Meine Tochter hat s nicht leicht
Von Lise Gast
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Buchvorschau
Meine Tochter hat s nicht leicht - Lise Gast
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Renis seltsame Familie Das schönste Geburtstagsgeschenk
„Guten Morgen, guten Morgen, guten Morgen, mein Liebchen..."
Reni fuhr in ihrem Bett in die Höhe. Die Sonne flutete golden zum Fenster herein, und mit ihr der Gesang aus mindestens siebzig Kinderkehlen, so frisch und hell wie dieser Junimorgen.
„Komm heraus da aus dem Haus da, komm heraus da aus dem Stübchen..."
Drüben im andern Bett bewegte sich jetzt ein schwarzer Schopf, und Erikas rotgeschlafenes Gesicht hob sich aus dem Versteck des gekrümmten Armes, in dem es bisher gelegen hatte. Es mußte noch sehr früh am Tage sein. Erika war sonst immer vor Reni wach.
„Denn die Sonn’, denn die Sonn’, denn die Sonne ist da!"
Reni kannte diesen Kanon natürlich, denn er war im Heim sehr beliebt. Heute aber klang er ihr noch netter, frischer und beschwingter als sonst. Freilich, heute bedeutete er auch etwas Besonderes. Er war ihr Geburtstagsgruß.
Sie war im Nachthemd ans Fenster gehopst und guckte hinaus. Wirklich, sämtliche Heimkinder standen unten und sangen — Jungen und Mädel, alle ungefähr in ihrem Alter, so um zwölf Jahre herum. Tante Thea, die Turntante, dirigierte. Sie stand mit dem Rücken zum Fenster, die Kinder mit dem Gesicht. Jetzt hatten ein paar von ihnen Reni erspäht. Sie winkten — Reni winkte wieder. Und da drehte sich auch Tante Thea mitten im Dirigieren um und winkte auch.
„Wir gratulieren! rief eines der Kinder, die anderen fielen ein, und der Kanon kam gewaltig ins Wackeln. Darüber mußte Tante Thea lachen, und so hob sie die Hand und ließ die Kinder, die gerade sangen: „Ist daaa!
ihren Ton aushalten, bis die nächsten und dann die übernächsten Stimmen auch so weit gekommen waren.
„Wir gratulieren unserer Reni!" rief es darauf im Chor, und Reni lachte und winkte. Während sich unten der Gratulationsruf in ein lustiges allgemeines Geschrei und Geschwätz auflöste, fuhr Reni in aller Eile in ihren Luftanzug. Duschen konnte sie nachher noch. Jetzt mußte sie erst zu den Kindern.
„Reni!" rief Erika hinter ihr her, aber Reni war schon abgesaust. Bei ihr ging immer alles im Schnellzugstempo.
So und nicht anders fegte sie auch der Treppe zu, um in den Hof hinauszurennen, aber an der Glastür der kleinen Wohnung fing sie jemand ab. Dieser Jemand war Tante Mumme.
Tante Mumme nahm Reni erst einmal in den Arm, um ihr zu gratulieren, und dann sagte sie etwas, was Renis Eifer, zu den Heimkindern im Hof zu gelangen, abbremste. Sie sagte:
„Aber Reni, die sind doch schon wieder weg! Die packen doch heute. Um zehn fahren sie allesamt ab. Hast du das denn vergessen?"
„Richtig!"
Reni lachte und hakte sich bei Tante Mumme unter, während sie miteinander in das kleine Familienwohnzimmer gingen. Dort war schon zum Frühstück gedeckt.
Sonst wurde draußen gefrühstückt, mit den Heimkindern zusammen. Zwischen den beiden Heimgebäuden lag der große Wohnhof, der an der dritten Seite von der niedrigen, langen Turnhalle abgeschlossen wurde. Diese Turnhalle lief von einem Haus zum anderen, und hinter ihr begann die Liegewiese, die sacht den Hang hinaufstieg. Im Wohnhof unter den drei dicken Kastanienbäumen standen ein paar eingerammte Tische. Hier wurde gefrühstückt, zu Mittag und zu Abend gegessen, wenn es das Wetter irgend zuließ, und zwar saßen hier alle durcheinander, die jeweiligen Heimkinder, die Tanten, die sie betreuten, und die Familie. Renis noch ziemlich neue Familie, in der man sich nicht zurecht fand, wenn man sie nicht erklärt bekam:
Da war Reni, ihre Mutter und ihr neuer Vater, der gleichzeitig der Onkel Doktor des Heims war. Dann gehörten noch Tante Mumme dazu, Vaters Schwester, die dem Heim vorstand, ebenso Christian, Vaters Sohn und Renis neuer Bruder, und schließlich Erika Niethammer, Renis Freundin, die für ein ganzes Jahr sozusagen ihre Schwester sein durfte. Diese merkwürdige und zusammengewürfelte Familie verteilte sich mit an den Tischen der Heimkinder, damit überall jemand saß, der Bescheid wußte und auf Ordnung hielt. Bei jedem Kinderschwung, der ankam mit Geschwatz und Gelache, mit großen und kleinen Sorgen und neuen Liedern, Spielen und Dummheiten, bei jedem dieser Kinderschübe machte Reni eine neue Tischordnung, und dort, wo am ehesten Unfriede zu erwarten war, bei den größeren Jungen zum Beispiel, dort setzte sie Vater hin oder auch Christian. Vater konnte wunderbar ausgleichen, wenn es Meinungsverschiedenheiten gab, mit seinem trockenen Humor, seinen kleinen Geschichten, mitunter auch mit einer überraschenden Strenge. Und Christian, der schon sechzehn war, ähnelte in dieser Beziehung seinem Vater sehr.
Reni bewunderte sowohl den Vater wie den neugebackenen Bruder um dieser Art willen, den Vater offen, Christian versteckt und ohne es zuzugeben. Sie hatte bis vor einem Vierteljahr nur eine Mutter gehabt; Renis Vater war früh gestorben.
Ein paar Wochen vor Ostern aber hatte sie den Onkel Doktor als neuen Vater bekommen und gehörte nun samt ihrer Mutter ganz und gar und wirklich richtig hierher, in das von ihr so heiß geliebte Heim am Berge. Hier war sie aufgewachsen, unter Tante Mummes Pflege, das einzige Kind im Heim, das blieb: Tante Mummes und Onkel Doktors Dauerheimkind.
Renis Mutter war früher Gutssekretärin bei Erikas Eltern gewesen und nur selten ins Heim zu Besuch gekommen. Freilich, gesehnt hatte sie sich immer nach ihrer kleinen Tochter, und eines Tages war sie gekommen, um Reni zu sich zu holen. Erika, die ohne Geschwister aufwuchs, wünschte sich so sehr eine Freundin. So luden ihre Eltern Reni ein.
Erika war ein lieber und netter Kerl. Die beiden Mädel verstanden sich sofort. Aber Reni konnte das Heim, und vor allem den zärtlich geliebten Onkel Doktor, nicht vergessen. Sie sehnte sich, je länger desto mehr, nach beiden zurück und erreichte es schließlich, daß sie, mit Erika zusammen, für eine kurze Zeit wenigstens wieder zu Besuch dorthin fahren durfte. In diesen Tagen geschah das Unglück.
Renis Mutter stürzte mit dem Pferd und verletzte sich so, daß sie viele Wochen liegen mußte. Alle bangten um sie, Reni am meisten. Frau Jahnecke wurde auch nicht wieder richtig gesund. Reiten jedenfalls würde sie nie mehr können.
Das war eine ganz schreckliche Geschichte. Zum großen Glück kümmerte sich der Onkel Doktor um Mutter, und sein Wunsch, sie zu sich ins Heim zu holen als seine Frau, ging nun in Erfüllung. Reni bekam damit den besten Vater der Welt.
Sie besaß nun also alles, was ihr bisher fehlte: einen Vater, eine Mutter, die bei ihr blieb, einen Bruder, dazu Tante Mumme, und um das Glück vollzumachen, hatten Niethammers erlaubt, daß Erika für ein Jahr hierher ins Heim übersiedelte. Auf diese Weise war Reni zu einer gleichaltrigen Schwester gekommen. Sie, die bisher ein Heimkind, wenn auch ein Dauerheimkind gewesen war, stand jetzt mit einem Mal mitten in einer Familie, die ihr gehörte. Das war so wunderbar, manchmal wachte sie früh auf und konnte es noch immer nicht begreifen.
Freilich, ein bißchen anders als in andern Familien ging es hier schon zu. Das brachte der Betrieb des Heims einfach mit sich. Sechs Wochen verlor sich die so mühsam erworbene Familie des Doktors sozusagen ganz im Schwarm der Heimkinder, um dann für drei oder höchstens vier Tage einmal allein zu sein. Das dauerte so lange, bis ein neuer Kinderschwarm anrückte, mit Rucksäcken und Koffern, Geschrei und Gelächter, Frohsinn und Heimweh. Reni kannte das nicht anders und war im großen und ganzen auch damit einverstanden, nur manchmal fand sie es doch etwas störend.
Heute aber klappte es gut. Heute war ihr Geburtstag, und da rückten die Heimkinder gerade wieder ab. Man bekam früh noch das Geburtstagsständchen gesungen, man würde sicherlich dies oder jenes kleine Geschenkpäckchen zugesteckt bekommen, dann aber fuhren die Ferienkinder weg, und man konnte in der Familie feiern. Morgen war nämlich außerdem noch Pfingsten. Reni hatte ihren Geburtstag mit Bedacht ausgewählt!
„... und daß du immer gesund bleibst und mich lieb behältst!" schloß Tante Mumme ihre Ansprache. Reni hatte nicht ein Viertel davon gehört. Sie guckte gespannt auf ihren Platz am Kaffeetisch: kein Geschenk? Wirklich keins?
Ein Kuchen stand da, auch ein Lichterkranz, natürlich noch nicht angezündet. Auch Blumen, und die Fest-Tasse mit dem goldenen Rand. Sonst nichts?
„Wann kommen denn die anderen? fragte sie und sprang von einem Bein auf das andere, nur ein klein wenig, damit Tante Mumme nicht nervös wurde. Aber still stehen konnte man nun einmal am Geburtstag nicht. „Und frühstücken wir wirklich hier? Bei uns?
‚Bei uns‘ hieß die kleine Wohnung, die seit Mutters Einzug sogar eine Glastür bekommen hatte, damit sie richtig abgeschlossen war. Sie lag im Wirtschaftsgebäude des Heims, während sich drüben im andern Haus die Schlaf- und Aufenthaltsräume für die Heimkinder befanden. Hier aber wohnten jetzt Vater und Mutter, ein Zimmer hatte Christian bekommen, und Reni teilte das, das sie von jeher inne gehabt hatte, für dieses Jahr mit Erika. Dann gab es noch das Kaminzimmer — Reni fand, dieses sei das schönste von allen — und das kleine Wohnzimmer mit dem großen, breiten Glasfenster, an dem es so herrlich blühte. Seit Mutter keine Pferde mehr betreuen konnte, hatte sie ihr Herz für die Blumen entdeckt. Denn etwas mußte sie immer pflegen, außer den Kindern natürlich, die sie auch betreute, ihre drei „eigenen", Christian, Erika und Reni, und die sechzig oder siebzig anderen, die alle sechs Wochen wechselten.
Zur Familie gehörte auch Tante Mumme, Vaters Schwester. Aber sie wohnte nicht hier. Sie hatte sich ganz mit Absicht und mit dem Starrsinn, den nur ganz kleine Kinder oder ältere Leute aufbringen, ein Zimmer außerhalb der Wohnung ausbedungen. Freilich lag es gleich neben der Glastür, dort, wo auch die Tanten und die Küchenmädel wohnten, außer derjenigen Tante, die „Dienst hatte" und für eine Woche im anderen Haus schlief. Dort gab es ein helles, kleines Zimmer für die Nachtwächterin, und eine der Tanten hauste dort immer acht Tage lang, um gleich zur Hand zu sein, wenn eins der Heimkinder einmal schlecht träumte, nach der Mutter rief oder nachts plötzlich krank wurde.
Im Nachtwächterheim wurden auch manchmal lustige Feste gefeiert, Feste, zu denen man im Schlafanzug erschien, ‚ganz heimlich‘, und bei deren üppiger Bewirtung einen dann der Doktor überraschte, höchst erstaunt, drohend und brummend und schließlich auf den allgemeinen Spaß eingehend. Bei jedem Kinderkurs wurde dieser Jux gemacht, und