Im Sonnenwinkel 53 – Familienroman: Wer sagt mir, wer ich bin?
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Wundervolle, Familienromane die die Herzen aller höherschlagen lassen.
»So leid es mir für Sie tut, Frau Ranke, aber Ihre Geschwister müssen vorerst in einem Heim untergebracht werden«, sagte die grauhaarige Fürsorgerin zu dem jungen Mädchen. »Sie sind berufstätig und können sich tagsüber nicht um die Kinder kümmern, sie brauchen aber ihre Ordnung.«
»Aber vormittags können sie doch im Kindergarten sein, und vielleicht macht man auch eine Ausnahme und …«, sie unterbrach sich, denn in der Tür erschien ein kleiner Junge.
»Sie soll weggehen«, sagte er trotzig. »Du sollst nicht wieder weinen, Irmela.«
»Geh noch ein Weilchen hinaus, Andy«, sagte Irmela mit aller Beherrschung. »Frau Göllner will uns ja nicht trennen.«
Nein, Frau Göllner wollte das nicht, aber sie hatte ihre Pflicht zu erfüllen. Ihr tat dieses tapfere junge Mädchen leid, das so verzweifelt darum kämpfte, die beiden kleinen Geschwister, die ihre Stiefgeschwister waren, bei sich zu behalten.
»Du darfst aber nicht weinen, Irmela«, sagte der Junge wieder. »Uschi weint nämlich auch schon wieder.«
»Tröste sie. Ich komme gleich zu euch«, versprach Irmela.
»Bitte, haben Sie doch Verständnis«, sagte Irmela flehend, als Andy die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte. »Meine Tante lebt in guten Verhältnissen. Sie wird sich bestimmt melden.«
»Aber sie hat sich noch nicht gemeldet und ist auch nicht zur Beerdigung gekommen«, sagte Frau Göllner. »Man vertraut manchmal zu sehr auf Verwandte. Wir werden dafür sorgen, dass die Kinder in ein gutes Heim kommen. Sie sind noch nicht mündig, und der Vater der Kinder ist unauffindbar. Sie wissen das alles.«
Bitterkeit erfüllte Irmela. Ja, sie wusste das alles, aber solange ihre Mutter schwer krank war,
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Im Sonnenwinkel 53 – Familienroman - Patricia Vandenberg
Im Sonnenwinkel
– 53 –
Wer sagt mir, wer ich bin?
Patricia Vandenberg
»So leid es mir für Sie tut, Frau Ranke, aber Ihre Geschwister müssen vorerst in einem Heim untergebracht werden«, sagte die grauhaarige Fürsorgerin zu dem jungen Mädchen. »Sie sind berufstätig und können sich tagsüber nicht um die Kinder kümmern, sie brauchen aber ihre Ordnung.«
»Aber vormittags können sie doch im Kindergarten sein, und vielleicht macht man auch eine Ausnahme und …«, sie unterbrach sich, denn in der Tür erschien ein kleiner Junge.
»Sie soll weggehen«, sagte er trotzig. »Du sollst nicht wieder weinen, Irmela.«
»Geh noch ein Weilchen hinaus, Andy«, sagte Irmela mit aller Beherrschung. »Frau Göllner will uns ja nicht trennen.«
Nein, Frau Göllner wollte das nicht, aber sie hatte ihre Pflicht zu erfüllen. Ihr tat dieses tapfere junge Mädchen leid, das so verzweifelt darum kämpfte, die beiden kleinen Geschwister, die ihre Stiefgeschwister waren, bei sich zu behalten.
»Du darfst aber nicht weinen, Irmela«, sagte der Junge wieder. »Uschi weint nämlich auch schon wieder.«
»Tröste sie. Ich komme gleich zu euch«, versprach Irmela.
»Bitte, haben Sie doch Verständnis«, sagte Irmela flehend, als Andy die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte. »Meine Tante lebt in guten Verhältnissen. Sie wird sich bestimmt melden.«
»Aber sie hat sich noch nicht gemeldet und ist auch nicht zur Beerdigung gekommen«, sagte Frau Göllner. »Man vertraut manchmal zu sehr auf Verwandte. Wir werden dafür sorgen, dass die Kinder in ein gutes Heim kommen. Sie sind noch nicht mündig, und der Vater der Kinder ist unauffindbar. Sie wissen das alles.«
Bitterkeit erfüllte Irmela. Ja, sie wusste das alles, aber solange ihre Mutter schwer krank war, und das war sie sehr lange gewesen, hatte sich auch niemand von den Behörden darum gekümmert, wie und wovon sie lebten. Erst jetzt, da sie tot war, mischten sie sich ein.
Irmela hatte viel in sich hinein geschluckt, jetzt brach es aus ihr hervor.
Für Irmela zählte nur, dass sie und die Kinder auseinandergerissen werden sollten, dass man diese beiden kleinen Kinder, die sie so liebgewonnen hatte, von ihr trennen wollte.
»Lassen Sie mir bitte noch ein paar Tage Zeit«, machte Irmela einen letzten verzweifelten Versuch. »Ich werde versuchen, meine Tante anzurufen.«
»Haben Sie das nicht schon vier Tage vergeblich versucht?«, fragte Frau Göllner.
»Sie verreisen geschäftlich öfter einmal«, sagte Irmela.
»Wir werden uns von Amts wegen mit den Angehörigen ohnehin in Verbindung setzen«, sagte Frau Göllner. »Morgen werden die Kinder abgeholt.«
Bebend lehnte Irmela an der Wand der kleinen Diele, als Frau Göllner gegangen war. Ihre Gedanken überstürzten sich.
»Ist sie endlich weg?«, fragte Andy durch die Tür.
»Ja, sie ist weg, und wir fahren auch gleich weg«, stieß Irmela hervor.
Nun erschien auch Uschi. Ihr kleines Gesicht war schmutzig und verweint. Sie presste ihr Köpfchen an Irmelas Arm.
»Meine liebe, liebe Irmimausi«, schluchzte sie. »Uschi will auch tot sein.«
Das zerriss Irmela fast das Herz, aber nun zwang sie sich allem Kummer zum Trotz zu einem Lächeln. »Das wäre sehr schlimm, mein Kleines«, sagte sie. »Wir machen jetzt eine große Reise, und niemand wird uns finden. Wir bleiben zusammen.«
Kinderschmerz war schnell zu trösten, und eine große Reise hatten sie noch nie gemacht. Da standen die Plappermäulchen nicht mehr still, und Irmela kam gar nicht dazu, darüber nachzudenken, was sie da so impulsiv plante.
Ein paar hundert Euro hatte sie als eisernen Notgroschen zurückgelegt. Alles hatte die Krankheit ihrer Mutter nicht aufgezehrt.
Arme, arme Mama, dachte sie, als sie den letzten Koffer schloss.
*
Eine halbe Stunde später standen sie auf dem Bahnhof in Hamburg-Altona. Während der Fahrt dorthin hatte Irmela krampfhaft überlegt, ob sie Andy durchmogeln könnte. So etwas lag ihr überhaupt nicht, aber er war ja für sein Alter noch ziemlich klein, und wenn sie sagte, dass er erst vier sei, brauchte sie für ihn keine Fahrkarte.
Aber wohin wollten sie eigentlich? So weit wie nur möglich, dachte sie und schaute auf den Fahrplan.
»Fahren wir in die Berge, Irmi?«, fragte Andy. »Da muss es schön sein.«
München, dachte Irmela. In fünfzehn Minuten fuhr ein ICE nach München.
Gedacht, getan, schon stand sie am Schalter.
»Jetzt müssen wir uns höllisch beeilen«, sagte Irmela. Sie neigte sich zu Andy herab und flüsterte ihm ins Ohr: »Und wenn dich jemand fragt, wie alt du bist, sagst du vier Jahre. Tust du das?«
»Bin doch vier Jahre«, erwiderte er verschmitzt.
Uschi war ein Jahr jünger. Für sie spielten Jahre sowieso noch keine Rolle. Außerdem war sie müde, denn sie war gewohnt, früh zu Bett gebracht zu werden, und jetzt war es schon fast sieben Uhr.
Beeilen mussten sie sich sehr, um zum Zug zu kommen.
Eine üppige Frau saß am Fenster. Sonst war das Abteil leer.
»Ich fahre nur bis Hannover«, verkündete sie sogleich redselig. »Und wo wollt ihr hin?«, fragte sie die Kinder.
Andy und Uschi schwiegen. Die Frau kicherte. »Ihr seid aber schüchtern«, sagte sie.
»Wir sind ganz brav«, wisperte Uschi. »Bin müde, Irmimausi.«
»Gott, ist die süß«, sagte die Frau.
Irmela hatte eine höllische Angst, dass der Schaffner kommen und fragen könne, wie alt Andy sei.
Aber er kam erst kurz vor Hannover, und da schliefen beide Kinder schon. »Unter vier?«, fragte er nur kurz. Irmela nickte. Es war halbdunkel im Abteil, und er konnte nicht sehen, wie sie dabei errötete.
Gleich darauf stieg die Frau aus. »Nach München ist es ja noch ganz schön weit«, sagte sie. »Da haben Sie noch Schokolade und Äpfel für die Kleinen. Gute Reise.«
Irmela fühlte sich plötzlich sehr einsam, und nun wurde es ihr bewusst, was sie gewagt hatte. Schlafen konnte sie nicht, obgleich sie allein im Abteil blieben. Zu viel ging ihr durch den Sinn.
Zwölf Jahre war sie gewesen, als ihr Vater auf einer Dienstreise tödlich verunglückte. Er war ein höherer Beamter gewesen und hatte seine Frau und seine Tochter gut versorgt zurückgelassen. Sie verstand sich gut mit ihrer Mutter, aber darin trat jener Mann in ihr Leben, durch den sich alles verändern sollte. Zuerst für Irmela, denn sie kam in ein Internat. Als Andy geboren wurde, lebten Mutter und Stiefvater noch in dem hübschen Einfamilienhaus. In den Ferien fuhr Irmela heim und war selig über den niedlichen kleinen Bruder. Aber ihre Mutter wirkte unglücklich. Und als dann Uschi zur Welt kam, waren sie schon aus dem Haus in eine Dreizimmerwohnung umgezogen.
Hans hätte schlechte Geschäfte gehabt, hatte ihre Mutter als Erklärung gesagt. Es würde aber schon wieder besser werden. Sie hätten das Haus vermietet, weil sie da eine höhere Miete bekommen würden, als sie für die Wohnung zahlen müssten. Doch ein Jahr nach Uschis Geburt war Hans Peschel nicht mehr da, als Irmela aus dem Internat heimkam. Er hätte eine gute Stellung im Ausland bekommen, wurde ihr von ihrer Mutter erklärt.
Das alles war nicht wahr gewesen. Das Haus war verkauft, das Geld verbraucht, Hans Peschel hatte seine Familie verlassen, und Anneliese Peschel, die ihm gläubig vertraut hatte, wurde gemütskrank.
Die erst achtzehnjährige Irmela wuchs über sich hinaus. Sie versorgte die kranke Mutter und die kleinen Geschwister, und als das Geld immer knapper wurde, nahm sie auch noch eine Halbtagsstellung in einem Übersetzungsbüro an.
Sie hatte keine Zeit, einmal an sich zu denken. Die beiden Kleinen hingen mit abgöttischer Liebe an ihr, und sie liebte diese unschuldigen Kinder, die von ihrer enttäuschten, deprimierten Mutter nur noch als Last empfunden wurden.
Niemand wusste von dem Leidensweg dieses jungen, tapferen Mädchens. Vor ihrer Schwester Renate, die eine gute Partie gemacht hatte, schämte sich Anneliese, denn Renate hatte sie vor Hans Peschel gewarnt.
So erfuhr Renate Schoener auch nichts von der schweren Krankheit der älteren Schwester, nichts von den Sorgen, die die junge Irmela tragen musste, die sie aber wegen der Kinder freiwillig auf sich genommen hatte.
*
An all dies dachte Irmela während der Fahrt nicht. Die Kinder schliefen fest. Sie achtete darauf, dass die Mäntel, mit denen sie sie zugedeckt hatte, nicht verrutschten.
Irmela dachte auch nicht daran, dass irgendwo der Vater der Kinder lebte, der sie vergessen zu