich dir nicht. Aber du kannst gern noch einen Apfel haben, wenn du am Verhungern bist. In der Tüte hinter meinem Sitz müßte noch einer sein.«
Doch einen Apfel wollte Charlie nicht. »Dann hab’ ich eben Durst!«
»Charlie, du mußt noch ein wenig Geduld haben. Bitte, mein Schatz. Wir müßten in einer halben Stunde ankommen, so lange hältst du es doch bestimmt noch aus.«
Charlie, eigentlich Charlotte, verkreuzte die Arme über dem Bauch. Verstimmt blickte sie aus dem Fenster, konnte jedoch vor lauter Regentropfen auf der Fensterscheibe nichts von der vorbeifliegenden Umwelt erkennen. Sie stöhnte laut auf.
»Mir ist sooo langweilig. Niemand spielt mit mir!«
»Komm, wir singen was zusammen«, schlug Christina ihrer Tochter vor, obwohl sie schon mehrere Stunden mit Singen verbracht hatte. »Wie wäre es mit ›Die kleinen Fische‹?«
»Nein, ›Die kleinen Fische‹ sind doof. Lieber ›Die sieben Mäuse‹!«
»In Ordnung, mein Schatz, dann eben ›Die sieben Mäuse‹. Eins, zwei, drei!«
Und schon krähte Charlie los. Wenn Christina im Moment auch nicht die geringste Lust zum Singen verspürte, so war Charlie doch für eine Weile abgelenkt. Bei den hohen Tönen, die sie eher laut als richtig traf, kroch Christina eine dicke Gänsehaut den Rücken hinunter. Sie seufzte. Seit beinahe sieben Stunden waren sie nun schon mit ihrem betagten, klapprigen Auto quer durch Deutschland unterwegs, und die kleine Charlie hatte sich bisher bemerkenswert gut gehalten. Doch nun war sie quengelig, wollte einfach nicht mehr länger still sitzen bleiben. Auch Christina taten von der langen Fahrerei mittlerweile alle Knochen weh, doch sie hatte nun einmal keine andere Wahl gehabt. In ihrer alten Heimatstadt hatte sie trotz aller Bemühungen einfach keine Arbeitsstelle gefunden, so lange und intensiv sie auch gesucht hatte. Sie konnte ja schließlich auch nicht jede beliebige Arbeit annehmen, wollte immer noch genügend Zeit für ihre kleine Tochter haben. Nachdem sie sich in einigen unbefriedigenden und nervenaufreibenden Bürojobs versucht hatte, nächtelang putzen gegangen war und einige Monate in einem Supermarkt an der Kasse gesessen hatte, gab sie schließlich auf. Sie mußte sich bewegen können, mußte raus an die frische Luft. Sie sah ein, daß sie nur in ihrem Dorf als Reitlehrerin glücklich werden würde und hatte sich nun auch bei Stellen beworben, die sehr weit weg von ihrem Heimatort lagen. Und endlich, endlich hatte sie Glück. Hoch oben im Norden, fast schon an der dänischen Grenze, gab es ein großes Gestüt, das ihr eine sehr gute Stelle anbot. Sie konnte ihre Arbeitszeit relativ frei einteilen und würde genug Zeit haben, um sich um Charlie kümmern zu können.
Genau dorthin waren sie nun seit den frühen Morgenstunden unterwegs. Ihr gesamtes Hab und Gut befand sich in dem Wagen, alles, was sie hatten einpacken und irgendwie verstauen können, fand irgendwo ein Plätzchen. Die großen Möbel hatte Christina verkauft, auch die vielen Dinge, die sie an Matthias erinnerten.
Matthias…
Christina hielt einen Moment inne und gestattete sich ein paar wehmütige Gedanken an den Vater der kleinen Charlotte, Christinas Ehemann. Auch er war Reitlehrer gewesen, hatte die Tiere meisterhaft beherrscht, bis er schließlich an einen jungen stürmischen Hengst geraten war, der stärker gewesen war als er. Wochenlang hatte er mit viel Liebe und Geduld dem kräftigen und eigensinnigen Tier gekämpft, hatte versucht, ihn sich untertan zu machen, ohne seinen starken Willen zu brechen, und hatte schließlich auch gewonnen. Der Hengst und Matthias waren Freunde geworden. Eines Tages war eine Jagd angesetzt gewesen, bei welcher der ganze Reiterhof teilnahm. Matthias hatte eigentlich mit einem alten erfahrenen Wallach mitreiten wollen, doch dieser hatte sich Tags zuvor verletzt. Da Matthias der Veranstalter und Leiter dieser Jagd war und somit gezwungenermaßen teilnehmen mußte, sattelte er schließlich den Hengst. Christina hatte ihm warnend abgeraten, wußte, daß es wieder einmal zu einer Kraftprobe zwischen den beiden kommen würde, doch Matthias hatte abgewunken… Und es kam, wie es kommen mußte. Eines der Hindernisse wurde ihnen zum Verhängnis. Der Hengst bäumte sich widerstrebend auf, konnte nicht mehr rechtzeitig vom Boden abspringen und rutschte in das Gewirr aus Stangen, Holzplanken und Balken hinein. Matthias überschlug sich und landete mitten im Hindernis. Er war auf der Stelle tot.
Seit diesem Tag hatte sich Christina auf kein Pferd mehr gesetzt, konnte eine lange Weile nicht einmal mehr den Geruch der schönen Tiere ertragen. Doch irgendwann setzte sich der Gedanken durch, daß es nicht die Schuld des Hengstes war, die Matthias das Leben gekostet hatte, sondern seine eigene. Schließlich war er erfahren genug, um zu wissen, daß man mit einem jungen ungeübten Pferd eine so schwere Jagd nicht reiten durfte.
Mit Matthias hatte Christina ihre Jugendliebe verloren, den einzigen Mann, den sie jemals von Herzen geliebt hatte. Nach ihm hatte sie nie wieder einen Mann auch nur näher angesehen, dieses Kapitel in ihrem Leben war ein für alle Mal für sie abgeschlossen. Noch dazu wurde sie jeden Tag aufs neue an ihn erinnert, war doch Charlotte sein genaues Abbild. Sie hatte die gleichen großen dunkelblauen Augen, die gleichen schwarzbraunen Locken, die sich von keinem Kamm und keiner Bürste bändigen ließen. Zuweilen schaute sie ihre Mutter sogar auf die gleiche eigentümliche Art an, mit der Matthias sie stets angeblickt hatte.
Dieser leicht schiefgelegte Kopf mit dem angedeuteten halben Lächeln und den spitzbübischen Augen… Sogar wenn sie schmollten, sahen Tochter und Vater einander ähnlich. Es war so abgrundtief schade, daß die beiden nur eine so kurze Zeitspanne miteinander hatten verbringen können.
Christina mußte unwillkürlich lächeln und war ein wenig milder gestimmt. Schließlich konnte ihre kleine Tochter ja nichts dafür, daß es im Großraum Frankfurt keine Stelle als Reitlehrerin für sie gegeben hatte und sie somit gezwungen wurde, endlose Stunden im vollgepackten Auto zu verbringen. Sie warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel. Noch immer hatte Charlie die Arme vor der Brust überkreuzt und die Unterlippe schmollend ein wenig vorgeschoben. Doch Christina konnte sehen, daß es in ihrem Köpfchen heftig arbeitete. Gleich würde ihr die nächste Ausrede einfallen, damit ihre Mutter den nächsten Rastplatz anfahren mußte. Christina kam ihr zuvor.
»In Ordnung,