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Haschems Lasso
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eBook262 Seiten3 Stunden

Haschems Lasso

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Über dieses E-Book

Wien, Leopoldstadt. Desirée stiehlt sich für einen Nachmittag aus dem hektischen Redaktionsalltag und taucht in die jüdisch-orthodoxe Parallelwelt ein, denn ihre Tochter Eva wird heiraten. Mit allem, was so dazugehört zu einer traditionellen jüdischen Hochzeit.

Jekaterina ist in dieser Parallelwelt zu Hause. Nicht zu hundert Prozent, aber sie hat ihr Bestes gegeben, um sich darin einzuleben. Langsam aber wird die Last der vielen Vorschriften und Regeln unerträglich. Ihre Kinder begreifen den Zwiespalt rascher als sie. Das zwingt Jekaterina zum Handeln.

Alexia Weiss entführt das Publikum in die Lebenswelten von sieben Jüdinnen in Wien, 60 Jahre nach dem Holocaust.
In ihrem Roman erzählt sie davon, wie Desirée, Jekaterina, Claudia, Ruth, Jennifer, Hanni und Rachel hier und heute leben, denken, lieben und handeln. Die einen tragen den Scheitel, die anderen gehen nicht einmal mehr zu Jom Kippur in den Tempel. Was die Frauen verbindet, ist die Frage nach ihrer Identität, die Sehnsucht nach einem glücklichen Leben und die Konfrontation mit ihren Ängsten.
SpracheDeutsch
HerausgeberMilena Verlag
Erscheinungsdatum7. Okt. 2015
ISBN9783902950697
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    Buchvorschau

    Haschems Lasso - Alexia Weiss

    Goldbaum

    1

    Desirée schaute auf die Uhr, was aber auch nichts mehr half, denn sie wusste schon, dass sie sich verspäten würde. Der Interview-Termin hatte wesentlich später begonnen als ursprünglich fixiert, aber das konnte man sich eben nicht aussuchen. Und dann hatte sie ja auch noch das Band in Windeseile abhören, das Wichtigste herausfiltern und die Seite fertig machen müssen. Der Redaktionsschluss war heute gar nicht einmal das Problem gewesen. De facto wäre noch eine Stunde länger Zeit geblieben, bis sie den Artikel ins Redaktionssystem hätte einchecken müssen. Aber Eva wartete schon. Eva, Desirées 20-jährige Tochter. Die sich einbildete, unbedingt jetzt schon heiraten zu müssen. Und dann auch noch mit Trompeten und Fanfaren.

    Als Desirée die Leopoldsgasse in Richtung Karmelitermarkt hetzte, sah sie an der Bushaltestelle eine Gruppe junger orthodoxer Frauen. Zwei schaukelten ihre Babys im Kinderwagen, fünf oder sechs schon etwas größere Kinder drängten sich um die Bank in dem Wartehäuschen. Sie sahen sich offensichtlich ein Bilderbuch an. Desirée kannte die Frauen – wenn auch nur flüchtig – vom Sehen, von ihren äußerst spärlichen Besuchen bei Veranstaltungen in der Gemeinde. »Diese armen Scheitelfrauen«, dachte Desirée. An manchen Tagen verachtete sie Frauen wie diese, die ihr Leben aus ihrer Sicht der Unterordnung verschrieben hatten. Sie verstand nicht, dass man sich im 21. Jahrhundert nicht von allen Fesseln befreien konnte. An anderen Tagen empfand sie schlicht Mitleid für sie. Hatten diese Frauen eine wirkliche Wahl gehabt? Was wohl aus ihr geworden wäre, wenn sie in eine ultra-orthodoxe Familie hineingeboren worden wäre? Und manchmal bekam sie ein schlechtes Gewissen, etwas zu verurteilen, nur weil es nicht ihrem eigenen Lebensstil entsprach. Vielleicht stimmte es ja, was viele dieser Scheitelfrauen – Desirée wusste, dass der Ausdruck nicht korrekt war und niemals hätte sie ihn in der Gegenwart von Nichtjuden ausgesprochen –, was also viele dieser Frauen sagten, dass sie sich so sehr wohl fühlten und gar nicht anders leben mochten. Dennoch, sie empfand es als totalen Anachronismus, dass Menschen im Jahr 2006 nach Regeln zu leben versuchten, die viele Jahrhunderte zuvor aufgestellt worden waren.

    Endlich war sie am Karmelitermarkt angelangt. Eva wartete bereits mit ungeduldiger Miene und deutete auf die Uhr. Ja, sie war zu spät, was sollte sie denn machen. Sie liebte ihre Tochter, auch wenn sie ganz anders war als sie selbst, aber diese Hektik, die Eva nun in Sachen Hochzeit verbreitete, ging ihr von Tag zu Tag mehr auf die Nerven. Auch wenn sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Wie hatte sie selbst ihre eigene Mutter gehasst, als diese ihren lieben Max zu Beginn ihrer Beziehung von oben herab behandelte. Weil Max, den Desirée bei den Kommunistischen Studenten kennen gelernt hatte, zwar studierte, aber selbst aus einer Arbeiterfamilie kam. Ihre Mutter, die alte Kommunistin.

    »Sie ist keine Kommunistin, sie spielt eine Kommunistin«, so Max’ Stehsatz bis heute. Irgendwie hatte er ja auch recht damit. Einerseits gegen den Kapitalismus zu wettern, sich aber andererseits nie und nimmer mit einem Arbeiter an den Tisch zu setzen – denn was sollte man mit so einem ungehobelten Menschen denn reden? –, das war auch irgendwie paradox. Max und ihre Mutter Nathalie hatten sich bis heute nicht wirklich angefreundet. Nathalie konnte sich ihre Sticheleien nicht verkneifen und Max parierte inzwischen gekonnt.

    Eva sollte es anders ergehen. Daniel, Evas Ehemann in spe, empfand sie als Kotzbrocken der Sonderklasse: gelacktes Äußeres, affektierte Sprache und immer wahnsinnig gestresst. Daniel war gerade dabei, sich in die Chefetage eines Mobilfunkbetreibers hochzuarbeiten. Aber er passte zu Eva, hatten sie und Max mit Bedauern festgestellt, denn auch Eva war für schicke Partys mehr zu begeistern als für politische Grundsatzdiskussionen. Leider.

    Eva studierte Publizistik, schlug aber so gut wie nie eine Tageszeitung auf. Ihre Welt waren Mode- und Klatschmagazine. Und Fernsehserien. Aber nur solche mit Glamour und Style-Bewusstsein. Sozialkritisches war nicht so sehr Evas Sache. Ob die Sonnenthals über ihren Sohn wohl ähnlich dachten wie sie über Eva? Hielten die ihren Sohn vielleicht für genauso oberflächlich, selbstverliebt und konsumorientiert wie sie ihre Tochter? Die Sonnenthals, die gleich hier ein paar Häuser weiter wohnten, waren nämlich sehr nette Leute. Und so unprätentiös. Nun, man konnte sich offensichtlich weder seine Eltern noch seine Kinder aussuchen. Eines musste sie Daniel allerdings zu Gute halten: Er arbeitete wirklich viel und engagiert. Im Gegensatz zu ihrer Tochter. Die wusste offenbar schon jetzt, dass sie es sich lieber als gut situierte Gattin gemütlich machen würde, anstatt sich selbst abzustrudeln. So entsetzlich unemanzipiert im Grunde, dachte Desirée immer wieder. Und das Leben gab ihr auch noch Recht. Wenn Eva als Teenager für irgendeinen Schnickschnack, den sie sich eingebildet hatte, Geld brauchte, das Max und sie nicht bereit waren, ihr zu geben, arbeitete sie im Sommer eben in der Firma irgendeines Daddys ihrer allesamt begüterten Freundinnen. Beschwerlich war das nie gewesen. Da floss genügend Geld für am Tag gerade Mal fünf Stunden Telefon abheben und Leute freundlich begrüßen. Als Ferialpraktikantin bei McDonald’s hätte Eva wohl in einem Monat das bekommen, was sie mit ihren Jobs in einer Woche einstreifte. Ohne größere Anstrengung.

    »Mami, immer bist du zu spät«, wetterte Eva, »die warten doch schon seit zwanzig Minuten auf uns. Hoffentlich haben die nun noch Zeit«.

    »Servus, mein Schatz«, sagte Desirée und küsste ihre Tochter auf beide Wangen, »gut schaust du aus«. Sie verschnaufte kurz. »Mein Interview hat leider etwas länger gedauert, tut mir leid. Aber keine Sorge, die warten sicher auf uns. So einen guten Auftrag lässt man sich doch nicht entgehen.« Als sie zwei Minuten später beim koscheren Caterer auf der Taborstraße angekommen waren, wurden sie nicht nur freundlich, sondern herzlich empfangen und die Entschuldigung Desirées wurde von Herrn Grynszpan wie erwartet mit einer raschen Handbewegung, dem Heben der rechten Augenbraue und einem professionell nonchalanten Lächeln weggefegt. Herr Grynszpan bat sie in einen der hinteren Räume, wo auf einem Tisch bereits allerlei Häppchen auf sie warteten. Das gibt’s ja nicht, dachte Desirée, das wird ja ein richtiges Essen. Sie hatte sich vorgestellt, dass sie sich für eine Speisenabfolge entscheiden, den Preis klären würden und das war es dann. Das hier würde wohl länger als eine Stunde in Anspruch nehmen. Aber sie hatte ohnehin Hunger. Nun war ihr jedenfalls klar, warum Eva den Termin in der koscheren Bäckerei erst für den frühen Abend angesetzt hatte. Und dabei war die Hochzeit doch überhaupt erst im Sommer! Und nun war es Herbst. Noch fast ein Jahr Zeit also.

    Herr Grynszpan fand ganz offensichtlich nichts Merkwürdiges daran, dass schon so früh bei ihm gebucht wurde. Ganz im Gegenteil. Als er sein riesiges Kalenderbuch aufschlug, sah Desirée, dass bereits Aufträge bis Anfang 2008 eingetragen waren. Offenbar war das also so üblich.

    Eva hatte schon zu den ersten Vorspeisen gegriffen. »Was sollen wir nehmen, Mami?«, fragte sie mit halb vollem Mund und Desirée erinnerte sich daran, dass Eva schon als Volksschulkind immer mit leuchtenden Augen vor Buffets gestanden war und sich nicht entscheiden konnte.

    »Du kannst nehmen, was du willst«, hatte sie immer gesagt und jetzt fiel ihr auch keine bessere Antwort ein.

    »Ja, ich weiß Mami, aber was ist am besten? Komm, koste schon, es schmeckt wirklich herrlich!«

    Diese kindliche Begeisterungsfähigkeit Evas war schon etwas sehr Sympathisches, dachte Desirée immer wieder. Wenn ihr kleines Mädchen nur nicht eines Tages aus ihrem zuckerlrosa Traum gerissen würde. Ob sie damit umgehen könnte? Hatte sie sie doch zu sehr verzogen, wie Max ihr manchmal vorwarf? Aber tat nicht jede Mutter alles, um ihr Kind nach Strich und Faden zu verwöhnen? Natürlich hatte sie sich eine kleine Leseratte gewünscht, die einmal Ärztin oder Sozialarbeiterin oder Psychologin oder Journalistin werden wollte. Im Politik- oder im Kulturressort. Aber Eva wollte eben nicht. Eva wollte vielleicht Klatschkolumnistin werden. Und Eva wollte Daniel heiraten. Und zwar mit einer perfekten Feier. Und dann ein perfektes Leben führen. So perfekt, wie sie es bei ihren Freundinnen und deren Müttern Tag für Tag sah. Vielleicht hatte sie ja nicht als Mutter, definitiv aber als Vorbild versagt.

    2

    Jekaterina mühte sich die Stiegen hoch. Schon wieder, hatte sie gedacht, als sie vom Griff der Aufzugtür das mit einer braunen Schnur befestigte, handgeschriebene Schild mit der Aufschrift »Außer Betrieb« baumeln sah. Etwa einmal im Monat hatte sie im Schulhaus zu tun. Und meistens funktionierte der Lift nicht.

    Heute musste sie in den dritten Stock. Als sie im zweiten Stock ankam, schwitzte sie bereits derart unter dem Scheitel, dass sie spürte, wie ihr Nacken feucht wurde. Völlig außer Atem kam sie schließlich vor dem Zimmer mit dem Türschild »Mag. Ruth Goldbaum, Schulpsychologin« zu stehen. Sie wollte sich noch einen Moment ausrasten, doch da ging die Türe bereits von innen auf. Eine andere Mutter, die sie flüchtig von Schulfesten kannte, murmelte im Vorbeigehen freundlich »boker tov«. Jekaterina wünschte ebenfalls einen guten Morgen und betrat den Raum.

    Es war ihr erstes Zusammentreffen mit der Schulpsychologin. Diese streckte ihr bereits die Hand zum Gruß entgegen und lächelte sie aufmunternd an.

    »Setzen Sie sich doch«, sagte Ruth Goldbaum. »Sie müssen Frau Natanov sein, Tamars Mutter?«

    »Ja«, sagte Jekaterina. Sie legte zunächst ihren Schirm unter den Sessel und als sie sich hinsetzte, achtete sie darauf, dass der wadenlange, braune Rock nicht zu sehr hinaufrutschte. Mit einer raschen Bewegung wischte sie ein Blatt von ihren regennassen, flachen Rauhlederschuhen mit Gummisohle. Das musste wohl auf dem Kiesweg zur Schule passiert sein. Sie richtete ihre Strickjacke und hoffte, dass Frau Goldbaum ihr nicht ansah, wie abgekämpft sie sich fühlte. Als sie aufsah, war Jekaterina jedoch beruhigt. Die Schulpsychologin suchte wohl noch nach Tamars Datei.

    »Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, zu mir zu kommen«, sagte die Psychologin schließlich. »Wie Sie wissen, gab es schon gegen Ende des vergangenen Schuljahres Probleme mit Tamar. Sie hat überhaupt kein Interesse am Unterricht gezeigt, konnte aber aufgrund ihrer guten schriftlichen Leistungen in die vierte Klasse versetzt werden. Wir haben gehofft, dass Tamar über die Sommerferien Energie tankt und mit vollem Elan in ihr letztes Volksschuljahr startet. Leider ist das Gegenteil der Fall. Ihre Lehrerin, Frau Gruber, hat mich daher gebeten, mir Tamar anzusehen. Wir haben nun einige Stunden miteinander verbracht und ich habe das Gefühl, sie weiß nicht, was von ihr erwartet wird. Also zieht sie sich zurück. Diese Woche habe ich dann versucht, sie mittels eines Rollenspiels aus der Reserve zu locken. Zuerst hat sie sich geweigert mitzumachen und saß nur still da – so, wie ich es auch aus den Erzählungen von Frau Gruber aus dem Unterricht kenne. Irgendwann fing sie an Russisch zu sprechen und wechselte auf meine wiederholte Bitte nicht ins Deutsche oder Hebräische. Ich spreche leider kein Russisch. Frau Natanov, fällt Ihnen dazu irgendeine Erklärung ein? Haben Sie vielleicht auch zu Hause Veränderungen an Tamar bemerkt?«

    Jekaterina bemühte sich, nicht gleich loszuweinen. Tamar sprach doch wunderbar Deutsch. Warum benahm sie sich denn so? Sie war doch immer so ein braves Mädchen gewesen. Ihr ganz besonderer Schatz. Bei den größeren – Menachem hatte bereits maturiert, Avraham besuchte heuer die achte Klasse, Chaja war sechzehn und die Zwillinge Yael und Rivka hatten dieses Jahr mit der Oberstufe begonnen – hatte sie immer alle Hände voll damit zu tun gehabt, einzukaufen, zu kochen, die Wäsche zu machen, die einen in den Kindergarten beziehungsweise in die Schule zu bringen, während die Kleineren noch gewickelt, gefüttert, im Kinderwagen spazieren gefahren werden mussten. Als Tamar zur Welt kam, waren alle anderen bereits im Kindergarten oder in der Schule und zum ersten Mal konnte sie sich zumindest vormittags auf nur ein Kind konzentrieren.

    »Ich verstehe das nicht«, sagte Jekaterina leise. »Ich rede zwar oft Russisch mit ihr, vor allem wenn ich ihr von meiner Kindheit, von meinen Eltern und Geschwistern erzähle. Aber mit ihren Freunden spricht Tamar Deutsch oder Hebräisch, auch mit ihren Geschwistern. Sie kann auch sehr gute Aufsätze schreiben auf Deutsch.«

    »Die schriftlichen Leistungen Ihrer Tochter sind nach wie vor ausgezeichnet«, sagte die Psychologin, »das ist nicht das Problem. Aber Ihre Tochter verweigert jegliche Mitarbeit im Unterricht, sie sitzt einfach nur still da und man weiß nicht, ob sie zuhört oder mit ihren Gedanken abschweift, ob sie Angst hat, etwas zu sagen, oder ob ihr einfach nur alles egal ist. Wenn Tamar so weitermacht, wird ihr Zeugnis nicht so aussehen, dass sie in die AHS gehen können wird. Das wäre natürlich sehr schade, denn sie hat ja kein Lernproblem. Im Gegenteil, sie begreift rasch, hat ein Talent für Sprachen. Wir müssen also schauen, dass sie sich wieder am Unterricht beteiligt. Da müssen Sie aber mithelfen.«

    Jekaterina nickte wie mechanisch mit dem Kopf. »Aber was kann ich tun?«, fragte sie leise. Über ihrer linken Wange bahnte sich eine Träne ihren Weg. Jekaterina versuchte so zu tun, als ob nichts wäre. Frau Goldbaum reichte ihr ein Taschentuch.

    »Nicht weinen, Frau Natanov, wir werden der Sache schon auf den Grund gehen. Wollen Sie vielleicht eine Tasse Kaffee? Oder kann ich Ihnen ein Keks anbieten?«, fragte die Psychologin, stand auf, und holte aus dem Kasten hinter ihrem Schreibtisch eine Schachtel mit selbst gebackenen Schokoladekeksen, die ihr eine Mutter am Tag zuvor mitgebracht hatte. »Nein, keinen Kaffee«, sagte Jekaterina, »aber gerne ein Keks«.

    Seit sie nach Wien gekommen war, vor mittlerweile etwas mehr als zwanzig Jahren, hatte Jekaterina mit Torten, Kuchen und Süßigkeiten aller Art enge Freundschaft geschlossen. Von Russland war sie als junges Mädchen mit schmaler Taille und schlanken Beinen in den verheißungsvollen Westen gestartet. Inzwischen glich sie eher einem Käfer mit rundem Bauch und vollem Gesicht. Aber wozu – nach sechs Kindern und bei einem Mann, der sich zuallererst für die Thora und danach für lange nichts interessierte – auf die Figur achten? Jekaterina griff also zu, doch bevor sie abbiss, fragte sie sich, ob die Kekse wohl auch koscher waren und ob sie zur Sicherheit fragen sollte? »Sie sind natürlich koscher«, sagte da Ruth bereits und Jekaterina war einerseits beruhigt, andererseits äußerst beunruhigt, denn offensichtlich konnte diese Frau Gedanken lesen.

    »Was erwarten Sie von Tamar«, fragte Ruth Goldbaum, die inzwischen ein Aufnahmegerät eingeschalten hatte. Sie wollte Frau Natanov durch das monotone Hämmern beim Schreiben auf der Computertastatur nicht irritieren, die deprimiert wirkende Frau schien ohnehin schwer aus sich herauszugehen.

    »Was ich erwarte?«, fragte Jekaterina. Pause. »Mein Mann möchte, dass alle Kinder die Matura machen. Menachem, unser Ältester, ist schon fertig mit der Schule und besucht derzeit eine Jeschiwe in Jerusalem. Avraham soll ihm nächsten Herbst folgen. Und die Mädchen sollen nach der Matura eine Ausbildung zur Kindergärtnerin oder zur Volksschullehrerin machen und dann werden sie wohl ohnehin schon bald heiraten, meint Itzhak.«

    »Aber was ist mit Ihnen? Was erwarten Sie von Tamar?« Pause.

    »Ich weiß nicht, was ich erwarte. Dass sie keine Probleme macht. Dass sie gut vorankommt in der Schule. Dass sie glücklich wird.«

    »Und wirkt Tamar derzeit glücklich auf Sie?«, fragte die Psychologin.

    »Sie ist so ein geduldiges Kind, wissen Sie. Sie ist die einzige, die mir zuhört, wenn ich von Russland spreche. Wenn ich erzähle, wie ich mich als junges Mädchen über ein neues Kleid oder eine hübsche Spange gefreut habe. Wir waren sehr arm, wissen Sie, neue Sachen gab es nicht oft.« Was erzähle ich da nur, dachte Jekaterina. Das Gespräch gefiel ihr gar nicht.

    »Sind Sie religiös erzogen worden?«, fragte die Psychologin. »Nein«, antwortete Jekaterina leise. Sie dachte kurz nach, was sie noch dazu sagen könnte, ohne wieder allzu viel von sich preiszugeben. »Das religiöse Leben habe ich erst durch Itzhak kennen gelernt.« »Es ist aber in Ordnung für mich, dieses Leben«, bemühte sie sich nach kurzem Innehalten rasch zu sagen. Nicht dass diese Frau Goldbaum, die in ihren dunkelblauen Hosen, dem hellblauen Polo-Shirt und mit ihren offenen, hellbraunen, gelockten schulterlangen Haaren ganz und gar nicht orthodox aussah, auf die Idee kam, sie sei mit ihrem Leben unzufrieden. Vor allem aber durfte so etwas Itzhak nicht zu Ohren kommen. Diese ganze Unterredung hier durfte Itzhak nicht zu Ohren kommen! Ruth Goldbaum merkte, dass sie so nicht weiterkam. Offenbar projizierte Frau Natanov ihre eigenen Jugendwünsche in ihre jüngste Tochter, wollte das aber nicht wahrhaben. Möglicherweise war das aber auch eine viel zu simple Erklärung. »Vielleicht kommen Sie ja nächste Woche gemeinsam mit Tamar zu mir«, schlug sie daher vor.

    »Gerne«, antwortete Jekaterina und war erleichtert, dass Frau Goldbaum nicht Itzhak sehen wollte.

    »Und vielleicht unterhalten Sie sich diese Woche einmal mit Ihren älteren Töchtern darüber, wie die sich ihre Zukunft vorstellen«, schlug die Psychologin vor. »Kleine Mädchen nehmen sich ihre älteren Schwestern immer zum Vorbild. Es könnte sein, dass uns das weiterhilft.«

    »Mache ich«, versprach Jekaterina. »Und danke für Ihre Bemühungen. Ich liebe Tamar, wissen Sie, natürlich liebe ich alle meine Kinder, aber Tamar liebe ich besonders. Sie ist meine Kleine, mein kleiner Schatz.«

    »Natürlich, Frau Natanov«, sagte die Psychologin. »Wir werden das schon hinkriegen.« Mit einem ermutigenden Lächeln reichte Ruth Goldbaum Jekaterina die Hand.

    Jekaterina bemühte sich, die Stiegen vor dem Pausenläuten rasch hinunterzulaufen, um nur ja niemandem zu begegnen, den sie kannte. Noch bevor sie das Schulhaus verlassen hatte, schossen ihr erneut Tränen in die Augen. Am Häuschen der Polizeiwache ging sie mit gesenktem Kopf vorbei. Sie war nicht besonders glücklich und in letzter Zeit fühlte sie sich noch unglücklicher. Und offenbar schadete sie damit nun Tamar. Aber das wollte sie nicht! Gerade Tamar sollte es einmal besser haben.

    Zuerst wollte sie auf direktem Weg nach Hause, dann machte sie aber doch einen Abstecher in die koschere Bäckerei. Neben Brot und einem Apfelkuchen für ihre Lieben ließ sie sich auch drei Muffins einpacken, die sie noch unterwegs in sich hineinstopfte. Als sie die Wohnungstüre aufsperrte, hatte sich ihre Aufregung bereits gelegt. Dennoch war sie froh, dass sie Itzhak noch nicht zu Hause antraf. Heute war Mittwoch und von Montag bis Donnerstag arbeitete Itzhak ein paar Gassen weiter beim koscheren Weinhändler. Er war dort vor allem für den Weitertransport der aus Israel importieren Weine an koschere Supermärkte sowie an die wenigen koscheren Wiener Lokale zuständig. Größere Bestellungen orthodoxer Familien lieferte er auch direkt in deren Wohnungen. Die Transportwege waren überschaubar, da sich die meisten anzufahrenden Adressen im ersten, zweiten oder 20. Bezirk befanden.

    Mittags kam Itzhak meist zum Essen nach Hause, nur selten bat er Jekaterina in der Früh um ein Lunchpaket. Seit auch Tamar in die Schule ging, waren es sehr schweigsame Mittagessen geworden, bei denen Itzhak stets sagte, er könne aus dem Geschäft nichts Neues berichten, müsse sich aber beeilen, denn es warte schon die nächste Fuhre. Oder er hatte es eilig, in den Tempel zu kommen oder zu seinen Freunden, mit denen er, wann immer dazu Zeit war, die Thora studierte und

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