grosse schwester, kleiner bruder
Von Lise Gast
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Buchvorschau
grosse schwester, kleiner bruder - Lise Gast
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I
Der letzte gongschlag war verdröhnt, renate, die zuletzt selbst mitgesprungen war, um die ermattenden Schülerinnen anzufeuern – hopp und hopp und hopp! –, strich sich mit dem Unterarm über das Gesicht und lachte, während sie Schlegel und Tamburin sinken ließ. Die Uhr des Petrikirchturms, die man durch das Gartenfenster sehen konnte, zeigte zehn nach vier. Sie konnte also aufhören.
»Genug für heute, meine Damen«, sagte sie atemlos. Es wirkte auf ihre Schülerinnen immer ein wenig tröstlich, wenn sie nach der Springerei knapp bei Atem schien, ebenso, wenn sie sich über das Gesicht strich. Warum sollte man nicht solche unschuldige Tricks anwenden, die einen beliebt machten? Dabei war es ja kein Wunder, daß sie selbst mit ihren zweiundzwanzig Jahren mühelos das schaffte, was Vierzigjährige schnaufen ließ, die lediglich Gymnastiksrunden nahmen, um ein wenig Gewicht zu verlieren.
»Haben Sie Zeit, Fräulein Hollriede?« Richtig, das war wieder Frau Nestler. »Ich würde Sie gern noch zu einem Täßchen Kaffee einladen. Sie geben sich immer so viel Mühe mit uns!«
Renate lächelte. Jeden Donnerstag mußte sie ihre Absage in ein anderes Gewand kleiden, um nicht unhöflich zu erscheinen. Im Grunde hätte sie nach der Anstrengung der Stunde recht gern bei ›Kleine‹, der Konditorei der Stadt, den berühmt guten Kaffee getrunken und dazu reichlich Kuchen gegessen. Ihrer Figur hätte das wahrhaftig nicht geschadet. Aber es kam natürlich nicht in Frage. Erstens läßt man sich nicht von einer Schülerin einladen. Und zweitens Christians wegen. Er sollte Butterbrot und Milch vespern und sie schlemmen? Ausgeschlossen.
»Ich muß leider zu Fräulein Menzler, furchtbar schade«, sagte sie liebenswürdig, »sie erwartet mich. Es geht ihr im übrigen besser. Vielleicht gibt sie die nächste Stunde schon wieder selbst.«
»Ach!« Frau Nestler lächelte zurück. Dieses »Ach« war ein diplomatisches Meisterstück und stand genau auf der Kippe zwischen freudigem Begrüßen der Genesung der einen und Bedauern über den Verlust der andern Lehrerin. Renate sann darüber nach und nahm sich vor, von Frau Nestler zu lernen. Nicht, wie man sich selbst betrügt, indem man sich mit einer einzigen Wochenstunde Gymnastik moralisch freikauft für sechs Konditoreibesuche, sondern wie man gleichzeitig betrübt und erfreut sein kann mit einem Wort. Mit einem einzigen »Ach«.
Renate war aus dem Tanzsaal des Gasthauses, in dem sie noch immer behelfsmäßig turnten, in eine der Nischen getreten, die wohl für Paare, die sich etwas Ernsthaftes zu sagen hatten, an der Wand entlang eingebaut waren, und zerrte den Gymnastikkittel über den Kopf. Ihr Kleid hing an einer Südseemaske, die von der Wand herabgrinste, nachts wahrscheinlich bengalisch beleuchtet. Es war scheußlich, daß man hier nach der Stunde nicht brausen konnte, auch sie, obwohl sie nicht schwitzte. Die andern schwitzten um so mehr, schienen eine Ehische aber nicht einmal zu vermissen. Sie wollte gelegentlich mit der Gestrengen sprechen.
Ach ja. Ihr Besuch bei der Vorgesetzten und Gönnerin war keine Ausrede. Leider. Sie mußte zu ihr hin, und zwar sofort. Christian würde wieder einmal allein vespern müssen; wenn man zur Audienz befohlen war, kam man nicht unter anderthalb Stunden davon.
Renates Bewegungen waren langsamer geworden. Endlich stand sie, den Gürtel ihres Kleides noch in der Hand, und starrte die Maske an. Du grinsender Teufel, Schadenfreude ist die reinste Freude, nicht wahr? Du brauchst keine Besuche zu machen.
Die Frauen waren schon gegangen, als sie wieder in den Saal hinaustrat. Sie stieß noch ein drittes Fenster auf. Zwei hatte sie schon während der Stunde geöffnet. Ein leichter Dunst lag über dem Saal. Dunst nach verschüttetem Bier, kaltem Rauch, geöltem Fußboden und überanstrengten, nicht mehr ganz jungen Körpern. Sie mußten andere Räume bekommen, auch wenn es jetzt auf den Sommer zuging und man wieder im Freien würde arbeiten können.
Renate gab sich einen Stoß und zog ihr Jäckchen an. Als sie durch die Straßen radelte, fühlte sie mit einem gewissen Genuß, was für ein Gesicht sie machte. Ein verdrießliches, müdes, unlustiges. Sie war unlustig. Und es tat so gut, einmal so aussehen zu dürfen, wie man sich fühlte. Sonst mußte man immer das Berufsgesicht machen, verbindlich und mit jenem Lächeln, das einen selbst anwiderte.
Vormittags war dies leichter durchzuhalten. Zahnarztpatienten tun einem stets leid, und Dr. Karsten war ein angenehmer Chef. Er war gleichmäßig freundlich zu Mann, Frau oder Kind, auch zu ihr, seiner Sprechstundenhilfe. Sie arbeitete gern bei ihm, obwohl, nein, weil er völlig neutral zu ihr stand. Aber ein wenig menschlich interessierter könnte er manchmal sein!
Hier zuwenig, dort zuviel. Was Dr. Karsten, ihr Vormittagschef, vermissen ließ, hatte Fräulein Menzler zuviel. Renate seufzte. Sie begriff nicht, wie eine Frau, die soviel konnte, die eine so ausgeglichene, schöne Tänzerinnenfigur besaß, so uneins mit sich selbst sein konnte. So gar nicht ausgeglichen, so gar nicht straff. Immer gab sie sich nach, nie konnte man fest mit ihren Anweisungen rechnen. Dabei war sie, Renate, sicher, daß Fräulein Menzler sie gern hatte, an ihr hing.
Das war beinahe das schlimmste. Obgleich sie natürlich sonst diese Vertretungsstunden nie bekommen hätte. Sie konnte noch zuwenig dafür. Aber Fräulein Menzler verteilte ihre Gunst wahllos und nahm sie ebenso wahllos wieder zurück, wenn es ihr nicht paßte. Schrecklich, einen solchen Menschen als Vorgesetzten haben zu müssen! Nein, da war Dr. Karsten Gold dagegen.
Renate war angekommen. Sie lehnte das Rad im Vorgarten an das Mäuerchen, das seitlich der Treppe den Aufgang flankierte, und stieg hinauf, bemerkenswert langsam. Dabei ordnete sie mit einiger Mühe ihre Gesichtsmuskeln. Es war nötig. Auf dem ersten Treppenabsatz versuchte sie Ärger und Mißmut zu verwischen, auf dem zweiten probierte sie ein Lächeln. Es war noch etwas krampfhaft. Vor der Tür mit dem Schild »Anita Menzler – neuzeitliche Gymnastik« atmete sie tief und systematisch und dachte an etwas Schönes, ganz schnell; an was