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Der Granatapfelbaum
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eBook272 Seiten3 Stunden

Der Granatapfelbaum

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Über dieses E-Book

Henri Wyndthausen, der vielgerühmte Schauspieler, schenkt seiner jungen Kollegin Christine Meßwarb zu Beginn ihrer Begegnung, aus der bald eine tiefe Liebe wird, einen Granatapfelbaum – Symbol der Liebe, der Vergänglichkeit und des Todes. Der Roman erzählt die Geschichte dieser Liebe, die unbedingt und vorbehaltlos ist, eine zeitlose Leidenschaft, ernst und heiter zugleich. Zugleich wird in diesem Buch der antike Mythos von Persephone, die im Winter in der Unterwelt weilt und nur im Sommer zu ihrem irdischen Gemahl aufsteigen darf, auf doppelter Ebene neu erzählt: Denn den Rahmen des Geschehens bildet eine Reisebühne, die mit dem antik-modernen Stück "Persephone" durch die Lande zieht. Ein zugleich heiteres und besinnliches Spätwerk eines großen deutschen Erzählers.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum26. Feb. 2016
ISBN9788711474556
Der Granatapfelbaum

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    Buchvorschau

    Der Granatapfelbaum - Walther von Hollander

    Tragischen.

    Persephone steigt aus dem Hades herauf

    1

    »Da – gleich am Teich rechts«, sagte der Rentner mit der blauen Schirmmütze und zeigte auf das alte Fachwerkhaus. »Sie gehören wohl auch zu denen?« – «Ja, ich gehöre auch zu denen«, antwortete Christine vergnügt. Der kleine, tomatenfarbene Wagen schoß auf Hennekes Gasthof zu und hielt am Hoftor.

    Die mächtigen, eichenen Torflügel standen offen. Eine schwarze Blechhand wies mit ausgestrecktem Zeigefinger in den schattendunklen Hof. »Ausspann«, stand darunter. Christine zögerte. Die Märzsonne schien so angenehm durch das offene Wagenfenster. Der Dorfteich, noch milchig-weiß zugefroren, blendete hell herauf. Aber erst mal hinein in die Schatten, in den Hades! Vorsichtig fuhr sie über das Kopfsteinpflaster und parkte zwischen einem großen, weißen Wagen aus Glas und Chrom und einem olivgrünen Autobus. Drei ältere Schauspieler, wahrscheinlich die drei Totenrichter, lagen in den zurückgelehnten Sitzen und schliefen. Ein gelber Kater überquerte, auf der Suche nach Sonne und Mäusen, den Hof. Er lief die kleine Außentreppe hinauf, schlüpfte durch eine angelehnte Tür. Christine folgte ihm, trat ein.

    Der große Wirtshaussal war dunkel. Zwei rotglühende Eisenöfen flankierten die kleine Bühne, die von vier heruntergezogenen Lampen kalkig beleuchtet war. Und auf der Bühne ... da stand er also: Henri Wyndthausen, der Triptolemos, der irdische Mann Persephones, ihr Partner, vor dem ihr Mann, ihre Mutter, ihr Agent sie gewarnt hatten.

    Sie hob ihr schildpattgefaßtes Lorgnon an die etwas kurzsichtigen Augen. Sie kannte ihn aus drei oder vier ziemlich mäßigen Filmen. Sie hatte viele Bilder von ihm gesehen. Aber der da oben war ... nun er war »ganz anders«. Ein knabenhafter Mann, ein männlicher Jüngling, überschlank, verhältnismäßig klein, mit einem breiten Schädel, bräunlich-goldenen Haaren und erstaunlich dunklen, kohlschwarzen Augen. Wyndthausen trug verknüllte, flaschengrüne Cordhosen, einen gelben Pullover, ein chinesisch getuschtes Seidentuch. Er hatte die Arme um zwei ruschelhaarige Schauspielerinnen gelegt. Mit der einen flüsterte er. Sie lachte albern, schlüpfte aus seinem Arm und lief in die Kulissen. Wyndthausen schickte die andere mit einem Klaps auf die prall sitzende Nietenhose hinterdrein. »Also der Monolog«, rief er. Einen Augenblick stand er bewegungslos, stampfte ungeduldig auf und schrie: »So geht’s bestimmt nicht. Ständig krabbelt da jemand im Dunkeln rum. Kannst du deine paar Mannen nicht raussetzen?« – »Mach’s nicht so spannend«, rief der Regisseur ungeduldig.

    Wyndthausen stand in übertriebener Versunkenheit (fand Christine), die Augen geschlossen, eine Hand auf die Hüfte gestemmt. Dann machte er überraschend eine heftige Drehung. Er schleuderte die Arme von sich, als müsse er einen freien Raum um sich schaffen. Jetzt verstand Christine: das war die Einleitung zum Monolog des Triptolemos. In der wildschwingenden Drehung wurde die kommende Szene vorbereitet, der Schrei nach der in die Unterwelt verschleppten Persephone, der Ruf in die echolosen, rauchschwarzen Kessel der Vulkane, die den Eingang zum Hades bilden. Er beugte sich, die Hände trichterförmig an den Mund gelegt, über den Abgrund. Seine Stimme färbte sich (wie Rauchtopas, dachte Christine), wurde dunkler, als er ihren Namen schrie, heisehend, bittend, flehend immer wieder: »Persephone! Perphone!«

    Mitten in der ungeduldigen, ungehemmten Raserei der Rufe brach er ab. Triptolemos, der irdische Gemahl Persephones, der vom Feuer gehärtete, von Nektar und Ambrosia ernährte, verwandelte sich in den Schauspieler Wyndthausen zurück, den berühmten, groben Mimen. Er knipste, von der Kulisse aus, das Licht im Zuschauerraum an. Er sagte wütend und leise: »In diesem Laden scheint’s nicht möglich zu sein, ungestört zu probieren. Wer hockt da noch herum? Was wollen Sie denn hier?« Arno Petersen, der dicke Regisseur, hatte gerade Christine entdeckt. Er lief, die Hände zum Willkomm ausgebreitet, auf sie zu. Er begrüßte sie pathetisch, überschüttete sie mit nichtigen Fragen, billigen Lobsprüchen, gutgemeinten Redensarten. Er hakte sie unter, lief mit ihr die Treppe zur Bühne hinauf und stellte sie vor Wyndthausen hin. »Das ist sie«, rief er mit seinem sächsisch angefärbten Orgelbaß. (Er röhrte, wenn er aufgeregt war, wie ein Elefant und wurde deshalb Mumbo genannt.)

    Wyndthausen reichte ihr die Hand. Er sah die Partnerin mit schiefem Kopf an. Die Prüfung schien »einigermaßen« auszufallen. Er nickte, griff nach ihrer linken Hand, drehte die Handfläche nach oben und studierte aufmerksam die Handlinien. Man hatte Christine genug von den Kapriolen Wyndthausens erzählt. Sie war also nicht überrascht. Die seltsame Begrüßung gefiel ihr sogar. Wie er hin- und herschauend ihr Gesicht, ihre Augen und ihre Handlinien verglich, das fand sie gleichzeitig kurios und anmutig, gleichzeitig frech und scharmant. Er war nur ein wenig größer als sie. Deshalb begegneten sich die Augenpaare, die klematisblauen, leuchtenden Augen Christines und die dunklen, funkelnden Henri Wyndthausens. Christine dachte an ihren Schuldirektor, bei dem sie das Abitur »gebaut« hatte. Sie erinnerte sich, daß er ihr kurz vor der Prüfung riet, den gefürchteten Schulrat Menneke möglichst freundlich anzulächeln. »Durch ein Lächeln kann man nicht hindurchschauen«, hatte der Direktor gesagt. Es war sicher gut, wenn der »seltsame Knabe« Henri Wyndthausen sie nicht durchschauen konnte. Sie lächelte also und sagte freundlich: »Na ... stimmt’s?« Wyndthausen ließ ihre Hände fallen. Er murrte: »Genaueres ein andermal«, und zu Petersen, dem Regisseur, recht von oben herab: »Die Stimme stimmt. Du hast nicht zuviel versprochen, Arno.«

    2

    Es war Abend. Aus der Ecke der Gaststube dampfte es wie aus einem Vulkan der Unterwelt. Die drei Totenrichter saßen dort. Der massige Kumminghaus, der dürre, langnasige Gernke und der ehemalige Bösewicht, Jan Schröder, dessen Bösigkeit längst in die Fettfalten seines Gesichts eingeschmolzen war. Deshalb mußte er, der noch vor wenigen Jahren die Hauptverbrecher in Kriminalfilmen gespielt hatte, jetzt eine drittklassige, eine Fünfzigworte-Rolle, eine Dreißig-Mark-Rolle spielen. Deshalb schielte er, der sonst beim Skat nicht links, nicht rechts schaute, immer wieder auf den Prominententisch, an dem die Götter und Helden, die Herren und Damen der Oberwelt sich versammelt hatten. »Die kommen noch alle zu uns runter«, räsonierte er, »in die Unterwelt mit Zigarre, hellem Bier und Kartenfreuden.« Er hieb dabei den Pik-Buben auf den Tisch und sammelte durch ihn die noch fehlenden »Augen«.

    Am Prominententisch saß Christine mit Mumbo Petersen, dem Regisseur, mit Ellen Heß, seiner kornblonden Frau, der Demeter, mit Bossard, dem schwarzbärtigen Pluto. Neben Pluto Olga Berliner, eine rundliche Fünfzigjährige, die »Dame aus der Unterwelt«, die Souffleuse, die bald zu den Skatspielern hinüberzog.

    Alle aßen Hennekes Beefsteak, die Spezialität des Hauses, die zum Ruhme des Dorfes Riedingen viel beigetragen hatte, ja vielleicht entscheidend für die Wahl des Dorfes als Probenort gewesen war. Es waren handgroße Beefsteaks mit Ananasscheiben belegt, mit krachendkrossen Bratkartoffeln geschmückt. Das Essen beanspruchte alle Seelenkräfte der Esser. Ellen Heß konnte nur die Hälfte bewältigen und legte die andere Hälfte ihrem Mann auf den Teller, was Mumbo mit fröhlichem Dankesgrunzen und freundlichem Gabelwinken quittierte. Zwischen Christine und Ellen hockte der Dichter der Persephone, Fritz Diedrichsen. Er war soeben angekommen, hatte – weil er sich gleich zurückziehen wollte – seinen Regenmantel nicht abgelegt. Den verknüllten Kragen trug er aufgeschlagen. Neben seinem Stuhl stand die große Reisetasche, aus der das Manuskript, das vielfach geänderte, herausragte.

    Diedrichsen war etwa fünfundvierzig, kahlköpfig, mit einem grauen Haarrand um den Schädel, mit kleinen, kurzsichtigen, hellblauen Augen hinter einer randlosen, dicken Brille. Ein gleichzeitig pfiffiges und melancholisches Gesicht mit einer Stubsnase und vollen Lippen.

    Er sprach rasend schnell und sehr leise auf Christine ein. Nichts, kein Komma, kein Ausrufungszeichen würde er mehr ändern! Eher würde er das Stück zurückziehen, als es verstümmeln oder aufschwemmen oder verarmen lassen. Er hatte vier Szenen für den windigen Wyndthausen eingestrichen oder neu geschrieben. Wenn Frau Meßwarb auch noch Änderungswünsche hatte ... bitte ohne ihn. Wenn ihr der Abschied Persephones z. B. nicht passe ... bitte sehr, dann würde sich eine andere Schauspielerin finden, die diese Szene verstand. Das war eben keine pathetisch-banale Liebesgeschichte, sondern ein Sinnbild des Wechsels von Herbst zu Winter, von Frucht zu Frost, von Farbe zu Schwarz. Kein Abschied mit prunkvollen Fanfaren, ein lautloses Verschwinden an irgendeinem Nebeltag. Eine naturgegebene Unterbrechung der Beziehungen zu Triptolemos, dem irdischen Gemahl. Das Vergessen, im Lethefluß errungen, in der Unterwelt gelebt, in der die berechtigte Gefühllosigkeit sich der Herzen bemächtigt. Ja, es gab die berechtigte Gefühllosigkeit und nicht nur die wärmende Liebe!

    Christine winkte Gustav, den Kellner. Sie bestellte zwei Doppelkorn. Sie konnte Erklärungen ihrer Rolle nicht ertragen, ehe sie mit ihr fertig war. Diedrichsen schaute sie wütend an: »Aber ich trinke keinen Schnaps.« »Gut, dann trinke ich beide«, sagte Christine gleichmütig, »Bin abgehärtet. Wir hatten früher auf unserem Gut ’ne Schnapsbrennerei.« Sie prostete ihm zu. Diedrichsen nahm sein Glas, kippte den Korn und sagte mit erstickter Stimme: »Warum sind Sie mir denn böse?« Christine erklärte ihm, daß sie nicht böse war. Sie konnte nur den feierlichen Tiefsinn nicht leiden, der in jedem Gefühl eine doppelte Bedeutung versteckte wie ein buntes Osterei in Krokusblüten. »Entweder Osterei oder Krokus«, sagte sie.

    Der Dichter fuhr fort, atemlos sein Stück, seine Figuren zu erklären. Christine hörte nicht mehr zu. Sie bestellte noch zwei Schnäpse. »Zwo Demeter«, sagte der Kellner Gustav bodenständig. Er kam mit der Flasche, auf deren Etikett Ähren abgebildet waren. »Unser Demeterschnaps«, stand drunter. »Ja, zwo Demeter«, lachte Christine und zu Diedrichsen: »Man kennt hier schon Ihr Stück.«

    Sie sah in die andere Ecke hinüber. Dort saß jetzt Wyndthausen mit Gertrude Schwarz, der Psyche, einer blonden, faden Neunzehnjährigen. Er trug noch seine Proben-Uniform, die flaschengrünen Hosen, den gelben Pullover, das chinesisch-getuschte Halstuch. Er starrte mit seinen nachtschwarzen Augen abwesend über Psyche hinweg, die eifrig auf ihn einwisperte. Er bekam gerade den gleichen Schnaps, hob sein Glas und prostete zu Christine hinüber. Sie prostete mit dem leeren Glas zurück. Er lächelte. Sie stand auf, machte eine kleine, allgemeine Verbeugung, nahm Diedrichsens Manuskript an sich und ging hinaus.

    Sie stand in ihrem Zimmer am Fenster. Der Halbmond ging drüben gerade hinter dem schmächtigen Dorfwäldchen unter. Er rutschte hurtig durch das Geäst hinab. Der milchfarbene Dorfteich glänzte noch einmal auf und verdämmerte. Gleich danach wurde im Zimmer nebenan Licht gemacht. In dem hellen Viereck erschien der Schatten Wyndthausens. Er wirbelte um sich selbst. Er übte also schon wieder seinen Monolog.

    Christine grübelte. Würde sie sich, wie früher immer, an ihre Rolle verlieren? Ihre eigene Existenz einbüßen, die eigene Verantwortung? So wie sie mit 22 Jahren als Penthesilea an den Rand der Raserei getrieben wurde oder ein paar Jahre später als Alkmene in Giraudoux’s Amphitrion 38 in die Stürme einer heiteren Frivolität geraten war. »Gott schütze dich vor dem Gretchen«, hatte ihre Mutter einmal spöttisch gesagt, »sicher bekommst du dann ein uneheliches Kind.«

    Der Schatten Wyndthausens stand jetzt mit erhobenen Armen im hellen Viereck. Er zog sich den Pullover aus und warf ihn hinter sich. Die Ärmel wehten in komischer Flatterbewegung. Christine sagte lustig: »Na ... dann prost.«

    Wyndthausen aber, im Zimmer nebenan, setzte sich an sein Schreibtischchen. Dort lag ein Briefumschlag mit der Adresse Frau Irma Wyndthausen, München. Auf dem Löschblatt, mit der Schrift nach unten, ein angefangener Brief. Er las. Er lächelte. Das war ganz hübsch geschildert. Der behäbige Gasthof. Der gefräßige Mumbo Petersen, im Nebenberuf Regisseur, Ellen Heß, die Demeter, die aus Langeweile welkte. Psyche, der man erst eine Seele einhauchen müßte (aber er sei nicht berufen dazu), Bossard: Geschichtsliebhaber, Schauspieler von vorgestern, dröhnende Stimme aus einem leeren Faß. Ja, und nun ... Er schrieb:

    »Nun also die Persephone, Christine Meßwarb. Noch keine zwei Worte mit ihr gesprochen. Einmal ihr zugeprostet. Sie stimmt mit ihrer Rolle völlig überein. Weißt ja, kann es nicht leiden, wenn jemand in seiner Rolle lebt. Oder aufgeht. Schultze soll Schultze bleiben. Schröder – Schröder. Wyndthausen muß tagsüber ein freundlicher, junger Mann aus Bayern sein, München, Isabellastraße. Ein Nichtsnutz oder Nichts. Christine Meßwarb also: das ist ein Frauenzimmer, lebhaft, recht hübsch. Kraushaare, Schafshaare ... würde ich sagen. Sind aber liebenswürdige Haare. Dunkelblaue Augen. Mag ich gern. Bis auf zuviel Seele drin akzeptiert. Müßte verwegene Hütchen tragen mit Schleier. Möchte wohl wissen, wie so ein Gesicht aussieht, wenn mal die Sonne scheint. Verstehst mich schon (von innen her. Sol – Seele). Kann sie strahlen? Kann sie leuchten? Soweit die Meßwarb. Woll’n morgen früh zusammen probieren. Vermute, es wird teils überraschend gut, teils, wie immer, eine Enttäuschung.«

    Darunter schrieb er noch zwei zärtliche, freche Sätze, zwei liebenswerte Unverschämtheiten. Er malte eine winzige Karikatur von sich dazu. Die Nase vergrößert und angespitzt. Das Haar, das heute linksrübergekämmte, buschig gen Himmel strebend. Er holte aus der Schublade einen kleinen Malkasten. Er tuschte um den Hals der Karrikatur ein flatterndes, grauschwarzes Halstuch, tupfte die Farben sorglich mit einem Löschblatt ab, schob den Brief in den Umschlag und schrieb als Absender: Samuel Grundleder, Lehramtskandidat im Ruhestand, Eisleben am Südpol, Iglu 381. Seit drei Jahren schrieben sie sich Briefe mit unsinnigen Absendern. Manchmal waren in den Namen ganze Geschichten versteckt, Geständnisse, Liebeserklärungen, Fragen. In dem heutigen Lehramtskandidaten außer Dienst war nichts verborgen, außer reinem Unsinn. Wie angenehm, fand er, wenn man nichts zu gestehn und nichts zu verbergen hatte. Oder kaum etwas. Gertrude Schwarz, die Psyche, bedeutete ihm nichts. Na also!

    3

    Die Szene der ersten Begegnung oder vielmehr der Wiederbegegnung zwischen Triptolemos und Persephone war jene Blumenwiese, von der Pluto, der Fürst der Unterwelt, sie einst geraubt hatte, zu der sie auf das Geheiß Jupiters jetzt zurückkam. War sie nun, soeben der Unterwelt entstiegen, bereits von jenem Schattenleben des Hades befreit, hatte sie das inzwischen Erlebte, das in der Unterwelt, in der Dämmerung Erfahrene in dem Augenblick vergessen, in dem die grelle Sonne sie traf? Welch seltsamer Unterschied zwischen der Unterwelt, in der sie mit offenen Augen nur Graues sah und jetzt der Oberwelt, in der sie bei geschlossenen Augen Farben erblickte, ein goldenes Rot oder ein rosa Gold. Es war ihr noch nicht möglich, auf den Anruf des Triptolemos zu antworten, ihres irdischen Gemahls, der sie, zwischen Blumen liegend, anschaute, anlächelte und schließlich anrief: »Persephone ... Persephone!« Wyndthausen lag mit dem Kopf an einem Versatzstück. Obwohl er nichts in der Hand hatte, sah man den eben gepflückten Wiesenstrauß, den Willkommensstrauß, dem er Blüte um Blüte hinzufügte. Persephone! Persephone!

    Unten, in der ersten Reihe, saßen Arno Petersen, der Regisseur, Ellen Heß, seine Frau, die Demeter und Diedrichsen, der Dichter der Persephone. Mumbo Petersen, der Dicke, beugte sich zu Diedrichsen. Er flüsterte: »Na, siehst es nun? Er hat mehr Melodie als deine schönsten Verse.« Das sollte heißen: Diedrichsen sollte es sich gefallen lassen, daß Wyndthausen eine Arie auf den Namen Persephone sang.

    Ein reizvolles Kunststück, fand Christine. Aber paßte dieser Gesang zu der poetischen Auseinandersetzung zwischen dem irdischen, sonnenhaften Mann und dem jedem Wechsel unterworfenen, mondverwandten Wesen der Frau? Oder hatte Wyndthausen recht, daß ein Wiederbegegnen nach so langer Zeit sich dem Wort entzog, daß er sich deshalb in den Klang des geliebten Namens flüchten mußte? Sollte sie auch seinen Namen singen, wie er den ihren sang?

    Sie öffnete die Augen. Sie ließ sich neben dem Mann nieder. Er durfte sie, seiner Rolle gemäß, nicht gleich erkennen, weil die Farbe der Unterwelt noch nicht aus ihrem blassen Gesicht verschwunden war, weil sie dort eine andere Gestalt verkörpert hatte und sich erst wieder in die irdische Person zurückverwandeln mußte.

    Immer wieder der Ruf: »Persephone ... Persephone!« in allen Abstufungen, vom schattenhaften Geflüster bis zum tenoralen, hellen Schrei. Und endlich mündete dieser, allein aus dem Namen bestehende Monolog in die Handlung ein. Triptolemos hatte sie erkannt. Er nahm ihre beiden Hände. Genau wie Wyndthausen gestern bei der Begrüßung ihre Hände genommen und sie nach oben gedreht hatte. So tat er es auch jetzt. Und nun bekam diese Bewegung einen Sinn, der dem Dichter Diedrichsen unten im Parkett nicht eingefallen war und auch jetzt nicht auffiel. An den unveränderlichen Linien der Hand nämlich konnte Triptolemos erkennen, daß es unbezweifelbar die Verschwundene und die Wiedergekehrte, die in ihrem Wesen unveränderte Persephone war, die vor ihm stand, die sich zu ihm beugte, die sich neben ihn legte, die ihren Kopf an seiner Brust bettete. Und nun begann das leichte, leise Gespräch über das Verzeihen. Daß jeder des Verzeihens bedürftig sei, sie, weil sie gegangen war, wenn auch unter dem Zwang des Geschicks. Und er, weil er sie nicht festgehalten, nicht bewahrt hatte vor der Unterwelt.

    Freilich auch er, vom übermächtigen Schicksal, von Ananke bezwungen. »Verzeih mir meinen Tod«, begann Christine. Es war endlich der von Diedrichsen gedichtete Dialog der Wiederbegegnung, des Wiedersehens. Persephone war von neuem auf dieser Erde. Sie fühlte die Wiese unter ihren Sohlen wie damals, ehe der Arm des Pluto sie umfaßte und sie auf den Wagen zog, der in die Unterwelt hineinraste. »Verzeih mir meinen Tod.« Sie sagte es gegen ihren Willen (und von welchem Willen gelenkt?), leise, unbetont, fast gefühllos. Sie griff nach den Blumen, die Triptolemos für sie gepflückt hatte, den Wiesenblumen, die nicht dufteten, aber einen Hauch von Sonne und Erdenluft atmeten. Eine poetische Szene, in der die beiden ein Zwiegespräch, ein ausweichendes Gespräch über die Blumen führten, durch das sie, ohne sich mitzuteilen, ohne über die Vergangenheit zu sprechen, das Vergangene ablegten und langsam, Wort für Wort, einander wieder vertraut wurden.

    Christine hatte diese Szene besonders lange studiert. Sie wollte mit süßen Herztönen etwas über die wieder aufstrahlende, die irdische Liebe und ihr Begehren aussagen. Aber das, was sie studiert hatte, konnte sie jetzt nicht herausbringen. Sie mußte sich seiner Auffassung, seiner Tonart fügen. Das war etwas beinahe Gefühlloses, etwas Trockenes. Eine zu schlichte Aussage, deren Wahrheit den Zuschauer wahrscheinlich nicht ergreifen, nicht anrufen konnte. Sie empfand diese Unterkühlung des Gefühls als falsch. Aber als er – geradezu botanisch – die Blumen aufzählte, Trollblume, Wiesenschaumkraut, Margerite, Glockenblume und Zittergras, blühte erstaunlicherweise die Wiese auf. Nüchtern und dennoch poetisch. Gab’s denn das, poetische Nüchternheit?

    Ihre Kraft ließ plötzlich nach. Wenn sie früher geprobt hatte, konnte sie viele Stunden spielen, abbrechen, weiterspielen, ohne daß es ihr etwas ausmachte. Aber diese Anpassung wider ihren Willen ertrug sie nicht. Sich fügen, dachte sie, ist schrecklich anstrengend. Darüber mußte sie lachen. Mit einer anmutigen Bewegung der flachen Hand durchschnitt sie das Zwiegespräch. Sie ging an die Rampe und knipste das Licht an. Unten hatten sich alle Schauspieler eingefunden. Die Totenrichter hockten mürrisch im Hintergrund, Gertrude Schwarz, die Psyche Hand in Hand mit Neander, dem Darsteller des Eros. Bossard, der Pluto, seinen historischen Roman unter den Arm geklemmt. Dicht vor Christine saß Olga Berliner, die Souffleuse, in der blechernen Halbkugel ihrer Unterwelt. Sie alle sahen neugierig auf die Bühne oder auf Mumbo Petersen, den Regisseur. Was würde er sagen? Das war eine unverständliche und doch anziehende Szene gewesen, eine Meßwarb, die man anders erwartet hatte, ein Wyndthausen, der sich viel mehr einsetzte als gestern bei seiner Szene mit Psyche.

    Mumbo Petersen, der mit keinem Wort in die Probe eingegriffen hatte – es war sein Talent, die Schauspieler erst mal laufen zu lassen, ein Talent, das, wie sein ganzes Wesen in seiner Faulheit begründet war – Mumbo Petersen stand endlich auf. »Wollen wir weitermachen?« fragte er zu Christine hinauf. Sie zuckte die Achseln. Wyndthausen legte seinen Arm um ihre Schultern. Er sagte gönnerhaft: »Wir werden uns aneinander gewöhnen.« Das war sicherlich ein Lob. Aber sie freute sich nicht darüber. Aneinander gewöhnen? Sie hatte sich ihm angepaßt. Nichts weiter. Sie sagte: »Das war ich gar nicht.« Er antwortete: »Nein? Schade.«

    »Es war schon ganz gut«, stellte Petersen fest. Wyndthausen verbeugte sich spöttisch: »Großen Dank. Wir sind uns leider nicht einig. Hat sie nun

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