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Über dieses E-Book

Seit kurzem ist Stefanie, verwitwete von Strassow, die Ehefrau von Leo Landowski. Leo ist seit der Inflation unverschämt reich, ein hoch angenehmes Leben mit Villa im Berliner Grunewald ist die Folge. Da macht es auch nichts, dass Hermann der Große, das Familienoberhaupt der Landowskis, Leo aufgrund seiner Heirat mit der Nicht-Jüdin Stefanie testamentarisch geringer bedacht hat. Übrigens war Stefanie eigentlich auf ganz anderer Art der Grund für die Abänderung des Testaments. Denn die Unterredung mit Stefanie, mit der der alte Hermann die Schande von der Familie abwenden wollte, endete mit dem Ergebnis, dass er ihr nach zwei Stunden selbst einen Heiratsantrag machte. So kann es passieren! Wie aber lebt man glücklich in solch einem Wohlstand? Mit dieser Frage setzt sich Walther von Hollander in diesem Roman auseinander. Entfernen sich die Liebenden in dieser Situation voneinander oder finden sie auf immer zusammen?-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum24. Mai 2018
ISBN9788711474501
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    Buchvorschau

    Auf der Suche - Walther von Hollander

    www.egmont.com

    I

    Es fliehen dahin die Tage…

    Der Garten der Landowskis liegt in der Frühsonne eines Septembertages. Die Rosen sind noch in voller Blüte. In dem Georginenbeet, das die Mitte des einen Rasenplatzes bildet, drängen sich die bunten Blüten zu einem Riesenstrauß. Der Springbrunnen auf dem anderen Rasenplatz ist heute in Gang gesetzt. Die Wassersäule steht kerzengerade über dem grauen Sandsteinbecken. Weiter hinten, dort, wo durch eine Weißdornhecke abgegrenzt der Gemüsegarten beginnt, hört man den Gärtner mit Gießkannen hantieren.

    Eine helle, lustige Stimme erhebt sich auf der Straßenseite, eine dunkle und brüchige Männerstimme, die auch lustig sein möchte, antwortet. Ein Hin und Her von Abschiedsrufen. Dann die Hupe eines Autos.

    Gleich darauf biegt eine große, sandfarbene Katze um die Hausecke, hält geblendet von der Sonne an, schließt die Augen und dehnt sich, als müsse sie ihre Länge verdoppeln. Dann setzt sie sich gemächlich wieder in Bewegung und trabt an den hellen Sandsteinen des Hauses entlang, die schon eine angenehme Wärme ausströmen.

    Auch Stefanie Landowski schließt die Augen, als sie aus dem Schatten in die Sonne kommt. Dafür öffnet sie aber den Mund, legt den Kopf zurück und läßt die Strahlen durch die rote Gaumenhöhle bis in die dunkle Kehle fallen. Das ist sehr angenehm, weil es komischerweise die ganze Wirbelsäule entlang prickelt. Sie bleibt eine ganze Weile so stehen, freut sich über ihre Entdeckung und beschließt, das „Sonnengurgeln" von nun an jeden Tag zu machen. Als sie endlich weitergeht, kommt der erste Windstoß, fährt ihr unter den seidenen Morgenrock und entblößt so ein paar Beine, die von den Knien abwärts ein klein wenig zu dick sind.

    Stefanie weiß das genau — ist doch dadurch der Badeanzug für sie ein unlösbares Problem! — und schlägt darum mit mehr Heftigkeit als nötig den Rock hinunter. Sie ist einen Augenblick ganz verstimmt.

    Sie will nun endlich frühstücken, läuft, mit den Schultern etwas hin und her schlingernd, die Freitreppe hinauf und läßt sich atemlos auf einen der Stühle am Frühstückstisch fallen, der inmitten der Terrasse steht. Auf dem anderen hat die Katze Platz genommen und begrüßt die Herrin mit rasselndem Geschnurr.

    Aber zunächst gibt es noch nichts zu essen; es muß erst der Wirtschaftsvortrag von Frau Schreier entgegengenommen werden, die in voller Uniform zur Stelle ist, die weiße Riesenhaube rings um das rote Gesicht, eine schneeweiße Schürze über den mannigfaltigen Wölbungen ihrer Vorderseite. Frau Schreier fängt sofort zu sprechen an, ohne jede Pause, in größter Eile und in ständiger Angst, daß sie unterbrochen werden könnte. Sie spricht waschechten Berliner Dialekt, dem sie zuweilen einige Sätze Hochdeutsch beimischt, um merken zu lassen, daß es ihr an Bildung nicht fehlt.

    Es ist in den sechs Wochen der Abwesenheit von „Frau Jräfin geradezu eine Unmenge passiert. „Frau Jräfin kann sich det jarnich vorstellen, wie det Personal… Stefanie bittet inständigst, von der Titulatur Frau Gräfin abzusehen. Es lasse sich schließlich nicht ändern, daß sie nun schon drei Jahre lang schlicht bürgerlich Landowski heiße. „Freilich ärgern mich auch die beiden i im Namen: Stefanie Landowski, sagt sie und bemüht sich, bei diesem Thema zu bleiben. „Aber man kann nicht immer alles passend zusammenfinden.

    Frau Schreier hat die Hände gefaltet und nickt. Soll die Gnädige sich erst aussprechen, denkt sie und sammelt unterdessen Atem. „Außerdem war ich nie eine Gräfin, schließt Stefanie endlich, „sondern nur eine Komtesse.

    Sie haut bei den letzten Worten der Katze eins auf die Pfote, weil sie in den Milchtopf gelangt hat. Durch den Schlag fliegt eine Vase mit Blumen in hohem Bogen zu Boden und geht in Scherben.

    Frau Schreier macht einige bedauernde Handbewegungen und klingelt nach dem Hausmädchen. Sie klingelt aber versehentlich einmal zu viel, und so kommt Gaspard, der dreiundsiebzigjährige Diener, auf kleinen, etwas zittrigen Beinen durch den Salon gelaufen, öffnet die Tür der Terrasse und steht, den weißen Kopf verbindlich auf das linke Ohr gelehnt, auf dem er schwer hört.

    Frau Schreier begreift nicht, wieso Gaspard (sie sagt hartnäckig Kaßpacht) gekommen ist. Sie hat bestimmt nur zweimal geklingelt. Sie will aber keinen Streit. Stefanie bittet den Alten, das Hausmädchen Bertha zu holen. Die erscheint auch bald darauf, und während die drei anderen voll Teilnahme zuschauen, gelingt es ihr wirklich, die Scherben und Blumen auf ein Kehrblech zu fegen und fortzutragen. Hierauf findet ohne weitere Unterbrechung der Wirtschaftsvortrag der Frau Schreier statt, der Speisezettel für die nächsten acht Tage einschließlich der Gesellschaft am Montag wird ohne Debatte genehmigt, und die Zofe Hanna darf den Tee bringen.

    Stefanie frühstückt mit geringem Appetit, sie schnippelt eigentlich nur an allem herum, an einem Stück Toast, einem Stück Kuchen, an Ananas und den Frühäpfeln. Dann läßt sie alles liegen, breitet seufzend ihre Serviette über den Teller, der wie eine Schutthalde aussieht, und läßt sich von Gaspard eine Zigarette und Feuer geben. Sie scheint die Zigarette zu knabbern. Denn nach jedem zweiten Zug muß sie mit den Fingern ein Fädchen Tabak von der Unterlippe entfernen. Beinah könnte man glauben, daß die Unterlippe von diesem Zerren etwas größer geworden ist als die Oberlippe.

    Übrigens schadet das nichts. Der winzige Mund verlöre sich vielleicht sonst in dem großen Gesicht. Um zum Beispiel den Reiz der Oberlippe zu erkennen, muß man schon sehr genau hinsehen. Dann freilich wird man entzückt sein von dem Schwung einer Lippenlinie, die in der Mitte einen tiefen Bogeneinschnitt zeigt und an beiden Mundwinkeln sich nochmals wölbt, ehe sie sich mit der Unterlippe vereinigt.

    Stefanie wendet sich in der Sonne behaglich hin und her. Sie mustert wohlgefällig das gut geformte Dach einer Grunewaldkiefer, stellt fest, daß die Buche noch ganz grün ist — also hat Herbert, der Lümmel, in seinem Briefe gelogen — und beschließt, zum schnelleren Eingewöhnen noch einen Rundgang durch den Garten zu machen.

    Sie setzt sich einen knallblauen Strohhut auf, nimmt den Sonnenschirm aus gelbem Bast, den die Zofe neben den Frühstückstisch gestellt hat, und will gehen. Da fällt ihr noch im letzten Augenblick ein, daß Landowski sie immer wieder gebeten hat, „in durchsichtigen Kleiden wenigstens nicht spazierenzugehen".

    Sie geht bis zum Eingang des Salons, tritt vor den Spiegel, und da sie hier gerade noch von der Sonne erwischt wird, muß sie zugeben, daß das Morgenkleid wenig vom Körper verhüllt. Einiges, meint sie, wird sogar noch unterstrichen, obwohl es nicht unterstreichenswert ist. Sollte zum Beispiel der Bauch wirklich…? Ja, sie hat einen kleinen Bauch! Zwar, die Freundinnen würden sie auslachen und die Schneiderinnen das Gegenteil beschwören, aber sie betrachtet es als das Vorrecht anderer, keine Augen zu haben.

    Zum zweiten Male an diesem Vormittag ist sie mit ihrem Körper unzufrieden. Sie nickt ihrem Spiegelbild ernst zu — wirklich wunderhübsch steht das Blau des Strohhutes zu dem Sommerbraun des Gesichtes — und geht langsam die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Sie zieht sich nun lieber gleich ganz an, und das dauert ziemlich lange, weil sie dazwischen immer wieder seufzen muß. So ist also die ganze Reise mit Sport, Sonnenbad, Gymnastik, Training und Massage für den Körper nicht viel wert gewesen. Und sonst? „Du wirst alt, liebe Freundin", sagt sie laut und erschrickt.

    Die ekelhafte Melancholie kommt wieder oder die nüchterne Betrachtungsweise, wie sie das nennt. Der Winter, der eben erst aufgehört hatte, ist schon wieder da. Am Montag ist die erste, am Donnerstag die zweite Gesellschaft. Dann flitzt Tag um Tag vorbei, und ehe man dreimal Atem geschöpft hat, ist noch ein Jahr herum und noch ein Jahr. Ach ja, man weiß, wie das verläuft. Man steht mitten im Leben, oder vielmehr das, was sie, Stefanie Landowski, verwitwete Frau von Strassow, geborene Komtesse Wangen, so treibt, nennt man „mitten im Leben stehen". Danach kommt nichts mehr.

    Sie ist endlich mit Anziehen fertig und fängt an, ihre Haare zu bürsten. Heftig und ausdauernd fährt sie mit einer Stachelbürste durch den blonden Schopf, der immer glatter anliegt und schließlich wie eine kückenfarbene Kappe schmal den schmalen Kopf einschließt. Dazu singt sie aus Andrejews „Tage des Lebens" die Schmachtfetzenmelodie, die sie einmal in den Münchener Kammerspielen zu Tränen gerührt hat:

    „Es fliehen dahin die Tage des Lebens."

    Zuerst singt sie noch ganz ernst und findet, daß das gut zu ihren traurigen Gedanken paßt. Dann, als das Haar immer hübscher wird und die dunkelblauen Augen wieder ihren Höhlenglanz bekommen, quäkt sie schon ganz lustig, und schließlich hat sie einen Foxtrott-Rhythmus darin entdeckt. Sie springt die Treppen hinunter, indem sie ein Piccolo-Saxophon ausgezeichnet nachmacht.

    II

    Das Problem taucht auf

    Die Tomaten stehen erschreckend gut. „Es wird einem rot vor Augen, Meyersachs, sagt sie dem Gärtner und lacht ihn an. „An die sechzig Zentner, wiederholt Meyersachs ein paarmal und reibt seinen Daumen an der blauen Schürze, weil der juckt, was angeblich Gewitter zur Folge hat. Dann muß Stefanie noch die neu angelegten Spargelbeete besichtigen, den Blumenkohl und die anderen Gemüse und muß mit ins Treibhaus kriechen, wo eine Menge Orchideen im Aufblühen sind und mit ihren langen grünen Schlingästen sich gegenseitig in die Töpfe greifen.

    Ich mag die Biester nun mal nicht leiden, denkt Stefanie, mit ihren dumm aufgerissenen Mäulern. Immer sehen sie beleidigt aus. Laut aber preist sie Meyersachsens besondere Orchideenbegabung, um die Kenner die Landowskis beneiden, und macht sich unter Lobsprüchen von dem Alten los.

    Es ist elf Uhr geworden, bis Frau Landowski mit Begrüßen und Besichtigen fertig ist. Aber sie ist nun ganz zufrieden. Die Leute hängen rührend an ihr, und es ist in Haus und Garten alles in bester Ordnung. Das ist ihr durchaus nicht gleichgültig. „Irgendwas muß der Mensch in Ordnung halten, pflegt sie zu sagen, „und wenn er mit sich nicht fertig wird, so soll er es mit seiner Umgebung versuchen.

    Sie geht einen Augenblick in ihr Wohnzimmer, tritt auf den Balkon hinaus, der ganz in den Grunewald hineinsieht, kehrt ins Zimmer zurück und blättert ein bißchen in Zeitschriften. Das Telephon schrillt ein paarmal, aber sie läßt sich noch nicht sprechen. Die Menschen, die anrufen können, sind ihr alle höchst gleichgültig.

    Schließlich ist Leo Landowski am Apparat, ihr Herr und Gebieter, und er muß etwas sehr Komisches gesagt haben, denn Stefanie lacht laut und lange. Ihr Lachen ist merkwürdig tief und glucksend, ja, wenn sie von Herzen lacht, kann es klingen, wie wenn Wasser aus einem Steinbrunnen aufquillt.

    „Du bist so gut gelaunt, Ole, sagt sie zärtlich, „natürlich wundert mich das. Nein, sicher hätte ich es nicht vergessen. Sie schwatzt so lange von den Erlebnissen des Vormittags, bis sie daran denkt, daß sie alles gleich erzählen kann, und hängt dann ein.

    Sie sitzt eine ganze Weile und starrt auf den schwarzen Hörer, als könne der ihr erklären, was ihr eben als unerklärlich und beinah als Schrecken aufgefallen ist, nämlich, daß sie immer wieder von der alten Leidenschaft für Leo Landowski gepackt wird. Es widerspricht ihrer Erfahrung, nach der Leidenschaften mit Krach abbrennen und dann eben in alle Ewigkeit hinein Asche bleiben. Sollte in diesem Falle…?

    Sie schüttelt den Kopf. Ausgerechnet eine gute Ehe soll aus einer Leidenschaft werden, denkt sie und lächelt halb spöttisch und halb gerührt.

    Zehn Minuten später steht sie im grauen Kashakleid mit kleinem bunten Don-Juan-Cape und einem großen Rosenhut, den sie „wider alle Mode und alle Vernunft" aufgesetzt hat, und wartet auf das Auto, das ihren achtjährigen Sohn, Herbert von Strassow, aus der Schule abholen soll. Sie sieht ernst nach der Seite, aus der das Auto kommen muß, und hebt den Sonnenschirm zum Winken, als es um die Ecke biegt.

    Herbert, in einem hellgrauen Sportanzug, mit grauen Handschuhen und grauen Halbstrümpfen, die die zerschundenen Jungenwaden freilassen, winkt wie ein Kaiser mit steifem Handgelenk zurück, steigt aus, nimmt die Mütze zeremoniell ab und küßt der Mutter die Hand. Er ist ein schmächtiger Junge mit lustigen, braunen Augen, einem sommersprossigen, etwas käsigen Gesicht und einem Schädel, dessen Rundheit durch den Halbmillimeterschnitt des Haares noch betont wird. Das Haar schimmert trotz seiner Kürze ins Rötliche und hat — sehr zum Schmerze Herberts — einen zweiten goldblonden Wirbel oben an der rechten Stirnseite, da, wo anständige Leute nach Leo Landowskis Ausspruch eine Geheimratsecke haben.

    Stefanie versucht, mit ihrem Jungen wenigstens ein paar Worte zu sprechen, aber er ist zunächst damit beschäftigt, Handschuh, Mantel und Mütze auszuziehen und sie Stück für Stück dem herbeigeeilten Gaspard zu überreichen, wobei er die Bewegungen seines Stiefvaters genau nachahmt. Dann muß er mit dem Chauffeur Künnecke ein technisches Problem erörtern. Künnecke und Herbert tauchen die Köpfe dabei tief in die aufgeklappte Motorhaube, der Motor surrt schneller und langsamer und steht endlich still.

    Frau Landowski erinnert zaghaft daran, daß sie zu einer bestimmten Stunde in der Stadt sein muß, und jetzt hat Herbert endlich Zeit, der Mutter ordentlich guten Tag zu sagen. Er hängt sich ihr wie ein richtiger Bengel an den Hals, schaukelt da hin und her und guckt ihr lachend in die Augen. Er öffnet ihr mit den Bewegungen Gaspards den Wagenschlag, springt, als der Wagen sich in Bewegung setzt, auf das Trittbrett und begleitet vergnügt schwatzend die Mutter beinahe bis zur Halenseer Brücke.

    Er hat allerlei Sachen zu erzählen, Nachträgliches von seiner Schweizer Reise und eben Erlebtes aus der Schule. Stefanie hört bei den Schulerzählungen gespannt zu. Werden nun die Dinge wiederkommen, für die sie auch keinen Rat weiß? Aber nein — es bleibt bei harmlosen Prügeleien und Betrügereien, und Herbert springt ab, um im Galopp zurückzulaufen. Stefanie winkt ihm nach, sie erhebt sich dazu sogar von ihrem Sitz, und ist enttäuscht, weil der Junge sich nicht umsieht.

    Sie gerät beim Weiterfahren wieder in die „nüchterne Betrachtungsweise" und gibt zum hundertsten Male zu, daß sie ihren Sohn in unlösbare Schwierigkeiten gebracht hat. Großsohn eines mecklenburgischen Grafen, Sohn eines adligen Offiziers und Stiefsohn eines jüdischen Bankiers — daraus soll mal einer zur heutigen Zeit ein Leben machen.

    Leo Landowski hat ihn mit Recht kurzweg „das Problem genannt, ein Name, der indes nur zwischen den Eheleuten gebraucht wird, während der Kosename einfach „Lemmchen und davon abgeleitet wieder „Lamm" ist, ein Sprachwerdegang, der Etymologen zu Zorn und Nachdenken bringen kann und ein Schulbeispiel dafür ist, wie Stefanie an jedem Wort so lange dreht, bis sie jede Möglichkeit an Unsinn und Sinn herausgepreßt hat. Auch eine Art, sich vor den Dingen zu drücken!

    Stefanie springt mit ihren Gedanken in ihrem Leben herum. Heute scheint ihr, daß sie doch nur ein Glück zweiter Klasse habe, etwa so, daß ihr nichts ganz schief geht. Ist Otto von Strassow etwa nicht zur rechten Zeit gefallen? Welche Schwierigkeiten hätte er bei der Scheidung gemacht! Wieviel Erpressungen noch versucht! Aber so ganz gerade geht auch nichts. Einen Sohn wollte sie immer. Aber Herrn von Strassow fortpflanzen?

    Armes Lemmchen, denkt sie und schüttelt sich, damit die unangenehmen Gedanken auf- und davonfliegen sollen. Denn sie will finden, daß diese Verantwortung für die Kinder ein dummer christlich-jüdischer Schnickschnack ist, der immer von jedem seinem Nächsten empfohlen und von niemandem befolgt wird. Oder hat man sich Sorgen darüber gemacht, wie sie sich durchs Leben finden würde?

    Ganz überzeugend scheint das letzte nicht zu sein; denn sie hat Kopfweh und einen schalen Geschmack auf der Zunge, als sie die Treppe zu Landowski & Co. hinaufsteigt.

    „Es ist wieder das Problem, Leo, seufzt sie, setzt sich in den „Generaldirektorssessel und läßt ihn durch Knopfdruck zu einem Liegestuhl werden.

    „So, so, sagt Landowski und macht noch schnell ein paar Unterschriften, „hat sein arisches Blut oder sein jüdisches Portemonnaie Anstoß erregt?

    III

    Leo Landowski

    Leo Landowski — von seiner Frau Leo, Löwe, Löwchen und meistens Ole genannt, was wieder eine ihrer Permutationen aus Leo ist — Leo Landowski stammt aus der bekannten Bankdynastie Landowski. Er ist der Sohn vom „großen" Hermann Landowski, dem ehemals allmächtigen Generaldirektor der D-Bank, und der Großsohn des wirklich bedeutenden Israel Landowski, der 1923 91 jährig starb, nachdem er ein halbes Jahr vor seinem Tode sein Testament umgestoßen, seine Familie auf Pflichtteil gesetzt und die eine Hälfte seines Vermögens jüdischen Krankenhäusern, die andere einem Fonds zur Erforschung der Krebskrankheit vermacht hatte. Man sagt, daß er zu diesem Entschluß hauptsächlich durch die Verheiratung Leo Landowskis mit Stefanie von Strassow gekommen sei. Nicht so sehr darüber aufgebracht, daß Stefanie keine Jüdin war, als daß er durch ein Detektivbüro die dunklen Affären des Herrn von Strassow aufgedeckt hatte.

    Die Wahrheit, die jetzt nur noch Stefanie und Leo Landowski kennen, ist viel phantastischer: der Alte hatte sich eines Tages wirklich als zürnendes Familienoberhaupt aufgemacht, um durch eine Unterredung mit Stefanie die Schande von der Familie abzuwenden. Das Ergebnis war, daß er ihr nach zwei Stunden selbst einen Heiratsantrag machte. Nach ein bis zwei Jahren könne sie dann immer noch Leo heiraten und so das Familienvermögen zusammenhalten. Als Stefanie ablehnte, hatte er ihr seinen Segen gegeben, aber sein Testament geändert, damit sie nicht auf Umwegen zu einem Geld käme, das er ihr nur direkt gönnte.

    Hermann Landowski, obwohl der „große" genannt, hat im Grunde von den Einfällen und Ratschlägen des alten Israel gelebt und hat sich, beim Tode seines Vaters selbst schon ein alter Mann, bald darauf zur Ruhe gesetzt. Er ist der schwierigste Charakter der Familie. In der Jugend ein liberaler Mann, wurde er mit zunehmendem Alter immer orthodoxer und schrulliger und macht jetzt mit allerlei abstrusen Einfällen sich und seiner Familie das Leben schwer.

    Seine Frau ist vor fünfzehn Jahren gestorben. Seine Kinder — außer Leo gibt es noch die wunderschöne Hilde Landowski, die an den amerikanischen Allerweltsarchitekten Bellewsberg in New York verheiratet und damit verschollen ist — stehen in schärfstem Gegensatz zu ihm, und er haust allein mit seiner älteren Schwester, der Rebekka Landowski, immer noch in der alten Wohnung in der Bendlerstraße, in die er, „ein Pionier des Berliner Westens", vor vierzig Jahren gezogen ist.

    Leo Landowski ist 36 Jahre, seit fünfzehn Jahren selbständig, seit acht Jahren reich, seit dem Ende der Inflation sehr reich. Er ist stolz darauf, seinen Reichtum nur sich selbst zu verdanken, obwohl er im Grunde weiß, daß der Kredit seines Namens ihn aus mancher schwierigen Lage gerettet hat. Er verdankt seine Erfolge der Tatsache, daß er selbständig denken kann (so hat er sein großes Vermögen durch Frankenspekulation à la hausse verdoppelt), seine Niederlagen kommen aus der allgemeinen Unterschätzung seiner Gegner. Auch kehrt er nicht gern um, wenn er einmal einen Weg eingeschlagen hat. Er ist eitel und leicht verletzt, im Gegensatz zu seinen Vorfahren schroff im geschäftlichen Verkehr und liebenswürdig zu seinen Untergebenen.

    Er ist klein und schlank, körperlich übertrainiert, hat einen leichten Herzfehler, der ihn manchmal verschwommen aussehen läßt. Sein Kopf ist etwas zu groß für den Körper: weil Landowski ihn geradehalten möchte, trägt er ihn leicht nach hinten über. Er hat volles blondes Haar, das rechts gescheitelt ist, braungraue Augen, eine kleine dicke Nase und schmale Lippen. Das alles sieht man zuerst nicht, weil Kinn und Stirn, beide wuchtig und breit, das Gesicht bestimmen und es imponierend erscheinen lassen, wenn er es will. Meist aber liegt ihm daran, wie andere auszusehen. Er hat sich in Anzug und Gebärden Durchschnittsmanieren angewöhnt, so daß seine Erscheinung höchstens in seinen Kreisen auffällt. Auf der Straße würde man sich nicht nach ihm umdrehen.

    Über Leo Landowski gibt es unzählige Geschichten, von denen keine einzige wahr ist. Von seinen Abenteuern mit Frauen, deren er angeblich unzählige gehabt hat, kennt man eigentlich nur sein Verhältnis zur Schauspielerin Clara Höger, für die er das Haus im Grunewald gebaut hat, um es nachher selbst zu beziehen, ein Jahr bevor er Stefanie heiratete. Warum er eigentlich mit der Höger gebrochen hat, weiß man nicht. Er selbst hat es niemandem erzählt, und die Höger, die übrigens bei Landowskis viel verkehrt, bekommt eine jährliche Rente, so lange sie schweigt.

    So muß sich die Klatschsucht ganz an seiner Ehe mit Stefanie von Strassow austoben. Und da gibt es ja schließlich vielerlei, was auch ein paarmal erzählt seinen Reiz behält. Es leben Leute, die auf jener denkwürdigen Gesellschaft waren, auf der Stefanie erklärt hatte, sie werde Landowski, den sie gerade eine halbe Stunde kannte, im Verlaufe von drei Monaten heiraten.

    Man kann sich denken, daß Landowski das erfuhr und tausend Eide dagegen setzte. Aber er schwor falsch. Zwei Monate später hatte er den „Wahnsinn" begangen, und Stefanie zog mit Herbert und Gaspard in die Grunewaldvilla ein.

    Da niemand auf die sehr simple Wahrheit verfiel, daß die beiden Menschen durch jene geheimnisvolle Anziehung zusammengebracht sein könnten, wie sie heftig und unwiderstehbar zuweilen zwischen blutsfremden Geistverwandten entsteht, so mußten die unglaublichsten Geschichten herhalten, unter denen noch die harmloseste war, daß Stefanie acht Nächte auf der Schwelle von Landowskis Schlafzimmer zugebracht hatte, um schließlich von dem Müdegehetzten das Jawort zu erpressen.

    Die Landowskis kennen diese Geschichten alle, und Stefanie hat sogar versucht, zuweilen dagegen anzugehen. Aber Leo liebt es nicht, Gerüchten zu widersprechen. „Gerüchte über mich kann ich nur entkräften, indem ich sie bekräftige, pflegt er zu sagen, und so hat er einmal eine Gesellschaft der größten Klatschbasen eingeladen, um sie in seinem Hause umherzuführen und ihnen schließlich die blumengeschmückte Schwelle seines Schlafzimmers zu zeigen, die er „als einen Grabstein seiner Freiheit und als Erinnerungsstätte an die Werbewoche seiner Frau stets unter Blumen zu halten pflege.

    Man kann sich denken, daß Landowski wenig Freunde hat. Eigentlich, wenn er nachdenkt, kommen nur der Musiker Windschütz in Frage, der alte Kunsthändler Mewes, der Schnapsfabrikant Wedderstedt, ja, und die Höger.

    Mit diesen vier Sonderlingen ist er bisweilen zusammen. Sie haben einen geheimnisvollen Fünferklub, der einmal im Monat tagt und zu dem auch Stefanie nicht zugelassen wird. Von ihnen läßt er sich Geschichten erzählen, wahre und falsche, unter der einzigen Bedingung, daß nicht gefragt werden darf, welche Geschichten wahr und welche erlogen sind.

    Die Ehe der Landowskis ist bis vor einem Jahr allen Prophezeiungen zum Trotz glücklich verlaufen. Aber vor einem Jahr haben jene Spannungen eingesetzt, die aus Unbekanntem auftauchten und die beiden Mißtrauischen sehr erschreckt haben.

    Es wird zu Ende sein, denken sie zuweilen, und manchmal sagen sie es auch mit jener ruhigen Höflichkeit, die alle ihre Beziehungen vor den Beziehungen anderer Menschen auszeichnet. Aber weil es in Wirklichkeit nicht zu Ende ist und weil sie auch nicht wüßten, was dann zu tun sein würde, wenn es zu Ende wäre, so haben sie sich aufs Abwarten, aufs Lauern und aufs Experimentieren verlegt, eine Art zu leben, mit der sie beide schon oft Schiffbruch gelitten haben und von der sie doch nicht loskommen. Sie bestärken sich sogar noch darin, weil sie Menschen sind, die „eine schmerzhafte Wahrheit besser vertragen als eine angenehme Lüge".

    Stefanies Sommerreise, die sie allein gemacht hat, ist eines der Experimente, mit denen die Landowskis die Wahrheit herauskochen möchten, und die Blicke, mit denen jetzt die beiden im Büro einander abtasten — während er schreibt und sie geduldig eine Zigarette nach der anderen raucht —, diese Blicke versuchen herauszubekommen, welche Ergebnisse dieser Versuch hatte.

    IV

    Der erste Tag will nicht enden

    Stefanie und Leo Landowski sind ängstlich bemüht, jede feierliche Handlung und Unterredung an diesem Tage zu unterlassen. Es soll alles sein wie immer. Man wird dann am ehesten sehen, ob sich was geändert hat.

    „Die Arbeit hat schon wieder zugenommen", entschuldigt er sich einmal, weil der Diener noch eine Mappe zum Unterschreiben bringt, und Stefanie winkt freundlich mit den hellgelben Handschuhen. Er soll sich nur nicht stören lassen. Sie sieht ihm gerne bei der Arbeit zu. Da ist sein Gesicht voll Leben und Bewegung, aufmerksam und gespannt und nie ohne eine gewisse Lustigkeit, weil Leo Landowski seine Arbeit nicht ernst nimmt.

    Er spielt mit ihr, er haut sich mit ihr herum, er stemmt sie oder er wirft sie auch mal ganz weg — jedenfalls geht er mit ihr nicht wie mit einer erwachsenen ehrlichen Sache um, an der anständige Leute Halt und Inhalt für ihr Leben finden.

    Würdest du doch leben, wie du arbeitest, denkt Stefanie, aber sie hütet sich, es zu sagen, denn Landowski hat gerade die letzte Mappe erledigt, und sein Gesicht bekommt nun auch einen Anflug jener ängstlichen Würde, hinter der sich der gewöhnliche Mitteleuropäer gegen den gewöhnlichen Mitteleuropäer verschanzt.

    Er geht auf Stefanie zu, stemmt die beiden Hände auf die Lehne des Sessels und nähert sein Gesicht ganz langsam ihrem Gesicht. Er will eigentlich einen Witz machen und mit hohler Inquisitionsstimme flüstern: „Und was triebest du, Weib?, aber die Stimme bleibt in einem kleinen Räuspern stecken. Die Augen blicken wider Willen ängstlich und forschend, und Stefanie stemmt ihre Arme gegen seine Brust, schiebt ihn mit aller Gewalt zurück, steht ganz schnell auf, und indem sie vor dem Spiegel ein wenig das Lippenrot nachzieht, schüttelt sie sich und sagt: „Du weißt doch, daß ich immer denke, ich muß ersticken.

    Landowski antwortet nicht. Er setzt sich gerade den kleinen grauen Hut auf, zuerst lotrecht und ordentlich, dann doch etwas schief, weil das alle jungen Männer tun, klemmt Handschuhe und Stock unter einen Arm, zieht ein mächtiges Schlüsselbund aus der Tasche und stopft es mit einem „Ach was" wieder zurück. Das Abschließen ist ihm zu langweilig.

    Während sie zusammen die Treppe hinuntergehen, ist Stefanie ganz verwundert, daß er sich gar nicht entschuldigt hat, und sie erkennt, daß sie sich in den sechs Wochen doch fremd geworden sind. Sie biegen schweigend in die Friedrichstraße ein und gehen so nebeneinander her, daß sich ihre Kleider nicht streifen. Manchmal werden sie von den entgegenkommenden Menschen ganz getrennt, und immer muß Landowski dann auf seine Frau warten. Denn sie ist

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