Nur Simon überlebte: Sophienlust 307 – Familienroman
Von Anne Alexander
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Über dieses E-Book
Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren.
»Manchmal denke ich, es wäre besser, man würde keine Zeitung mehr aufschlagen«, sagte Frau Rennert aufseufzend zu Denise von Schoenecker. »Da ist schon wieder so ein gräßlicher Unfall passiert. Eltern, Kinder und Großmutter sind beim Zusammenstoß ihres Wagens mit einem Lastzug ums Leben gekommen. Erschauernd schlug die Heimleiterin die Zeitung zu. »Außer dem Fahrer des Lastwagens ist nur noch der Hund der Familie am Leben geblieben.« Es war noch früh am Morgen. Mit einem freundlichen Nicken dankte Denise dem Hausmädchen Ulla, das eine Tasse Kaffee auf ihren Schreibtisch stellte. Gewöhnlich kam sie erst gegen zehn Uhr in das Kinderheim, doch an diesem Tag sollte noch vor neun Uhr ein kleiner Junge von seinem Vater nach Sophienlust gebracht werden. »Ein PKW-Fahrer«, las Frau Rennert weiter vor. »Er hatte die Vorfahrt nicht beachtet. Trotzdem, der Lastwagenfahrer wird sich wohl sein Leben lang Vorwürfe machen. Auch wenn er nichts dafür kann, hat er das Leben von fünf Menschen auf dem Gewissen.« Denise nickte bekümmert. »Die meisten Menschen kommen wohl niemals über eine solche Sache hinweg. Vielleicht sagte sich der Fahrer, wär ich etwas langsamer gefahren, hätte ich schneller reagiert… Alice Kaiser hat den Tod ihrer Kinder auch noch nicht überwunden. Ich sprach neulich mit Frau Dr. Frey über sie. Obwohl Frau Kaiser nichts für den Unfall, in den sie verwickelt wurde, konnte, fühlte sie sich schuldig.«
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Buchvorschau
Nur Simon überlebte - Anne Alexander
Sophienlust
– 307 –
Nur Simon überlebte
Eine Urlaubsreise ins Unglück
Anne Alexander
»Manchmal denke ich, es wäre besser, man würde keine Zeitung mehr aufschlagen«, sagte Frau Rennert aufseufzend zu Denise von Schoenecker. »Da ist schon wieder so ein gräßlicher Unfall passiert. Eltern, Kinder und Großmutter sind beim Zusammenstoß ihres Wagens mit einem Lastzug ums Leben gekommen. Erschauernd schlug die Heimleiterin die Zeitung zu. »Außer dem Fahrer des Lastwagens ist nur noch der Hund der Familie am Leben geblieben.«
Es war noch früh am Morgen. Mit einem freundlichen Nicken dankte Denise dem Hausmädchen Ulla, das eine Tasse Kaffee auf ihren Schreibtisch stellte. Gewöhnlich kam sie erst gegen zehn Uhr in das Kinderheim, doch an diesem Tag sollte noch vor neun Uhr ein kleiner Junge von seinem Vater nach Sophienlust gebracht werden.
»Ein PKW-Fahrer«, las Frau Rennert weiter vor. »Er hatte die Vorfahrt nicht beachtet. Trotzdem, der Lastwagenfahrer wird sich wohl sein Leben lang Vorwürfe machen. Auch wenn er nichts dafür kann, hat er das Leben von fünf Menschen auf dem Gewissen.«
Denise nickte bekümmert. »Die meisten Menschen kommen wohl niemals über eine solche Sache hinweg. Vielleicht sagte sich der Fahrer, wär ich etwas langsamer gefahren, hätte ich schneller reagiert… Alice Kaiser hat den Tod ihrer Kinder auch noch nicht überwunden. Ich sprach neulich mit Frau Dr. Frey über sie. Obwohl Frau Kaiser nichts für den Unfall, in den sie verwickelt wurde, konnte, fühlte sie sich schuldig.«
»Das muß doch jetzt rund ein halbes Jahr her sein«, meinte Frau Rennert. »Eine schreckliche Sache!«
»Sie hat Frau Dr. Frey anvertraut, daß ihr Mann sie noch jetzt mit Vorwürfen überhäuft. Wir wissen ja alle, wie vernarrt Armin Kaiser in seine Kinder war. Es muß ein furchtbarer Schlag für ihn gewesen sein, Sonja und Klaus zu verlieren. Durch seinen eigenen Kummer hat er aber vergessen, daß seine Frau unter dem Tod der Kinder genauso leidet wie er.«
»Es heißt, die beiden hätten sich völlig auseinandergelebt«, bemerkte Frau Rennert. »Ich gebe ja nichts auf den Klatsch der Leute, doch in diesem Fall glaube ich sogar das, was man sich erzählt. Wildmoos ist schließlich nicht aus der Welt, und wir bekommen viel von dem mit, was sich im Ort abspielt. Armin Kaiser soll sich völlig in seine Arbeit vergraben haben.«
»Ich habe mir schon überlegt, ob ich nicht einmal mit Alice Kaiser sprechen soll. Unter Umständen kann ich ihr helfen.« Denise zuckte mit den Schultern. »Ich kann ihr zwar nicht die Kinder zurückgeben, aber vielleicht hilft es ihr etwas, wenn sie weiß, daß sie nicht von aller Welt verlassen ist. Sie…«
Denise wurde durch das stürmische Aufreißen der Tür unterbrochen. Ihr neunjähriger Sohn Henrik steckte den Kopf ins Empfangszimmer. Wie gewöhnlich sahen seine braunen Haare aus, als habe er sich seit Tagen nicht gekämmt.
»Ist der neue Junge schon da?« fragte Henrik eifrig.
»Ich glaube, man sagt erst einmal guten Morgen, Henrik«, mahnte Denise. »Was soll denn Frau Rennert von dir denken?«
»’tschuldigung!« Henrik trat ins Zimmer. »Guten Morgen, Frau Rennert! Ist der neue Junge schon da?« Seine Augen blitzten unternehmungslustig. »Fabian und ich wollen zum Waldsee radeln. Da könnten wir den Neuen doch mitnehmen.«
»So schnell geht es nicht, Henrik, so löblich euer Vorsatz auch ist.« Frau Rennert lächelte dem Buben zu. Wie jeder in Sophienlust mochte sie Henrik, der alles andere als ein Musterknabe war. Wann immer die Kinder einen Streich ausheckten, man konnte sicher sein, Henrik war mitten unter ihnen. Doch wenn es darauf ankam, war auf ihn genauso Verlaß, wie auf seinen sechzehnjährigen Bruder Nick.
»Wenn Ralf kommt, müssen wir zuerst die Aufnahmeformalitäten erledigen, dann müssen wir ihm Sophienlust zeigen, und bestimmt will sein Vater ihn auch erst noch ein Weilchen für sich haben«, sagte Denise. »Aber wie wäre es, wenn ihr euren Ausflug auf heute nachmittag verschieben würdet?«
Henrik zögerte nur Sekunden, dann nickte er. »Klar, machen wir, Mutti! Ich geh und sag’s Fabian. Tschüs!« Schon war er wieder zur Tür hinaus.
»Wirbelwind«, murmelte Frau Rennert. »Manchmal frage ich mich, was wir ohne Henrik tun sollten. Und nicht nur ohne Henrik, auch ohne Nick, Pünktchen und Irmela. Sie machen es den Kindern leicht, sich bei uns einzugewöhnen.«
»Lassen Sie das die Rasselbande nicht hören, sonst bildet sie sich noch etwas darauf ein«, erwiderte Denise. Sie griff nach einem Stoß Karteikarten, den Frau Rennert schon am Vorabend für sie bereitgelegt hatte.
Wieder wurde die Tür aufgerissen. »Sie kommen!« schrie Henrik ins Empfangszimmer. »Sie kommen!«
»Welch eine Sensation!« Frau Rennert lachte und erhob sich. »Man könnte fast meinen, die Ankunft eines neuen Kindes sei etwas völlig Unerwartetes.«
Als Frau Rennert und Denise aus dem Haus traten, um Herrn Neubert und dessen Sohn Ralf entgegenzugehen, sahen sie, daß nur Herr Neubert ausgestiegen war. Ralf saß noch immer im Fond des roten Wagens.
»Ralf weigerte sich auszusteigen«, sagte Alex Neubert, nachdem er Frau Rennert und Denise begrüßt hatte. »Er will nicht hierbleiben. Ich habe ihn schon nur mit Gewalt in den Wagen hineinbekommen. Als wir abfahren wollten, hatte er sich in der Toilette eingeschlossen.
»Haben Sie ihm erklärt, warum er für einige Wochen bei uns bleiben muß?« fragte Frau Rennert.
»Mehr als einmal, aber er will nicht einsehen, daß ich ihn nicht nach Südafrika mitnehmen kann. Er denkt, ich würde ihn für immer im Kinderheim lassen.«
Denise ging zum Wagen und öffnete die Fondtür. »Hallo, Ralf!« sagte sie freundlich. »Darf ich mich etwas zu dir setzen?«
Der Junge gab keine Antwort. Mit zusammengekniffenen Lippen starrte er Denise an. Er war erst sechs, aber in seinen dunklen Augen lag etwas, was ihn viel älter erscheinen ließ.
Ralfs Eltern hatten sich vor drei Jahren scheiden lassen. Bis vor sechs Monaten hatte der Junge bei seiner Mutter gelebt. Dann hatte diese erneut geheiratet und ihn einfach zu ihrer Schwester abgeschoben. Von dort war er zu einer weiteren Tante gebracht worden, und jetzt hatte er die letzten Wochen bei seinem Vater gewohnt.
»Ich steige nicht aus«, sagte Ralf nach einigen Sekunden und drückte sich fest in die Ecke. »Ich fahre mit meinem Papa mit, auch wenn er es nicht will.«
»Wenn dein Papa in zwei Monaten aus Südfarika zurückkommt, darfst du immer bei ihm wohnen.«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Ralf. »Tante Susanne hat auch gesagt, daß ich wieder zu ihr kommen würde, aber es war nicht wahr. Und meine Mama will mich auch nicht. Sie hat jetzt einen neuen Mann.«
»Du weißt doch, daß dein Papa dich sehr lieb hat, Ralf«, meinte Denise. »Wenn er dir verspricht, daß er dich nach seiner Rückkehr aus Südafrika abholen wird, dann kannst du es ihm glauben. Dein Papa hat sich bis jetzt nur deshalb so wenig um dich gekümmert, weil sein Beruf ihn immer wieder gezwungen hat, ins Ausland zu reisen. Aber wenn er aus Südafrika zurück ist, wird er bei dir bleiben, ganz bestimmt. Er hat doch extra deinetwegen seine Arbeitsstelle gewechselt.«
»Er geht wieder fort. Sie werden es sehen«, flüsterte Ralf, den Tränen nah. Er wischte sich über die Augen. »Er hat nur so gesagt, daß er mich abholen wird.«
»Du darfst Tante Isi zu mir sagen, wie alle Kinder in Sophienlust«, bot Denise dem Kleinen an. »Weißt du was? Wir basteln zusammen einen großen Kalender. Und an jedem Abend reißen wir ein Blatt von dem Kalender. Wenn kein Blatt mehr dran ist, wird dein Papa wieder dasein.«
»Mit Bildern?« fragte Ralf interessiert. »Mit Ponys und Katzen und Hunden?« Seine Augen glänzten. »Ich habe Tiere sehr lieb.«
Denise fühlte, daß sie gewonnen hatte. »Mit allen Bildern, die du möchtest«, versprach sie. »Wir haben hier jede Menge Tiere. Wenn du willst, dann kannst du auch auf einem Pony reiten. Und einen Papagei haben wir, der richtig sprechen kann. Er heißt Habakuk.«
Ralf kicherte. »Das ist aber ein komischer Name. Kann ich den Habakuk einmal sehen?«
»Dazu mußt du aber aussteigen!« Denise reichte dem Jungen ihre Hand. Vertrauensvoll ergriff er sie.
*
»Kommst du heute abend wieder so spät nach Hause?« fragte Alice Kaiser ihren Mann, als dieser schweigend vom Mittagstisch aufstand und das Eßzimmer verlassen wollte. Beinahe ängstlich sah sie ihn an. Seit Monaten hatte er kaum noch einen Abend zu Hause verbracht. Sie sprachen nur noch das Nötigste miteinander. Lange konnte es so nicht mehr weitergehen. Sie war am Ende ihrer Nervenkraft.
»Wahrscheinlich«, erwiderte Armin Kaiser. »Du weißt, daß wir zur Zeit mehr als genug Aufträge haben. Fräulein Riesterer ist auch krank. Einen großen Teil ihrer Arbeit muß ich mit übernehmen.«
»Wenn du willst, helfe ich aus, bis Fräulein Riesterer wieder gesund ist«, bot Alice eifrig an. Ihre blauen Augen bekamen etwas Glanz.
»Du?« Armin hob die Augenbrauen.
»Warum nicht?« fragte Alice. »Bis zu unserer Hochzeit habe ich schließlich in einem Büro gearbeitet. Und weißt du nicht mehr, wer für dich in den Jahren, in denen du das Geschäft aufgebaut hast, den Bürokram erledigt hat? Damals hatte ich sogar noch zwei kleine…« Sie schwieg abrupt. Sie hatte