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Josi und ihre Freunde
Josi und ihre Freunde
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eBook468 Seiten6 Stunden

Josi und ihre Freunde

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Über dieses E-Book

Josi, Helga, Ulrich und Leo sind schon seit dem Kindesalter in unzertrennlicher Freundschaft verbunden. Dabei sind die vier Freunde eigentlich sehr verschieden – jeder hat so seine Eigenart und jeder hat sein eigenes turbulentes Schicksal. Und so kommt es, dass die vier Freunde sich zuweilen aus den Augen verlieren und verschiedene Wege gehen müssen. Doch wahre Freundschaft übersteht selbst die größten Hindernisse. Nichts kann die Freunde trennen.JOSI UND IHRE FREUNDE ist ein humorvoller und lustiger Roman über vier äußerst unterschiedliche junge Menschen, deren Lebenswege immer wieder von Höhen und Tiefen bestimmt werden und unerwartete Richtungen einschlagen - und sich am Ende dennoch wieder kreuzen. Lise Gast (geboren 1908 als Elisabeth Gast, gestorben 1988) war eine deutsche Autorin von Kinder- und Jugendbüchern. Sie absolvierte eine Ausbildung zur landwirtschaftlichen Lehrerin. 1933 heiratete sie Georg Richter. Aus der Ehe gingen 8 Kinder hervor. 1936 erschien ihr erstes Buch "Tapfere junge Susanne". Darauf folgen unzählige weitere Geschichten, die alle unter dem Pseudonym Lise Gast veröffentlicht wurden. Nach Ende des zweiten Weltkriegs floh Gast mit ihren Kindern nach Württemberg, wo sie sich vollkommen der Schriftstellerei widmete. Nachdem sie erfuhr, dass ihr Mann in der Tschechoslowakei in einem Kriegsgefangenenlager gestorben war, gründete sie 1955 einen Ponyhof und verwendete das Alltagsgeschehen auf diesem Hof als Inspiration für ihre Geschichten. Insgesamt verfasste Gast etwa 120 Bücher und war neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin auch als Kolumnistin aktiv.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum26. Mai 2016
ISBN9788711509647
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    Buchvorschau

    Josi und ihre Freunde - Lise Gast

    www.egmont.com

    Josi und ihre Freunde

    Josi stand am Fenster des D-Zuges, der soeben zu bremsen begann. Sie trug ein Kostüm, ihr erstes, und mußte sich beständig in den Fensterscheiben spiegeln, während ihr dunkles Haar im Zugwind flatterte. Ob Ulrich an der Bahn sein würde? Kein Mensch auf der Welt konnte ermessen, wie wichtig das war. Wie jeden Tag mit Ulrich und Leo und Helga zusammenzusein...

    Josi zog, ohne es zu wissen, wie stets ihre Himmelfahrtsnase ein wenig kraus, wenn sie an Helga dachte. Helga war die Tochter vom Gut, etwas älter als Josi, und hatte ungefähr alles, was man sich wünschen konnte, nur keine Geschwister. Dafür hatte sie, Josi, sieben, und war Nummer acht. Als Helga ein gutes Abitur machte – sie waren alle vier zusammen in die Kreisstadt zur höheren Schule geradelt –, war es für Josi klar, daß sie das auch schaffen müßte. Sie schaffte es dann auch. Und jetzt hatte es die kleine Josi Fischer tatsächlich durchgesetzt, daß sie auch studieren durfte. Sport wollte sie studieren, und dazu – sie mußte noch mit Ulrich reden. Nun würden sie sich wieder jeden Tag sehen. So war es damals gewesen; da verging kein Tag, an dem sie nicht in der Revierförsterei auftauchte. Frau Gieseking, Ulrichs Mutter, pflegte zu sagen, wenn man sie fragte, wieviel Kinder sie habe: „Drei. Zwei Jungen und ein Mädchen." Das Mädchen war Josi. Sie gehörte in die Försterei mehr als ins Inspektorhaus. Und deshalb waren die Jahre, in denen Ulrich und Leo fort waren, ein bißchen einsam gewesen. Jetzt aber fing das Leben wieder richtig an. Ob Ulrich...

    Aber es war ein anderes Gesicht, das auftauchte, als Josi aus dem Zug gesprungen war, und nicht Ulrichs, sondern eine andere Stimme rief: „Ja, Josi, da bist du ja. Wunderbar!"

    Sie war nicht enttäuscht. Sie kam gar nicht dazu, es zu sein – Leo sah großartig aus, und er hakte sich sofort bei ihr ein.

    „Bist du noch größer geworden? Sie reichte ihm kaum bis zur Schulter. „Nein, ein Taxi, du bist ja verrückt!

    „Nur heute, dir zu Ehren. Komm, ich traute mich gar nicht, dich hier heil über die Straße zu bringen zu Fuß!"

    Das Gewühl vor dem Hauptbahnhof war freilich verwirrend. München – Großstadt – Universitätsstadt – sie schnurrten dem Stachus zu.

    „Du mußt gleich alles kennenlernen. Ich hab’ zu Ulrich gesagt..."

    „Wo ist er denn?" fragte Josi und versuchte zu kapieren, was er ihr zeigte. Da hielt der Wagen schon wieder.

    „Ulrich? Kommt gleich. Helga hat noch Kolleg, berichtete Leo beim Aussteigen. „Sie sind sicherlich gleich da.

    Er bugsierte Josi durch ein gemütliches kleines Lokal zu einem Fenstertisch. Draußen flutete der Verkehr vorbei, gegenüber lag das Rathaus. Und dann kamen Ulrich und Helga.

    Ulrich war größer als sein Bruder, wirkte aber zarter. Er hatte ein etwas unregelmäßiges Gesicht mit gescheiten dunklen Augen und auch dunkles Haar. Leos Haar krauste sich, hellbraun, in kurzen eigensinnigen Locken über der breiten Stirn.

    Josi war glücklich. Die andern fragten nach zu Hause, und sie erzählte. Sie hatte natürlich ein Päckchen für sie alle mit, von Frau Gieseking – „sicherlich Waffeln" –, und viele, viele Grüße. Und die Lotte hatte gekalbt, ein Kuhkalb, braun mit winziger Blesse.

    Auch für Helga brachte sie Grüße mit. Die saß am Fenster in der blassen Herbstsonne, vornehm, still und schön. Ein bißchen blaß, fand Leo, als sein Blick von den strahlenden Farben Josis zu ihr hinüberging. Wahrscheinlich arbeitete sie zuviel.

    „Wo wohnen wir denn?" fragte Josi.

    „In der Leopoldstraße, ziemlich weit draußen, aber trotzdem enorm günstig. Die Uni zu Fuß zu erreichen, ringsumher Schwabing, für dich haben wir ein Zimmer erwischt." Die Zugehfrau, die alle betreute, sei ganz groß, erzählte er. Früh machte sie Waldlauf im Englischen Garten, und abends braute sie Schnäpse; und dichten tat sie auch. Wie Ulrich.

    „Ach, laß doch den Unsinn!" sagte der ärgerlich.

    „Na, natürlich, du dichtest ganz anders..."

    „Hast du was Neues fertig?" fragte Josi begierig.

    Ulrich winkte ab. Er konnte es nicht leiden, wenn man darüber sprach, obwohl sie alle nicht spotteten. Alle – ob auch Helga glaubte, daß etwas Großes aus ihm werden würde? Nie wurde man aus ihr klug, und sie sollte, gerade sie sollte doch...

    „Ich hab’ noch zu arbeiten, sagte er plötzlich in Leos Pläne für den Abend hinein, „geht doch allein. Ich...

    „Aber Ulrich! Du hattest doch gesagt... Helga, sag du mal..."

    „Ich möchte auch noch was tun", sagte Helga. Leo wütete.

    „Dann geh’ ich mit Josi allein. Sie hat das Recht drauf, daß wir ihr die Stadt zeigen, an ihrem ersten Tag hier!"

    Die andern gaben nach. Man beschloß: Theater.

    „Kann ich denn so gehen?" fragte Josi schüchtern. Ihr herrliches Kostüm kam ihr gegen die Eleganz der Großstadt und Helgas Pelzjacke plötzlich sehr simpel vor. Sie dachte an ausgeschnittene Abendkleider und blitzende Diamanten im Foyer.

    „Klar, wir gehen doch Galerie, sagte Leo beruhigend. Er brachte Josis Koffer heim, und die andern gingen voran ins „Kleine Theater. Es war ein modernes Stück und schwer zu verstehen, und schon im zweiten Akt sank Josis Kopf nach vorn. Immerhin war sie nach einer vor Vorfreude fast schlaflosen Nacht seit dem Morgen unterwegs. Leo lachte. Mochte sie schlafen.

    Als sie heimkamen, war Josi wieder munter, so munter, daß ihr unmöglich schien, schlafen zu können. Ihr Zimmer war kalt, die Koffer standen noch so, wie Leo sie hingeboxt hatte. Helgas Zimmer lag nebenan, das der Jungen einen Stock tiefer.

    Auf dem Tisch türmten sich bald Bücher, Taschenbücher, von Mutter liebevoll zusammengebunden, und sonst allerlei. Endlich fand Josi die Waffeln, auf die die Jungen lauerten.

    „So, nun brausen wir ab; wenn was ist, klopfst du auf den Fußboden, dann komme ich als rettender Engel heraufgeschwebt."

    „Was soll denn schon sein? Aber es beruhigt mich kolossal!" Josi lachte. Die Jungen schoben ab, auch Helga, die sich erst geweigert hatte, ihren Anteil Waffeln anzunehmen. Josi ging umher, räumte ein, setzte sich schließlich auf die Bettkante und zündete sich eine Zigarette an. Sie rauchte sonst nie, fand nichts daran, aber wie oft hatte sie sich ausgemalt: Wenn ich erst Studentin bin und eine Bude hab’, dann rauche ich vor dem Schlafengehen eine Zigarette. Es war also eine symbolische Handlung. So tat sie es mit Genuß.

    Draußen war Mondschein. Unten, im selben Haus, schlief Ulrich. Sie war glücklich. Als die Zigarette zu Ende war, konnte sie getrost ins Bett schlüpfen. Sie drehte das Nachttischlämpchen an: Da lag ihr Waffelanteil, auf ein Stück Papier geschichtet. Es duftete herrlich nach Butter und Zimt. Sie kuschelte sich ins Bett und griff nach der obersten Waffel, ließ sie genießerisch auf der Zunge zergehen. Dabei dachte sie an die Küche im Forsthaus von Frau Gieseking...

    Zu gern war sie dort immer gewesen. An einen Nachmittag erinnerte sie sich besonders genau, im letzten oder vorletzten Jahr, als die Jungen noch zu Hause waren. Es war entsetzlich heiß, ein Gewitter im Anzug. Josi sah die Wolkenbank vom Westen her aufziehen, während sie um die Hutung bog. Frau Gieseking rettete die Putküken vor dem Regen, die keinen vertrugen. Josi half – kaum waren sie in der Küche, da fuhren die Blitze schon über den Himmel, zischgelb und tausendfach verästelt. Die Jungen waren im Wald.

    „Wo sie nur bleiben!" sagte Frau Gieseking und sah hinaus.

    Josi schnupperte. „Backen Sie Waffeln?"

    „Ich wollte gerade anfangen. Frau Gieseking trocknete sich die Arme mit der Schürze ab. Josi sah zu, wie sie den Teig zähflüssig ins schwarze Waffeleisen rinnen ließ. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. „Darf ich mitessen? fragte sie blinzelnd.

    „Als ob wir jemals Waffeln ohne dich gegessen hätten, sagte Frau Gieseking lachend, „aber trockne dich ab, Kind! Sie warf ihr ein Handtuch zu, das am Herd gehangen hatte. Es roch nach Rauch und Sommerwind und kratzte auf der Haut, so grobkörnig war es. Josi hatte einen Fuß auf die Ofenbank gestellt und rieb das Bein ab.

    „Jetzt kommen sie, sagte sie, ohne aufzublicken, „hören Sie?

    „Ich höre nur den Regen..."

    Sie gingen zusammen zum Fenster und sahen hinaus. Der Hof war jetzt ein See, aus dem die Tropfen spritzend emporsprangen. Hinterm Wald wurde es schon wieder hell. „Du mußt Ohren haben wie ein Luchs, sagte Frau Gieseking, „hören kann man doch nichts.

    Die beiden Jungen kamen um die Hutung. Sie sprangen in weiten Sätzen, Leo vornweg, Ulrich etwas vorsichtiger hinterher. Ihre Hemden klatschten auf der Haut. Josi hielt ihnen die Tür auf.

    „Waffeln fertig?" war das erste, was Leo rief. Die Mutter legte eben ein paar Scheite auf.

    „Gleich geht’s los. Könnt ihr nicht eher kommen? Naß wie die Wassermäuse seid ihr..."

    Ulrich zog sein Hemd über den Kopf und warf es, klatsch, auf die Ofenbank. Der Schein des Feuers tanzte auf seinem nackten Oberkörper und malte ihn rot an. Leo hockte sich vor die Glut. Er sah wie ein Waldschrat aus mit dem hellbraunen Haar, das sich in der Nässe ringelte und drehte.

    „Na, ihr seid ja reichlich ungeniert, dabei habt ihr doch Damenbesuch", schalt die Mutter.

    „Ach, Damen!" meinte Ulrich wegwerfend. Josi am Fenster lachte. Sie hatte ihr Haar glatt nach hinten gestrichen und fühlte es um den Kopf liegen wie einen kühlen Helm.

    „Wenn ich schon keine bin, aber draußen ist eine", sagte sie.

    „Wo?"

    Sie deutete mit dem Daumen hinter sich. Leo kam neugierig herüber. Eine Dame im regennassen Wald?

    Es war Helga. Josi hätte sie malen können, so genau besann sie sich, wie sie jetzt dastand, ein wenig hilflos, das Pferd am Zügel. Es war der hochbeinige Dunkelbraune, den sie damals ritt. Der Regen sprühte von dem blanken Sattel.

    Ulrich rannte gleich hinaus, um ihr zu helfen. Helga fühlte sich wohl ein wenig fehl am Platz mit ihrer durchgeregneten Reitjacke zwischen den halbnackten Jungen und Josi, die hier wie zu Hause war. Josi fand, daß sie nicht so recht zu ihnen paßte, zu Ulrich, Leo und ihr. Damals schon – und auch noch heute. Obwohl die Jungen sehr nett zu ihr waren...

    Josi hatte beim Schwelgen in Gedanken alle Waffeln aufgegessen. Jetzt tat ihr das leid. Eine hätte sie doch als Heimwehbrot aufheben sollen. Sie lachte: Heimweh? Wo die Jungen unten wohnten? Nein, Heimweh gab es nicht. Sie streckte sich aus und schob den Arm unter die Wange. Wo Ulrich war, war auch sie zu Hause. Schnell war sie eingeschlafen.


    Helga stand am Waschtisch und ließ das Wasser über die Hände laufen, minutenlang, wie vor einer Operation. Draußen nieselte es – unerfreuliches Wetter, fast schon November. Helga fror und hatte zu nichts Lust. Es war noch Zeit bis zur Reitstunde. Ob Josi vielleicht...

    Da kam sie schon draußen durch den Regen gesaust, Helga sah es durchs Fenster. Josi trug zu einem kurzen Rock ihre Skijacke, ihr Gesicht war naß vom Regen und munter – beneidenswert munter. Mit einem Satz sprang sie vom Rad und trug es, noch im Schwung, drüben zur Seitentür hinein. Helga fragte sie, warum sie denn so zeitig käme. Die Stunde finge noch nicht an.

    Seit Josi da war, war alles anders, auch die Jungen – wacher, lebendiger. Sie unternahmen mehr, sie ließen sich mitreißen von ihrem Tempo, und Josi tat, als gehörten sie ihr. Das, fand Helga, war übertrieben.

    Bisher hatten sie sich um sie. Helga, förmlich gerissen. Und sie hatte sich zwischen den beiden Knappen recht wohl gefühlt. Sie „standen" ihr gut. Ulrich war bestimmt begabt und wurde sicherlich einmal etwas Großes, und Leo, einfacheren Gemütes, wäre sicher für sie durchs Feuer gegangen, bisher. Und nun war es auf einmal Josi, die den Ton angab. Wie kam das nur?

    Sie dachte an ihre Mutter. Neben der war es auch schwer, sich zu behaupten, deswegen hatte sie, Helga, wohl angefangen Medizin zu studieren. Mutter hatte das als junger Mensch auch einmal gewollt, und so glaubte Helga, am ehesten vor ihren Augen bestehen zu können. Das Interesse für all die Wunder und Zusammenhänge des Lebens hatte sie in sich, und ein gutes Gedächtnis auch. So hatte sie das Physikum ohne Schwierigkeiten gut bestanden. Nun kam also das Klinische.

    Ob Mutter sich gefreut hatte, als sie telegrafierte, sie habe bestanden? Ob Mutter – Herrgott, immerzu Mutter und Mutter. Lieber sollte sie sich jetzt um ihren Lord kümmern, den sie so gern ritt. Sie stand auf, ungeduldig über sich selbst, und ging zum Stall hinüber. Gerade kam Leo geschusselt.

    „Helga? Willst du auch Stallbursche werden? Dort drin steht Josi und mistet aus. Für dich ist auch noch eine Gabel da!"

    „Ist nicht wahr. Putzen tut sie, sagte jetzt Ulrich herankommend. „finde ich übrigens ganz gut. Selbst putzen und satteln – wir sind doch keine Herrenreiter. Von jetzt an...

    Der Reitlehrer verteilte die Pferde. Ulrich bekam den Kardinal und saß auf, strahlend vor Stolz. Er ritt gut, fast so gut wie Leo. Helga sah noch, daß Josi den Loki bekam, ein kleines, nicht sehr dekoratives Pferd, aber einfach zu reiten. Eigentlich gehörte sie noch in die Anfängerabteilung.

    „Wir wollen es mal hier versuchen, kleines Fräulein, sagte der Reitlehrer eben zu ihr. „Schneid und Energie haben Sie ja. Gehen Sie hinter den Lord, so. Freien Schritt reiten!

    Helga fand es schade. Josi nicht beobachten zu können. Natürlich ritt sie selbst besser, sie hatte ja schon zu Hause viel geritten, auch unter Anleitung. Hier tat sie mehr mit, um in Übung zu bleiben, Mit dem Lord wäre Josi vermutlich nicht fertig geworden.

    Es wurmte Helga, daß Josi in diese Abteilung durfte. Sie bekam zwar manchen Rüffel – Reitlehrer sind ja nie sehr höflich –, und einmal benahm sich der Loki auch ausgesprochen störrisch und wollte nicht mehr auf den Hufschlag zurück; da ritt Helga schweigend aus der Reihe und setzte sich vor ihn, nahm ihn mit, bis er wieder drin war. Josi rief ein halblautes: „Danke schön, Helga!", das sehr erleichtert klang. Aber was war das schon groß.

    Als sie absaßen, sah sie, daß Josi kaum laufen konnte. Es war wohl erst ihre dritte oder vierte Stunde, und anfangs machte das Reiten ja einen unmäßigen Muskelkater. Aber sie lachte nur und grub Zucker aus der Hosentasche, und das Haar hing ihr verstrubbelt in das erhitzte und erschöpfte Gesicht. Sie sattelte selbst ab und kam daher erst in den Umkleideraum, als Helga schon fertig war.

    „Du, das war prima von dir, ich glaub’, der Gestrenge hätte mich sonst rausgeschmissen, sprudelte sie hervor, „dabei möchte ich doch...; und nun ergoß sich ihre ganze Reit- und Pferdebegeisterung über Helga. Die Jungen klopften schon an die Tür und riefen und trieben an, da stand Josi noch in der Strumpfhose da und ereiferte sich. Sie wollte unbedingt wissen, wie man antrabt, wie man richtig wechselt und woran man merkt, daß man – schweres Verbrechen! – auf dem falschen Fuß trabt oder angaloppiert.

    Es war schon dunkel, als sie das Reithaus verließen. Josi und die Jungen schoben die Räder, da Helga zu Fuß war, und man beratschlagte, was heute noch zu unternehmen sei. Nach dem Reiten mußte ein schöner Abend folgen, das gehörte zum Programm.


    Ulrich fuhr aus dem Schlaf, als der Wecker rasselte. Er hatte ihn auf sechs gestellt. Aufstehen, los, sonst kam er keine einzige Minute an die Arbeit.

    Mit Mühe raffte er sich auf. So ein Unfug von ihnen, gestern bis wer weiß wann in der „Laterne" zu sitzen. Nun hatte man einen dicken Kopf. Ulrich steckte das Gesicht in die Waschschüssel und prustete. Huh, war das kalt! Und in solcher Stimmung sollte der Mensch nun dichten! Er holte die Papiere und suchte nach einem Kuli. Das Glück bescherte ihm eine Packung Zigaretten, als er in Leos Hosentasche fuhr, um nach einem Stift zu fahnden. Na also, so ärmlich war man ja gar nicht dran. Er entzündete eine der beiden einsamen und zerdrückten Zigaretten und überlas die letzten Sätze.

    Seine Stimmung stieg. Das letzte war gut, das hatte er ganz sicher im Gefühl, und ein guter Schluß ist ein leichter Anfang. Man mußte nur so tun, als habe man eben erst geschrieben, und sich über den Absatz hinwegmogeln. Es gelang. Der Kugelschreiber eilte, und die Zigarette verglomm ungeraucht. Er merkte es nicht. Von Zeit zu Zeit starrte er geistesabwesend in die Luft, schrieb dann weiter und verbesserte, strich aus, setzte neu an. Und allmählich kam es über ihn wie ein sanfter Rausch. Er sah sich selbst sitzen in der kalten und unordentlichen Bude, fröstelnd und übernächtigt; es war ja sozusagen für die Kunst, daß er hier litt. Für die Kunst und für Helga. Manchmal sah er zu Leo hinüber, von dem nur der Schopf unter der Decke herausguckte und der so hingegeben schnaufte. Und aus dem anfänglichen Neid auf dessen gesunden und genießerischen Schlaf wurde ein Gefühl der Herablassung. Na ja, wer sich nicht schindet, bringt es auch zu nichts. Aber er, Ulrich, würde es zu etwas bringen, zu etwas Großem, bestimmt!

    Im Stockwerk über ihm fing es an zu rumoren. Er stellte sich vor, wie es sein würde, wenn sie erst verheiratet wären, Helga und er. Dann würde er nach einer durcharbeiteten Nacht – daß er erst vor einer reichlichen Stunde aufgestanden war, zählte nicht – hinüber in ihr Schlafzimmer gehen und die Vorhänge aufziehen, damit die Sonne auf ihr verschlafenes, rosiges Gesicht fiel, und sie lächelnd wecken: „Helga, denk nur, ich hab’ das Kapitel fertig!"

    Wie sie dann staunen und sich an ihn schmiegen würde: „Ulrich, das ist großartig! Und ich schlief so schön!"

    Er saß und träumte und erlebte dies alles. Und dann würde er hinausgehen in die winzige Küche, die sie haben würden, den Stecker des elektrischen Topfes einstecken und den Kaffee in die Tüte schütten. Und nachher saß er dann auf ihrem Bettrand und balancierte eine Tasse auf den Knien, und Helga hörte zu, während sie trank. Ach, herrlich würde das sein, großartig, Helga und er!

    Helga und er, so hieß seine Zukunft. So hatte er sie sich schon als halbwüchsiger Junge geträumt. Und wenn die Welt voll Teufel wär’ und wenn er jede Nacht sitzen müßte...

    Er horchte. Nein, es war wohl Josi gewesen, die da oben herumfuhrwerkte. Man hörte es an ihrem halblauten, nicht sehr musikalischen Singen. Josi sang immer, wenn sie aufstand. Dann schepperte es in regelmäßigen Abständen, daß die Lampe klirrte: Josis Frühgymnastik. Der Gesang wurde kriegerischer. Dazwischen ertönte immer einmal ein tiefer Seufzer: „Oh!" Wahrscheinlich hatte sie Reitfieber. Ulrich lächelte. Eine Tür schmetterte ins Schloß. Ach ja, Josi war sehr anders als Helga.

    Mit dem Arbeiten war es vorbei. Frau Fleischhack, die Zugehfrau, meldete sich, die Dame mit dem Waldlauf am Morgen und den Schnäpsen am Abend. „Gehen Sie erst rauf, oben ist das Nest leer, trompetete Leo, der inzwischen auch aufgewacht war, durchs Schlüsselloch hinaus, und die Dame entfloh erschreckt die Treppe hinauf. Als sie dann zu dritt das Haus verließen – Josi war längst über alle Berge –, trafen sie den Briefträger. Wieder keine Antwort des Verlages, an den er seine Novelle „Reiterin in der Heide geschickt hatte. Dabei befand sich der Verlag in der Stadt. Ulrich tobte.

    „Ruf doch mal an, vielleicht ist was verlorengegangen", riet Leo, und Ulrich strebte auf das nächste Telefonhäuschen zu. Die beiden andern standen wartend, der Atem rauchte ihnen vor dem Mund. Helga hatte den Kragen ihrer Jacke hochgeschlagen, ihr Gesicht sah fein und ein wenig blaß aus dem Pelzwerk hervor. Wie eine Gräfin sieht sie aus, dachte Leo stolz. Eben wurde die Glastür heftig aufgestoßen, und Ulrich kam heraus, aufgeregt und eilig.

    „Kinder, ich muß in den Verlag, sprudelte er hervor, „sie wollen persönlich mit mir verhandeln. Paßt auf, sie nehmen sie!

    „Hast du nicht Kolleg?" fragte Leo hinterlistig-bieder.

    „Na, das geht ja wohl vor", rief Ulrich. Er hatte noch keine seiner zahlreichen Arbeiten an den Mann gebracht und war begreiflicherweise empfindlich, wenn jemand deren Wichtigkeit anzweifelte. Leo tat das mit Vorliebe. Sie hasteten weiter. An der Uni schwenkte Ulrich ab, er sah noch Helgas Pelzjacke im Strom der Studenten verschwinden. Einen Augenblick stand er still und überlegte – war er nicht ein bißchen zu salopp angezogen? Dann aber setzte er sich entschlossen in Marsch.

    Das Verlagshaus war groß und gediegen. Ulrich mußte in der Diele warten und blätterte in den Zeitschriften, die auf einem Tischchen auslagen. Wie beim Zahnarzt, dachte er. So ähnlich war ihm auch zumute. Dann aber bat ihn ein kleiner, sehr höflicher Mann einzutreten, und nahm selbst hinter einem riesenhaften Schreibtisch Platz. „Sie kommen wegen der ‚Reiterin in der Heide‘ für unsere Monatshefte, sagte der kleine Mann und schichtete einige Manuskripte um, die sich vor ihm türmten. „Wie gesagt, sie gefällt mir ausgezeichnet. Ulrich strahlte und fand ihn nicht mehr komisch.

    „Aber sie ist zu groß für uns."

    „Wieso?" fragte Ulrich töricht.

    „Zu umfangreich, zu lang, erläuterte der Kleine. „Sie müssen sie kürzen.

    „Das geht nicht, warf sich Ulrich in den Kampf. Er war entschlossen, jedes seiner hundertmal überlegten und gefeilten Worte bis zum letzten Atemzug zu verteidigen. Wenn dieser Herr seine „Reiterin ausgezeichnet fand, mußte er sie auch nehmen, wie sie war.

    „Tja, das sagen die Herren Autoren immer. Aber glauben Sie mir... Er blätterte virtuos eine Nummer der Monatshefte auf, die vor ihm lag. „... der Raum ist ausgerechnet. Zwölf Druckseiten höchstens. Das Manuskript ergibt... ergibt... Er rechnete. „Mindestens zwanzig. Das ist zuviel."

    „Aber ich kann nicht..."

    „Doch. In der Beschränkung zeigt sich der Meister."

    „Ich kürze nicht. Unter keinen Umständen."

    „Dann bedauere ich aufrichtig. Er erhob sich, Ulrich tat es auch. Er trat an den Schreibtisch heran, sah auf seinen Gegner nieder. Etwas Flehendes kam in sein Gesicht. „Bitte..., sagte er, und dann kam ihm ein leuchtender Einfall. „Können Sie nicht... Sie müssen dann eben die Novelle in Fortsetzungen bringen, in zwei Hälften."

    „Das ist nicht üblich." Aber es klang zögernd. Ulrich merkte, daß er Boden gewann.

    „Muß man sich denn nach dem Üblichen richten?"

    „Nein, das nicht. Aber unsere Leser – man vergißt so leicht... Sie müssen bedenken, daß nur alle vier Wochen ein Heft erscheint!"

    „Aber einen Fortsetzungsroman haben Sie doch auch, sogar durch vier Hefte laufend."

    „Das wohl..."

    Ulrich fieberte. Er mußte das Eisen schmieden, solange es warm war. „Ich finde, die Novelle eignet sich prachtvoll als Fortsetzungsgeschichte. Wenn man an der Stelle abbricht, wo Leonore – wo es gerade so spannend ist, im fruchtbaren Moment sozusagen... Er hatte das Manuskript erspäht und blätterte es eifrig auf. „Hier, sehen Sie! Er fühlte ordentlich, wie die Entscheidung auf Messers Schneide stand. Kaum konnte er Atem holen. Der Gewaltige – jetzt wirkte er plötzlich gewaltig, so klein er war – sah auf den Bogen herunter, den Ulrich herausgenommen hatte, überlegte. Ulrich fühlte alles Blut zum Herzen strömen – er hatte gewonnen!

    „Also gut. Allerdings..."

    Es sauste und brauste um Ulrich. Er lächelte entspannt und nicht sehr intelligent.

    „Bitte, was ist noch?" fragte er erschöpft.

    „Sie müßten darauf eingehen, daß ich Ihnen nur die Hälfte des Honorars zahle, sozusagen, also quasi das Honorar für das eine Heft, und den Schluß honorarfrei bringe. Ich kann es sonst nicht verantworten."

    „Bitte. Natürlich", sagte Ulrich. Er wäre auf ganz andere Bedingungen eingegangen.

    „Das macht dann ungefähr – ungefähr... Der Kleine überlegte, rechnete, sah auf. „Zweihundert Mark.

    „Das Ganze?" fragte Ulrich gespannt.

    „Das, was Sie bekommen."

    Ulrich wäre am liebsten in ein Indianergeheul ausgebrochen. Zweihundert Mark! Das überstieg alle Hoffnungen. Er hatte mit kaum der Hälfte gerechnet. Mit Mühe bezwang er sich.

    „Und in welchem Heft erscheint es?"

    „Das muß ich mir vorbehalten. Bezahlt wird sofort. Wir sind uns also einig?"

    An der Tür hielt der kleine Mann Ulrich noch einen Augenblick auf. „Wenn Sie – ich meine das ganz unverbindlich –, wenn Sie zufällig eine größere Arbeit haben, einen Roman, der sich vielleicht eignet, in Fortsetzungen zu erscheinen? Ich sehe gern einmal hinein. Die Länge können Sie sich ja ungefähr aus den Heften ausrechnen."

    Ulrich fand sich, leicht taumelig vor Aufregung, auf der Straße wieder, zweihundert Mark in der Brieftasche und einen Stoß Monatshefte unter dem Arm. Und im Herzen die Aussicht, die Aussicht! Das war vielleicht das allergroßartigste dabei. Zweihundert Mark, gewiß, aber er hatte bereits andere Maßstäbe. Fieberhaft überschlug er, was wohl der Roman bringen würde, wenn er ankam. Denn natürlich hatte er einen. Einen, seinen Roman, noch nicht ganz fertig, um so besser, so konnte er sich mit der Länge noch einrichten. Er mußte sich nur entsetzlich eilen, durfte keine Zeit verlieren. Der Zwerg dort drin sollte die Arbeit in der Hand haben, ehe er ihn, Ulrich, vergessen hatte.

    Mit offener Jacke – er hatte sich nicht die Zeit genommen zuzuknöpfen – eilte er durch die Straßen. Abgetippt mußte der Roman noch werden, er hatte ihn erst handschriftlich fertig, das heißt, auch das noch nicht ganz. Aber wenn er die Nächte zu Hilfe nahm – und auch sonst konnte er schließlich ab und zu einmal schwänzen. Natürlich! Im Eingang der Uni rannte er fast an Josi an, die gerade die Stufen herabgesprungen war. So war sie die erste, die es erfuhr, und sie freute sich, mein Gott, wie sie sich freute!

    „Ich könnte kopfstehen, Ulrich, versicherte sie immer wieder, „nein, so ein Glück, so ein Glück! Gigantisch einfach!

    Er fand es auch. Sie standen und priesen das Geschick und vergaßen Ort und Zeit.

    „Natürlich muß der Roman sofort raus, sekundierte Josi eifrig, „dauert es lange, bis er getippt ist? Vielleicht braucht ihn der Zwerg gerade für die nächsten Hefte? Du mußt dich furchtbar beeilen, das ist eine einmalige Chance.

    „Klar will ich mich beeilen..."

    „Kann ich dir nicht helfen? Ich tippe sehr schnell, hab’ doch für Vater lange Zeit alles geschrieben. Sicher geht es schneller, wenn du diktierst und ich schreibe."

    Ulrich strahlte sie an. „Wenn du das tätest!"

    „Gerne! Wir fangen heute schon an. Oder mußt du erst noch den Schluß ganz fertig schreiben?"

    „Im Kopf hab’ ich ihn druckfertig. Inzwischen diktiere ich dir den Anfang und schreib’ den Schluß, wann es eben einmal geht. Paß auf, Josi, es klappt, es muß einfach klappen!"

    Sie zappelte genauso wie er, während sie auf die andern warteten. Ulrich versprach, alle zum Essen einzuladen. Einträchtig steuerten sie dem „Mathäser zu. Das war ein Rahmen, würdig des großen Ereignisses, und außerdem gab es dort reichliche Portionen. Den Kaffee würden sie nachher in der „Maxburg nehmen. Nicht trinken, nehmen, betonte Josi. So sagte man es auf feine Art.

    „Du hast das natürlich nie geglaubt, sagte Ulrich triumphierend zu Leo, „immer hast du mich ausgelacht. Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterhaus.

    „Na, auch eine blinde Henne findet mal ein Korn."

    „Na, weißt du, blinde Henne! Was meinst du, Helga?"

    „Doch, warum sollst du nicht auch einmal Glück haben?"

    „Glück? Ulrich war beinahe ernstlich beleidigt. „Glück! Als ob das ein bloßer Zufall wäre, so tust du. Weißt du nicht, daß Glück auf die Dauer nur der Tüchtige hat?

    „Auf die Dauer. Aber..."

    „Kein Aber! Ihr seid Spießer! Und außerdem Kleingläubige! Ist doch klar, daß unser Roman nun auch funkt! flammte Josi. Ulrich war ganz ihrer Meinung. „Unser Roman, nett war das von ihr, ihn so zu nennen. Obwohl es ihm einen feinen Stich gab: Noch netter wäre es zweifellos gewesen, wenn Helga es so formuliert hätte. Aber schließlich, sie meinte es sicher auch, und es war nur Zufall, daß Josi es ausgesprochen hatte. Nichts sollte ihm den heutigen Tag trüben! Sie traten ein und suchten sich einen Tisch. Es sollte ein Festmahl werden.


    Der Tag war ein einziger Glanz. Die ganze Woche über hatte es geschneit, man mußte es einfach ausnutzen. Leo und die beiden Mädchen stiegen bergan. Der Schnee konnte nicht besser sein. Sie wollten nicht Pisten rutschen, sondern eine Tour machen. Ulrich war zu Hause geblieben, er wollte arbeiten. Am Übungshang konnten sie nicht widerstehen, die sommersteifen Skibeine erst einmal auszuprobieren, sie fuhren ab und versuchten ein paar Schwünge.

    „Ich kann gar nicht mehr!" schrie Josi den beiden andern zu, und auch Helga machte die erste Bekanntschaft mit der Erde. Leo fuhr zu ihr hin, um ihr aufzuhelfen.

    „Wirklich, man hat alles verlernt, es ist eine Schmach, sagte er. „Aber das gibt sich. Wir kommen schon wieder rein.

    Sie stiegen weiter auf. Der Lift wäre außerdem zu teuer gewesen, redeten sie sich ein. Helga prustete.

    „Wirklich, man ist eingerostet." Sie stand still und wischte sich die Stirn. Josi war wieder ein Stück voraus. Sie stieg leichter als Helga, aber unregelmäßig. Gerade schwatzte sie mit ein paar halbwüchsigen Buben, in die sie vorhin hineingesaust war. Beinahe sah sie aus wie einer von ihnen.

    Leo sagte das und lachte. Helga sah ihn nachdenklich an.

    „Ihr hängt sehr an Josi. Ulrich und du", meinte sie dann. Er lachte und nickte unbefangen.

    „Natürlich. Wir waren doch die ganze Kindheit über zusammen, sie und wir, sagte er. „Ich könnte mir gar nicht vorstellen, wie es ohne sie gewesen wäre. Sie hatte immer die schönsten Einfälle und machte alles um sich her lebendig. Das ist jetzt noch so. Mutter mag sie auch.

    „Jaja. Helga stand und sah Josi nach, die wieder ein Stück bergab gesaust war. „Ich wünschte, ich wäre auch wie sie – manchmal, fügte sie hinzu. Es klang fast ärgerlich. Leo wunderte sich. „Helga, du? Das ist ja komisch. Wo du doch..."

    „Was denn?" fragte sie ungeduldig.

    „Du bist doch viel – viel hübscher als sie, ich meine..." Er stockte. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, Helga und Josi zu vergleichen. Sie waren so verschieden, aber jede in ihrer Art gut zu leiden, und außerdem war es bei ihnen nicht üblich, über so etwas zu sprechen. Deshalb sprach er unsicher und etwas verlegen.

    „Ach, hübscher! Als ob es darauf ankäme! sagte Helga und stieß mit ihrem Stock nach einem Schneebatzen. „Danach geht es doch nicht. Sag mal – nein, sag mal ganz ehrlich: Ist es nicht anders bei uns, seit Josi da ist?

    Er war auch stehengeblieben. „Wie meinst du das?"

    „Ich meine – ach, ich meine gar nichts. Wenn du es nicht selbst merkst." Sie hatte sich abgewandt und stand jetzt, dem Tal zugekehrt, auf ihre Stöcke gestützt und sah hinunter. Die Hangwiese unter ihnen wimmelte jetzt von Skiläufern, überall war es bunt und lebendig.

    „Vielleicht liegt es auch nur an mir, sagte sie grübelnd. „Überhaupt – nein, komm, wir wollen weiter. Es hat keinen Zweck, wenn man über so etwas spricht.

    „Gefällt es dir nicht, Helga? fragte Leo nach einer Weile wieder. „Oder ist es, weil Ulrich nicht mit ist?

    „Ach, Unsinn. Überhaupt – aber du hast recht, etwas gefällt mir nicht mehr an unserm Leben, sagte sie plötzlich. „Du mußt nicht denken, daß ich – daß ich was gegen Josi hab’.

    „Nein, sagte er, „das denke ich nicht. Komm, die Sonne ist so schön, wir wollen uns einen Augenblick setzen.

    Er half ihr die Bretter abzuschnallen, steckte sie in den Schnee und schob die Stöcke durch die Bindungen.

    „So, jetzt kannst du dich setzen. Ich mach’ es auch so. Willst du eine Zigarette? Nein, nimm ruhig, ist nicht die letzte. Ja, ich versteh’, was du meinst. Mir geht es ähnlich in letzter Zeit."

    „Dir auch? fragte Helga ein wenig ungläubig und sah ihn von der Seite an. Er erwiderte ihren Blick sekundenlang. Ihr schönes, schwermütiges Gesicht tat ihm weh, es riß etwas in ihm auf, was eigentlich tiefer lag, tief innen in ihm, selbst noch beinah fremd und neu. „Ja, mir auch, sagte er und senkte die Augenlider, schlug die Stiefelspitzen zusammen, so daß es metallisch klirrte. „Es ist so – ich frage mich manchmal, was es eigentlich für einen Sinn hat, dies alles."

    „Ich auch, oft, sagte sie leise. „Aber ich dachte, als Junge weiß man, was man will.

    „Natürlich weiß man das, gab er heftig zurück. „Ich zum Beispiel will den Diplomlandwirt machen und Ulrich ein großer Schriftsteller werden. Aber das ist alles noch so – so weit entfernt.

    „Ja, nicht wahr?"

    „Helga, sagte er plötzlich, und es war ihm selbst nicht klar, woher er den Mut nahm, vor sich selbst und vor ihr – es war wohl ihr leidvolles Gesicht. „Helga, dabei hab’ ich doch ein Ziel. Ich weiß genau, was ich will. Nur, ob du willst, das weiß ich noch nicht.

    „Leo..."

    „Aber wenn ich das wüßte, wenn du mir sagen würdest – Helga, sag mal, wäre es dann nicht viel leichter für uns beide? Wenn du – wenn wir beide wüßten..."

    Er hielt inne, vollkommen festgefahren. Er konnte doch, um alles in der Welt, Helga jetzt keinen Heiratsantrag machen, plötzlich aus heiterem Himmel. Was war er denn? Und was war sie? Nein, er mußte erst etwas werden, ach, die alte, die uralte Leier!

    „Helga, sag mir’s!" bat er leise.

    „Was soll ich denn sagen?" fragte sie hilflos und sah ihn einen Augenblick lang an. Auch sein Gesicht brannte, es war solch ein gesundes, breites, gutes Jungengesicht, der ganze Kerl war so, zuverlässig und gesund und gerade. Er würde einmal sehr männlich werden, wenn er älter war, sie fühlte es deutlich. Sie wurde immer verwirrter, während ihr dies alles durch den Sinn ging.

    „Sag mir wenigstens das: Ist es wegen Ulrich? fragte er nach einer Weile. „Magst du Ulrich lieber?

    „Ich dachte übrigens in der letzten Zeit, ihr mögt mich beide nicht mehr, sagte Helga nach einer Weile und strich das Haar aus der Stirn, richtete sich auf. Ihre Stimme klang wieder ruhiger, viel mehr so wie sonst. Er hatte sie überhaupt noch nie so hilflos und verstört gesehen, sie, die sichere, ruhige und vornehme Helga Martens. Jetzt war es, als habe sie sich gleichsam wiedergefunden. „Immer habt ihr es mit Josi. Ulrich hilft sie tippen, du unternimmst nichts ohne sie, ich dachte immer, Josi ist für euch zehnmal so wichtig wie ich. Etwa nicht?

    „Aber Helga. Wir gehören doch zusammen!"

    „Ja, ihr und Josi!"

    „Und du etwa nicht? Gehörst du nicht zu uns?"

    „Ich weiß es nicht. Ich weiß es manchmal wirklich nicht, wiederholte sie heftig. „Ihr habt mir so viel voraus. Schon, daß ihr Geschwister habt. Euch ist das so selbstverständlich, daß ihr bei allem ‚wir‘ sagt und nie ‚ich‘. Immer habt ihr das gekonnt, ihr wißt gar nicht, wie das ist, allein zu sein. Von klein auf wart ihr immer zu mehreren. Das ist wie eine Hülle, die einen schützt. Nur ich...

    Leo schwieg erschrocken. Es war so: Ein einzelnes Kind steht nie so naturhaft fest im Leben wie eins, das unter einem „Wir" aufwuchs. Aber daß sie es fühlte und aussprach...

    „Du kannst doch nichts dafür", sagte er zaghaft.

    „In einer Art doch. Ich weiß auch, daß ich Mutter – daß ich meine Eltern enttäuschte. Sie hatten sich sicher einen Sohn gewünscht."

    „Helga! Welch ein Unsinn! Als ob du etwas dafürkönntest!"

    „Nein, aber sie meinen es."

    „Ein Sohn könnte doch auch – anders geworden sein, als sie dachten", versuchte es Leo ungeschickt.

    „Ja, aber das sagt sich Mutter nicht. Überhaupt..."

    „Quäl dich doch nicht damit! Er warf seinen Zigarettenrest in den Schnee. „Ich finde deine Mutter übrigens fabelhaft.

    „Jaja. Daß sie reitet und Tennis spielt und all dies", sagte Helga, plötzlich müde und unwillig. Das ist es ja, aber das versteht ihr alle nicht. Es hat keinen Zweck, dachte sie.

    Nein, es hatte keinen.

    „Sei nicht böse, daß ich dir den Tag verpatzt hab’, sagte sie, stand auf und probierte ein Lächeln. Ihr Gesicht war nun wieder wie meist: schön, verschlossen und still. „Denk nicht mehr dran.

    „Aber Helga!"

    „Bitte, vergiß es. Das sind so Stimmungen..."

    „Das sind doch nicht nur Stimmungen..."

    „Doch, sagte sie bittend, „vergiß es. Bei dem herrlichen Wetter – es ist doch eine Schande. Wollen wir abfahren? Wo steckt übrigens Josi?

    „Dort! Sie winkt uns gerade. Wollen wir?"

    Sie beugten sich

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