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Alle Straßen führen nach Haus
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eBook240 Seiten3 Stunden

Alle Straßen führen nach Haus

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Über dieses E-Book

"Niemand von uns ist ohne Wunde, niemand ohne Narbe, niemand ganz gerade, niemand ohne Angst und Furcht und schlimme Erinnerungen." Das ist die Erkenntnis, die fast alle Menschen nach dem Ersten Weltkrieg prägt, so auch Gesine Otten, die damals ganz alleine an der Spitze des Gutes Grünwalde steht. Zu dieser Zeit ist es daher auch nicht ungewöhnlich, dass Landstreicher an Haustüren klopfen und um Hilfe bitten. So geschieht es eines Tages auch in Grünwalde, nur dass es sich bei den beiden Männern um Barone aus dem Baltikum handelt, die am Ende der Kämpfe gegen die roten Garden ihre Heimat verlassen mussten. Der jüngere von ihnen, Baron Brincken, ist von der Tuberkulose gezeichnet und so beginnt auf Grünwalde der Kampf um sein Überleben. Für Gesine ist dies eine weitere Aufgabe, die sie meistern muss, aber die Ereignisse der Folgezeit bringen auch Leben in das graue Dasein in Grünwalde. Bis zu dem Tag, an dem die Männer wieder aufbrechen müssen.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum1. Jan. 2017
ISBN9788711474488
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    Buchvorschau

    Alle Straßen führen nach Haus - Walther von Hollander

    www.egmont.com.

    1

    In die Seen des pommerschen Landrückens fielen gegen Abend die Taucherenten auf ihrem Frühlingsflug ein und lärmten bis in die Dunkelheit auf der Suche nach den alten Nestern. Die Wälder standen fast bewegungslos, unter dem blanken Sternenhimmel des April, kahl, kühl, mit Schneeflecken auf der Nordseite und den ersten Waldblumen an den Südrändern. Mit undurchdringlichen Tannendichtungen und lichten Kiefern über Heideboden.

    Gegen zwei Uhr drehte der kalte Nordwestwind nach Westen ab. Wolken kamen von der See her. Der Regen begann in den Bäumen zu knistern, rann an den Stämmen herab und tropfte schließlich auf die beiden Schläfer im Dickicht.

    Der Jüngere rückte vorsichtig von seinem Kameraden ab, wischte mit der Hand über das nasse Gesicht und versuchte den Husten zu unterdrücken, der immer quälender, stechender in der Brust rumorte. Er lag, die Augen offen, den Mund zugekniffen. Das Herz klopfte laut: Fieber. Ekelhaft.

    „Huste nur los, mein Junge, sagte der Ältere aus dem Dunkeln, „die Vögel wachen nicht auf.

    Der Jüngere richtete sich vorsichtig auf, lehnte den Kopf zurück und begann bellend zu husten.

    „Greulich, stöhnte er, „eine richtige Gemeinheit, und nach einer Weile, wieder in seinem etwas aufgeregten baltischen Dialekt: „Wirklich abscheulich."

    Der Ältere kroch unter der Zeltbahn hervor, deckte den Kameraden zu und fing an Feuer zu machen. Er begleitete seine Handgriffe, nach der Art aller Einsamen, Junggesellen, Landsknechte, mit kleinen knurrenden Anmerkungen, gleichfalls in baltischem Dialekt. „Konnten den Regen noch entbehren, sagte er, und „gut, daß ich ein bißchen Holz trocken gelegt hatte und „Wasser haben wir ja schon. Na dann gibt’s gleich Tee."

    Das Feuer schwelte zuerst, flammte dann prasselnd auf und beleuchtete die Gesichter der beiden Wanderburschen. Der Jüngere hielt die Augen geschlossen. Das blasse lange Gesicht unter der hellen Baskenmütze war naß von Regen und kaltem Schweiß. Auf den vorstehenden Backenknochen brannten zwei Fieberflecken. Der Ältere, ein sehr langer und dürrer Mensch, sah scheinbar gespannt in die Flammen. Sein Gesicht, durch einen ungepflegten Ziegenbart ins Lächerliche oder Unheimliche verlängert, mit kleinen Augen, die rot gerändert und wimpernlos waren, hatte den Ausdruck eines aufmerksamen, sprungbereiten Tieres.

    Er war dabei, alle Schwierigkeiten zu durchdenken, die sich aus der Krankheit des Kameraden ergaben. Man war schließlich nicht beinahe zwanzig Jahre in der Welt herumgeschmissen, man hatte sich nicht fast ein Menschenalter mit Feinden aller Art, mit Not jeder Größe herumgebalgt, um hundertfünfzig Kilometer vor einem Ziel — jawohl einem Ziel! — in einem hinterpommerschen Dickicht den Freund zu verlieren. Unsinn.

    Aber man hatte auch zu viel durchgemacht, um sich noch was vorzumachen. Der Junge war krank. Schwerkrank, Die Lunge, schon immer schwach, hatte jetzt etwas weg. Man mußte vorsichtig sein. Man mußte ein paar Tage Ruhe haben, Wärme, gutes Essen. Man mußte das haben. Also kriegte man es.

    Das Wasser im Kochgeschirr brodelte. Der Ziegenbärtige warf eine ganze Handvoll Tee hinein, den letzten, aber das half nichts, man mußte sich stärken. „Trink, Roland", sagte er und hielt dem Kranken den heißen Becher an die Lippen.

    Der Junge griff gierig nach dem Getränk. „Angenehm, flüsterte er zwischen den Schlucken, „kochst großartigen Tee, Tungo.

    „Die Meisen zwitschern schon, antwortete der Ältere, „es ist halb vier. Wenn der Pott leer ist, wird es hell. Dann gehn wir los.

    „Gut", bellte der Jüngere, „mir ist wieder ganz leidlich. Meine zwanzig bis dreißig Werst mache ich auch heute.

    „Und wenn du zehn machst, murrte der Ziegenbart, „wir haben Zeit. Er entfaltete eine Karte, steckte eine Nadel in den Wald, in dem sie saßen, maß mit einem Faden zehn Kilometer ab und schlug einen Halbkreis nach der See zu.

    „Keine große Auswahl, berichtete er, „bei sieben nordwestlich Dorf Wangerin, bei neun westlich Domäne Groß-Schörnitz, bei elf nördlich Vorwerk Brandhoff und bei ungefähr fünfzehn Gut Grünwalde. Kannst dir aussuchen.

    Der Kranke lächelte. „Ich werde mir’s aussuchen. Die sind schon alle ganz wild auf uns. Der Pächter von Rochitz, gestern, hat das sehr hübsch ausgedrückt: ‚Zwanzig junge Leute pro Tag, sechshundert im Monat, ein kriegsstarkes Bataillon Lungerer und Bettler ... Ich kann nicht, meine Herren.‘ Großartig, was? Lungerer und Bettler, meine Herren. Ein Ausgleich. Man kann sich wählen, was man ist."

    „Wir können auch noch mal schlafen", schloß der Lange, schichtete ein halbes Dutzend ordentliche Knüppel über das Feuer, bettete den andern mit dem Gesicht gegen die Flammen und legte sich hinter ihn. Zwischen Holzwärme und Menschenwärme gebettet schlief der Junge sofort ein. Der Wind ließ etwas nach, der Regen verstärkte sich. In einem sanften, gleichmäßigen Rauschen ging er über den Wald, die Seen, die Felder, die Gehöfte und Dörfer, die langsam vom grauen Tag überhellt wurden.

    2

    Am Nachmittag dieses Tages um Punkt vier wurde das alte Fräulein Monica Otten vom Diener Kornmann in das Teezimmer von Gut Grünwalde geführt und in den großen Wartestuhl am Fenster gesetzt. Zum Ausschaun, wie sie sagte. Denn sie gab es den Menschen gegenüber nie ganz zu, daß sie eigentlich blind war oder doch nur noch hell und dunkel unterscheiden konnte. Sie mußte diesmal ziemlich lange auf die Nichte und Herrin Gesine warten. Aber das machte nichts. Durchs Fenster kam der angenehme Duft der beregneten Riesentannen, untermischt mit ein wenig Geruch von Kuhdung, der auf die Felder gefahren wurde. Eine Amsel saß auf dem Wipfel der rechten Tanne und flötete den Frühlingsregen ein, und der Regen selbst klickerte in den Dachrinnen, zischte zart gegen die Fenster ... Ein angenehmes Frühjahrskonzert.

    Gegen fünf Uhr hörte das alte Fräulein die Reitstiefel Gesines über den Hof klappern. Sie stand auf und winkte lächelnd hinaus ... ins Leere, denn Gesine Otten war die Anfahrt und die kleine Treppe im Galopp hinaufgesprungen und trat schon ins Zimmer, ehe die Alte sich umdrehn konnte.

    „Nanu, lachte sie, „wem winkst du denn? Gäste? Oder kommt sonst jemand?

    Die Alte ging kopfschüttelnd mit ein paar sicheren Schritten zum Teetisch, setzte sich, tastete nach der Teekanne unter dem Wärmer, nach den Tassen, schenkte ein.

    „Hunger, sagte Gesine, „guter Regen, Ärger. Das war ihr Telegrammstil, den sie der Tante gegenüber meist einhielt, weil sie fand, daß sie mit ihren Leuten genug in ausführlichen Sätzen und ständigen Wiederholungen reden mußte.

    „Du siehst famos aus, versuchte Fräulein Otten ein Gespräch, „ausgezeichnet. Dein Kopfschmerz ist also wohl vorbei? Sehr schön. Und diese Farben! Na ja, der Aprilregen macht junge Frauen immer schön.

    „Bis auf die rote Nase, sagte Gesine, „nein, ich will dich gar nicht aufklären, Tante Monica. Sei froh, daß du mich nicht mehr sehn kannst. So behält mich wenigstens ein Mensch als junge hübsche Frau im Gedächtnis. In Wirklichkeit ... ach du lieber Gott: Die Schläfen sind schon hellgrau, der Mund vor Sorgen zusammengezogen, am Hals, denke dir, Fettansätze und zwei Faltenringe. Kummerrillen um die Augen, kurzum ein altes Weib von fünfunddreißig Jahren. Punkt.

    Sie trank schnell, aß hastig und tastete, den letzten Bissen im Mund, nach dem Zigarettenetui. Tante Monica hatte schon die Streichholzschachtel in der Hand und schüttelte sie. „Also was für einen Ärger hattest du", sagte sie.

    „Ärger? Gesine konnte sich schon gar nicht mehr darauf besinnen. „Ärger? Ach so. Lohnt gar nicht, drüber zu reden. Kohlisch hat Pech mit dem Traktor. Steht seit Mittag am langen Hang, bosselt und kriegt natürlich nichts zustande. Hast du schon je erlebt, daß ein Motor anspringt, wenn er erst mal nicht mehr anspringt? Soll doch endlich nach einem Monteur telefonieren, wenn er es nicht kann. Wir haben jetzt keine Zeit, zu warten, bis Herr Kohlisch den Fehler rauskriegt.

    In diesem Augenblick fuhr der Monteur mit dem Traktor, einen Gerätewagen hinter sich, mit großem Radau in den Hof. Gesine Otten trat ans Fenster. „Da ist er ja, sagte Tante Monica, „also aller Ärger umsonst.

    „Ja, antwortete Gesine und sah weiter gespannt hinaus, „umsonst. Allerdings ist da noch ...

    Die Tür klappte und schnitt die letzten Worte ab. Monica Otten tastete sich zum Fenster und sah mit ihren blinden Augen kopfschüttelnd hinaus, dann klingelte sie nach Kornmann, dem Diener.

    „Kommen Sie her, Kornmann, sagte sie, „meine Augen werden doch schwach. Ich kann das nicht genau erkennen, am Traktor.

    „Da steigen, sagte Kornmann höflich und böse, „zwei Kerle aus dem Anhängewagen, groß und dürr der eine, mit einem Ziegenbart und zwei Höckern, das sind zwei Tornister ... und dann hebt er einen Kleineren heraus. Aber der ist auch noch dürr und lang genug. Schleppt ihn ein paar Schritt. Landstreicher sind es. Lumpen, Hungerbolde, Betrüger.

    Kornmann schrie es immer wütender. Sein Sohn war nämlich auf der Landstraße verschollen. „Ruhig, Kornmann, sagte Monica, „und was weiter?

    „Nichts, schloß der Diener, „Kohlisch kommt bekniffen angeschlichen, in der Hand zwei Stücke Papier, und die streckt er der gnädigen Frau hin.

    „Sollen gewiß Postkarten kaufen", sagte Monica Otten.

    „Sieht eher aus wie Visitenkarten", antwortete Kornmann, der immer in feinen Häusern gedient hatte.

    Es waren wirklich Visitenkarten, die Kohlisch, der Monteur, seiner Herrin in die Hand drückte.

    „Was ist denn hier los? sagte Gesine Otten und hielt die Karten in der Hand, ohne sie anzusehen. „Was machen Sie für Geschichten, Kohlisch? Habe ich nicht hundertmal angeordnet: ein halbes Brot pro Landstreicher, wenn sie es brauchen, und heidi weiter? Habt Ihr nicht genug von dem angekokelten Schuppen in Brandhoff? Ich wünsche ...

    Kohlisch, der Berliner, schlug endlich die pfiffigen Augen auf und sah die Herrin aufmerksam an. Er wußte, man mußte sie ausreden lassen. Nachher konnte man sagen, was man wollte.

    „Also reden Sie schon", seufzte Gesine. Kohlisch zeigte auf die Visitenkarten. Erst mal sollte die Herrin wissen, was er da mitgebracht hatte. Frau Otten las die beiden handgeschriebenen Visitenkarten: Roland Baron Brincken, in eleganter, noch etwas kindlicher Schrift, und Woldemar v. Tungern, Erbherr auf Domingen, Kurland, eng, zierlich, gescheit geschrieben.

    „Aha, sagte Gesine, „Sie glauben natürlich, es ist mir eine ganz besondere Freude und Ehre, wenn Sie mir ein paar adlige Herren von der Landstraße ins Haus holen. Vielen Dank.

    „Wie ich da so an meinem Motor herumpussele und es geht nicht, kommen die beiden Arm in Arm aus dem Gebüsch", setzte Kohlisch ausführlich an. Aber er kam nicht weiter. Denn jetzt hatte Tungern den Kranken aufs Hofpflaster gelegt und ging auf die Herrin von Grünwalde zu, die ein paar Schritt gemacht hatte und unschlüssig stehngeblieben war.

    „Tungern, sagte der Ziegenbärtige und blieb drei Schritt vor Gesine stehn, „mein Freund Brincken hat Ihren Traktor in Ordnung gebracht. Es hat übrigens nicht viel Mühe gemacht. Er hat es im Gefühl, wo es dem Motor fehlt.

    Gesine hörte nicht zu. Sie musterte den langen dürren Mann, seinen verschossenen dunkelbraunen Rock, die hellgraue Strickweste, die Hose aus bestem englischen Homespun, englische Schnürstiefel bis an die Knie, das war alles von Nächten in Heuschobern, Scheunen, Böden, Wäldern, von Sonne und Regen gebleicht und abgenutzt. Trotzdem blieb der Mann elegant, ein Herr.

    Tungern sagte auch nichts mehr, sondern sah die Gutsbesitzerin eindringlich mit seinen wimpernlosen Luchsaugen an. Gesine Otten strich sich das Haar ein wenig aus der Stirn, wie immer, wenn sie scharf nachdachte. „Wieviel wünschen Sie für die Arbeit?" fragte sie.

    „Ein warmes Zimmer, sagte Tungern, „ein Bett oder, wenn Sie haben, zwei ... aber eins genügt auch. Der da hinten ist schwer krank.

    Die Gutsbesitzerin steckte die Hände in die Hosentaschen und sah angestrengt auf den Boden. Da lag nun wieder Kuhdung überall verstreut. Seit Mittag war man mit dem Fahren fertig. Die Mägde hätten also längst wenigstens das Stück vor dem Herrenhaus fegen können.

    „Wir können Ihren Freund nicht liegen lassen, sagte sie zögernd, „kommen Sie.

    Der Kranke richtete sich mühsam auf die Ellenbogen auf. Er war mit seiner Kraft am Ende. „Brincken, bellte er. „Entschuldigen Sie bitte.

    Er sah die fremde Dame etwas mißtrauisch an. Kohlisch, der Traktorführer, hatte unterwegs fortwährend von ihr erzählt. Sie sei ein Prachtweib. Streng und gerecht wie ein Mann und trotzdem hübsch wie eine Frau. Brincken fand, daß sie wirklich hübsch war. Aber was ging ihn das an. Er wollte ein Zimmer. Er hatte Angst vor einer neuen Nacht in den naßkalten Wäldern, vor vergeblichen Bittgängen bei mißtrauischen Bauern. Vor dem Marschieren an Tungerns Arm, während die Chaussee sich zu drehen begann und die Bäume hinstürzten, Angst vor dem tückischen Staubwind, Regenwind des pommerschen Höhenrückens.

    „Sie kriegen natürlich ein Zimmer, sagte Gesine Otten, „Sie können beim Inspektor Schönemann wohnen, aber auch das Zimmer des alten Stallschweizers ist frei. Über dem Kuhstall ... hier gleich ...

    „Ja, hier gleich ..." seufzte Brincken erleichtert, stand auf und ging schwankend auf den Stall zu. Kohlisch, der herangekommen war, stützte ihn.

    Am Stalleingang mußte er sich wieder setzen. Tungern raffte die beiden Tornister auf und ging hinterher ... wie Kornmann ihn der Tante Monica beschrieben hatte: ziegenbärtig mit zwei Höckern, dürr, mit der leichten Beugung in Knie und Nacken, die alle zu großen Menschen haben.

    Gesine Otten aber bestieg ihr Pferd, den Falben Prinz, den Kornmann schon eine ganze Zeit gesattelt am Herrenhaus auf und ab führte. Sie jagte ihren Kummerweg, den Heideweg über den langen Berg nach Brandhoff hinüber, eine schwarze Baskenmütze schräg auf dem Hinterkopf, eine Windjacke über der roten Polobluse. Sie war unzufrieden mit sich. Mitleid? Na schön. Ganz konnte man das nicht unterdrücken. Aber Mitleid mit Männern war eine verdammt verdächtige und zweischneidige Sache. Hatte sie das nicht gründlich erfahren? Weiß der Himmel, sie hatte es erfahren und sie erfuhr es noch. Nun konnte man natürlich zugeben, daß dieser Kranke rührend, sauber und kindlich einfach war im Gegensatz zu ... Nun, zu gewissen schwierigen Herren, die einmal eine sehr große Rolle gespielt hatten. Die das Leben vergiftet und überwuchert hatten, die man nicht herausjäten konnte aus dem Blut.

    Mal ganz ruhig gesprochen: Weshalb hielt sie noch immer zu Schneiwind? Bitte? Das war doch zu einem großen Teil Mitleid. Und was hatte sie von ihrem Mitleid gehabt? Sie war betrogen und ausgenützt. Schützte sie das nun vor neuem Mitleid? Keineswegs. Was für eine lächerliche, überflüssige Einrichtung war doch die Erfahrung.

    Der Regen wurde dichter, die Wälder hingen voll nebliger Nässe. Der Sand unter den Pferdehufen pappte schon. Die Äcker dufteten, und die grauen Wiesen bekamen einen leisen grünen Schimmer.

    Gesine ritt nicht nach Brandhoff hinunter, sondern bog am hellgrauen Ellernsee ab und ritt langsam nach Grünwalde zurück. Die Taucherenten lärmten vergnügt im Wasser, drei Rehe wechselten über den Weg. Ein paar Dorfkinder, die aus der Schule kamen, stellten sich an den Waldrand und grüßten mit hellen flachen Stimmen. Als Gesine zurück war, dämmerte es schon.

    Sie holte ein paar Apfelsinen aus der Küche, Handtücher, Bettwäsche, eine Schachtel Zigaretten, ging zum Stall hinüber. Sie stieg die steile Treppe hinauf, stand im Halbdunkel über den Kühen, die schweigend ihr Heu mahlten, klopfte.

    Keine Antwort. Sie klopfte noch einmal. Im Zimmer fing einer an zu singen, mit rauher Stimme, viel zu tief, ein paar Worte nur. Gesine trat ein.

    Im riesigen Kachelofen, der mit dem hineingebauten Schornstein zusammen das halbe Zimmer einnahm, prasselten die Birkenkloben. Die Winterluft taute. Schmetterlinge, Pfauenaugen und Trauermäntel waren aufgewacht und schwirrten rasselnd am Fenster. Der Kranke lag bewegungslos, mit offenen Augen in seinem Bett. Jetzt fing er wieder an zu singen. Wirr, in einzelnen langgezogenen Tönen, mit gesprochenen Worten dazwischen:

    Es war einmal ein Kriegskamerad,

    Zog mit dem Kam’raden von Stadt zu Stadt.

    „Ich habe hier ein paar Apfelsinen", versuchte Gesine schüchtern. Brincken antwortete nicht. Er drehte sich vorsichtig um und sah die Frau mit ausdruckslosen Augen an.

    „Nabend, sagte er. „Sie wünschen bitte?

    „Ein paar Apfelsinen ... wiederholte Gesine Otten. „Bitte schön, die werden Ihnen gut tun.

    Brincken schüttelte den Kopf, streckte die Hand nach der Frau aus. „Kommen Sie mal her, sagte er. „Kommen Sie mal her ...

    Die Frau trat ans Bett. Der Mann packte sie blitzschnell mit beiden Armen, zog sie an sich heran und preßte sein Gesicht an ihre Brust. „Jawohl, sagte er, und zum erstenmal hörte Gesine seine Stimme so klar und hoch, wie sie eigentlich war. „Jawohl. Wunderbar sind Sie. Wunderbar.

    Damit ließ er sie los, legte sich seufzend wie nach einer schweren Arbeit in die Kissen zurück und sang weiter:

    Er sprach zu ihm: die Städte sind gesund,

    Nur wir, Kam’rad, wir kamen auf den Hund.

    Gesine stand am Fenster. Man sah durch die kleine Scheibe schräg hinüber ins Herrenhaus. Man sah Kornmann im Speisezimmer den Abendbrottisch decken, man sah Tante Monica sich über den Hof tasten. Die Stare lärmten in Scharen auf den beiden Tannen, unruhiges Abendgezirp. Ein Wagen rollte in den Hof, ein Scheck und ein Schimmel davor, ein lustiges Gespann, aber ein wenig lustiger Lenker, Herr von Peipper, Pächter der Domäne Groß-Schörnitz, ein hervorragender Landwirt, leider verliebt.

    Gesine wandte sich zu Brincken um. Aus den Kissen kam nur ein kleiner Schopf hellblonder Wolle, Locken, ein wenig strähnig und vom Wetter angegilbt.

    „Kann ich etwas für Sie tun, Herr von Brincken?" sagte Gesine. Brincken antwortete

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