Kojas Waldläuferzeit
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Kojas Waldläuferzeit - Alois Theodor Sonnleitner
hinein.
Koja und Agi
In der Kleinen halbkreisförmigen Donaubucht, die oberhalb des Pöchlarner Römerturms ins Ufer greift, sass der neunjährige Kajetan Lorent in einer Zille,a) deren Kette festgebunden war am Uferpfahl. Er wartete auf seine Schwester Agathe, die aus der Strickschule kommen sollte.
Spielend trieb er das Boot mit leichten Ruderschlägen hin und her, soweit es die gespannte Kette zuliess. Seine blauen Augen glitten über das schwere lehmgelbe Stromwasser westwärts gegen Marbach zu, über dem von hoch oben die Wallfahrtskirche Maria-Taferl niedergrüsste. Der frische Märzwind fegte ihm das flachsfarbene Haar ins Gesicht; aber der kleine Kajetan merkte es nicht. Zeitfern träumte er von den Nibelungen, die auf der Fahrt ins Hunnenland nach der Meinung seines alten Oberlehrers Schönberger wohl in dieser Bucht angelegt hatten. — Hier mochte Rüdiger sie begrüsst haben. Der Knabe stellte sich die Nibelungen in Rüstung und Lederkoller vor, ihre Schiffe mit Eichenlaub umkränzt. Dann wieder erinnerte er sich, dass der Oberlehrer bald in den Ruhestand gehen wollte und erging sich in Mutmassungen, ob der Unterlehrer Pointner die Oberklasse übernehmen werde oder ein Fremder. Ein heller Ruf, der von der Höhe der Strasse kam, weckte ihn aus seinem Sinnen: „Koja! Kooja! — Da sprang er auf, fuhr mit den Armen in die Riemenschleifen seines kalbsfellenen Schulranzens, raffte den Geigenkasten vom Boden der Zille auf und sprang die Böschung hinan. — „Grüss dich Gott, Agi! —
b) — „Grüss dich Gott, Koja! — Und nun stapften sie Hand in Hand die Strasse stromaufwärts, der sinkenden Sonne nach. Vertrauensvoll begann der Bub von den Ereignissen seines Schultages zu berichten. Er war schon zufrieden, wenn ein Aufleuchten in Agis grauen Augen ihm verriet, dass sie ihm zuhörte, oder wenn der wechselnde Ausdruck ihres von dunkelblondem, glatt gescheitelten Haar umrahmten Gesichtes ihre Teilnahme zeigte. — Mit ihren schmalen, fest aufeinandergepressten Lippen und dem versonnenen Ausdruck ihres blassen Gesichtes war Agi kein Kind mehr, obwohl sie nur um zwei Jahre älter war als Koja. Der Bub erzählte nicht ungeschickt die äusseren und inneren Erlebnisse seines Tages, fast Stunde für Stunde. Als sie durch das Dorf Brunn auf den Weg gelangt waren, der querfelds nach der Neuda führt, war er gerade bei der Schönschreibstunde angelangt: „... Der Oberlehrer sitzt beim Tisch und schreibt aus der Partiturc) der neuen Schubert-Messe die Stimmen heraus, seine Gansfeder scharezt, und sonst ist es still. Der Busch-Edi geht von Bank zu Bank, malt da einem ein schönes B vor, dort einem ein K und passt auf, dass sich keiner rührt. — Ich schreib und schreib. Die Sattler-Roserl, die erst seit heuer in der Bubenklass’ ist, weil’s in der Klosterschul’ keine Ruh’ geben hat, sitzt vor mir und wetzt herum, wie wann’s d’Ameisen hecken täten; der dicke braune Zopf hängt ihr über die weisse Bluse. Auf einmal gibt’s dem Zopf einen Schupfer, da liegt er auf mein’ Heft. Sie dreht den Kopf hin und her, der Zopf verwischt mein Geschriebenes, als ob eins mit einem Besen drüber gefahren wär! I mucks’ mi nit. Aber den Zopf steck’ ich ihr in mein Tintenglasel bis zu der roten Maschen. Dann schieb ich’s Pult ’nauf und zwick’ den Zopf ein. Wie sie das g’spürt, macht sie mit dem Kopf einen Ruck nach vorn, und vom Zopfend’ rinnt ihr die Tinten über die weisse Jacken. Sie fasst mit der Hand den Zopf, die Tinten rieselt ihr in den Ärmel, da spreizt sie die schwarzen Finger weit auseinand und fahrt auf: ‚Bitt’! der Koja!‘ — Die ganze Klass’ lacht wie nit g’scheit; der Oberlehrer schiebt seine Brillen auf die Stirn, mit einem Satz ist er vom Katheder herunten und steht vor uns. Sein G’sicht wird rot, aber reden kann er nit. — Auf einmal packt er mi bei den Schultern, hebt mich aus der Bank und tragt mi bis in’ hintersten Winkel auf der linken Seit’, wo die alten verschnitzelten Bänk’ stehn. Dort setzt er mi nieder: ‚Da bleibst jetzt sitzen in der Eselbank — du — du!‘
— Mit angehaltenem Atem hat Agi zugehört. — Jetzt vertritt sie ihrem Bruder den Weg, dass er stehend hören muss: „Koja, ich bitt’ dich, erzähl’ der Mutter heute nix von dem. — Der Roserl bring ich meine neue weisse Bluse und mit dem Oberlehrer red’ ich gleich vor’m Hochamt morgen, dass er dem Vater nix sagt. Koja hatte Angst vor der unmenschlichen Art, in der ihn der Vater schon für harmlosere Streiche mit dem Leibriemen zu züchtigen pflegte, wenn er auch nur ein wenig übers Mass getrunken hatte. Meist glückte es dem Buben nicht, sich durch Ausreden oder Entstellungen der Tatsachen vor den väterlichen Hieben zu retten; und manchmal trugen ihm die Lügen, wenn der Vater nachträglich hinter den wahren Sachverhalt kam, eine neue Tracht Prügel ein. — Da war es wohl echte Dankbarkeit, in der Koja seine Augen zur Schwester emporhob, die in ihrer Vorsorge weiter auf ihn einsprach: „Ich will nicht haben, dass du vor dem Vater wimmerst und lügst und um Gnad’ bettelst, ich will nicht haben, dass die Mutter auch noch um dich Kummer hat. — Du weisst nit, was sie grad jetzt wieder druckt ... Du weisst nit, warum die Mutter bei Tag mit verweinten Augen herumgeht, du weisst nit, warum sie in der Nacht seufzt und bet’t, weil s’ nit schlafen kann.
— „Du aber weisst es, Agi, und sagst mir nix? erwidert der Junge betroffen. — „Das wär’ nix für dich; frag mi nit!
versetzte das Mädel; ihre Lippen schlossen sich fest und schmal.
Die Sonne ist hinter der Gollinger Höhe hinabgesunken. Die Kinder nähern sich durchs Wiesenland dem Erlafsteg. Schweigend geht nun Koja an der Hand Agis dahin. Er hat noch etwas zu beichten, aber er traut sich damit nicht heraus. Wie Tropfen blassen Goldes leuchten die geschlossenen Blüten der schaftlosen Primeln aus dem dämmerdunklen Grase, zwischen dem als lichtloses Band der Pfad in sanfter Krümmung zur Uferböschung ansteigt.
Die beiden gehen einzeln über den schmalen, schwingenden Brettersteg, an dessen keilförmig gegen die Strömung gerichteten Pfeilern die Scheiter des Schwemmholzes anprallen, eh’ sie, einander drängend und schiebend, sich vom schweren Wasser des geschwellten Flusses weitertragen lassen, hinunter zum Rechensteg. Agi ist längst am anderen Ufer angelangt. Koja aber steht noch inmitten des Steges; ans Geländer geklammert, schaut er der Strömung nach. — Er weiss, wo die Hölzer herkommen. Von den Hängen der Bergwälder an der Lassing und Erlaf. In der Klausen wird das Schmelzwasser der Firnfelder gestaut, ehe die Holzknechte die Hölzer zu Tal bringen. Koja vergisst Agis Sorge und der Mutter verweintes Gesicht, er stellt sich vor, wie ungeheuer wuchtig das Wildwasser mit den springenden, drängenden, splitternden Scheitern dahintost, wenn die Schleusen der Klausen geöffnet werden. Dort möcht’ er jetzt sein, dort wo die Tormäuer - Schlucht den Fuss des sagenhaften Ötschers säumt, des „Hetscherlbergs, wo das Geldloch ist, die Taubenhöhle, die Eis- und Tropfsteingrotten, von denen der Lehrer Eggenberger in der Gaminger Schul’ erzählt hat, dort ... — „Koja! so komm’ doch,
hallt es angstvoll herüber, das Rauschen des Wassers und Poltern des Schwemmholzes übertönend.
Da reisst sich der Träumer los vom Schauspiel der gischtenden und tragenden Wogen und eilt zur Schwester hinüber.
Fest umklammert Agis magere Hand seine Linke. Sie zieht ihn vorwärts durch die Dämmerung der Au auf frühlingsfeuchtem, tief ausgefahrenem Wege, an Pfützen vorbei, die kaum wahrnehmbar glänzen. Wie aus weiter Ferne blinzeln zwei gelbe Lichter durch den dünnen Nebelschleier, der zwischen den hageren Stämmen der Silberpappeln und Weiden steht. Zeitweise verschwinden die Lichter hinter den Bäumen, dann werden sie grösser und grösser, es sind die Fenster der Wohnstube in der Neudamühle. Von dort her schallt wie hastiges Atmen das rasche Auf und Ab der Brettersäge. Das gleichmässige Rauschen des Wassers ist begleitet vom Schlagen der Zapfen und Radschaufeln der Mahlmühle. Koja und Agi sind daheim. — Im dunklen Hausflur entledigen sie sich der feuchten Schuhe und vertauschen sie mit den bereitstehenden Filzschuhen. Dann erst betreten sie die Wohnstube, deren frisch gescheuerte Dielen mit rotgesäumten Läufern aus Sackleinwand belegt sind.
Mit Kuss und Handkuss begrüssen sie die Mutter, die im Lichtkreis der Lampe eine Anzahl Rechnungen und gerichtlicher Einläufe vor sich auf der Tischplatte ausgebreitet hat. — Die stattliche Müllerin, deren nussbraunes Haar an den Schläfen von Silberfäden durchzogen ist, beantwortet Agis angstvoll fragenden Blick mit einem stummen Kopfnicken, sie zeigt auf einen mit Zahlen beschriebenen Bogen. „Wirst mir nachrechnen, gelt, wenn ihr Kaffee getrunken habt; ich muss in die Küche. Agi holt aus dem Rohr des Kachelofens die warmgestellte Jause für sich und Koja; sie schneidet Brot vor. Kaum haben die Kinder ihren Milchkaffee ausgelöffelt, nimmt Agi die gerichtlichen Zuschriften her und vertieft sich in das Lesen der langen, schwer verständlichen Sätze; sie starrt auf den blassen Abklatsch einer vielleicht leserlich gewesenen Kanzleischrift; sie will und muss verstehen, wovon die Klage handelt, um welche Summen es sich dreht, wann die Tagsatzung ist. — Koja, der mit seinem Aufgabenheft der Schwester gegenüber Platz genommen hat, schaut unverwandt unterm Lampenschirm zu ihr hinüber. Das Gesicht der Schwester erscheint ihm mägerer und älter als sonst, der Ausdruck ihrer Augen ist härter, die zusammengekniffenen Lippen sind dünner, ihr Nasenrücken wird weiss; was sie nur hat? Mutter und Agi wissen alles und er ist der „dumme Bub
. Trotzig stosst er die Feder ins Tintenfass und beginnt zu schreiben. Im Ofen knistern und knacken die buchenen Scheiter, im Bratrohre singeln eingelegte Äpfel und entsenden einen herbsüssen Duft. Vom Brunnen her schallt das Rasseln der blechernen Milchkannen, die von der Magd gescheuert werden; fast im gleichen Takt mit dem Ticken der Standuhr tönt gedämpft das Klatschen des Mühlrades, hastiger das Sirren der Brettersäge. Da wird fernher von hoch oben ein rauhes, dumpfes Tuten hörbar, wie der Schrei eines Nebelhorns, zu dem sich ein schriller Oberton gesellt. Die Dampfsäge am Rechen macht Feierabend. Das Schlagen des Mühlrades verstummt und die Brettersäge steht still. Auch die Neudamühle hat ihr Werk abgestellt. Sie macht heute vor dem Sonntag früher Feierabend. Von der Gesindestube her werden Stimmen hörbar, die Knechte sammeln sich, um noch vor dem Abendmahl zu plaudern und zu rauchen.
Tiefer beugt sich Agi über die Zifferreihen, sie vergleicht die von der Mutter aufgestellte Übersicht der eingeklagten Forderungen und die der einzutreibenden Ausstände. Ihre Augen sind gross geworden, ihre Nase ist spitz, die Wangenmuskeln sind gespannt, die Mundwinkel herabgezogen. Da holt Koja die zwei gargebratenen Äpfel aus dem Ofenrohre und hält sie der Schwester hin: „Welchen magst? — „Keinen, kannst beide haben, mach’ mich nit irr.
— So hat er’s erwartet.
Im Ofenwinkel huschelt sich der kleine Genussmensch neben den dickköpfigen Kater Matz auf den Boden und beginnt vorsichtig die von gebranntem Zucker klebrige haut eines Apfels abzulösen. Er geniesst bedächtig. Sachte streichelt er den Kater, es ist ihm ein Bedürfnis, ihn schnurren zu hören. Dabei träumt er schon vom morgigen Tag. — Wenn der Steininger Sepperl kommt und der Wieser Franzel, können die Palisaden vor der Farm fertig werden, bevor die Indianer angreifen. Er, Koja, ist der Farmer und die zwei Kameraden sind als Trapper zu Gast. Farm ist die am Rand einer Au-Lichtung vom Waldheger aus Blockholz und Rasenflözen errichtete „Puhu-Hütte", die seit einem Jahr unbenützt ist. Der Uhud) ist nämlich eingegangen. Ihr Inneres ist so anheimelnd klein und ihr urtümliches Äusseres übt auf die Kinder einen romantischen Reiz aus. Und Koja sehnt sich nach der kleinen Hütte in der Einöde; er denkt an die Möglichkeit, die Sattler-Roserl zu versöhnen, dass sie mitspielt als Farmerin.
Nacht und Tag
Kaum war das Abendmahl vorüber, das die Müllerin und die Kinder gemeinsam mit dem Gesinde eingenommen hatten, so zog sich die Mutter mit Agi ins Wohnzimmer zurück. Sie hatten Briefe zu schreiben. Sie wollten die Ausstände eintreiben und von der Sonnleitner-Grossmutter in Böhmen Hilfe erbitten. Koja blieb in der Gesindestube, wo ihm der Schweizera) Flori behilflich war, aus einem im alten Eisen gefundenen hohlen Torschlüssel eine Kanone herzustellen zur Verteidigung der Farm gegen die Indianer. Beim Ausfeilen des Zündloches vertraute Koja dem verschwiegenen Flori an, dass er eine Tüte Schiesspulver vom Steininger Sepperl, dem Buben des Waldhüters, eingetäuschelt hatte. Dann aber begann das Erzählen von Gespenstergeschichten. Die garnumwickelte Pfeifenspitze zwischen den zahnlosen Kiefern, erzählte Flori dem gespannt lauschenden Gesinde, was er bei nächtlichen Gängen gesehen oder von anderen Geistersehern erfahren hätte. Auf den feuchten Brunner Wiesen war ihm der feurige Mann erschienen, in der Au hatte ein Hund mit glühenden Augen sich an seine Fersen geheftet, beim Mühlsteg lauerte der Wassermann ... und auf dem Gollinger Berg, wo früher der Galgen gewesen war, seufzten in stürmischen Nächten die Geister der Gerichteten. Abergläubisch wie das Gesinde, horchte Koja gierig und gruselnd den Gespenstergeschichten. Noch war er mit dem Abschmirgeln der dicken Rostschichte seiner Schlüsselkanone nicht fertig, als Agi mit einer brennenden Kerze erschien, um ihn zum Schlafengehen aufzufordern.
Zögernd folgte er der Schwester, die ihn über die knarrende Stiege in die ungeheizte Bodenkammer hinaufführte. Seit der Vater spät nachts heimzukommen pflegte, war die Kammer Koja angewiesen, während Agi auf dem Sofa in der warmen Wohnstube bleiben durfte, neben der Schlafkammer der Eltern. Teils, um die Schwester mit dem Lichte länger bei sich zu haben, teils, um sich noch etwas von der Seele zu reden, was ihn beunruhigt, fängt Koja an: „Agi, ich muss dir noch was sagen. — „Noch eine Dummheit?
fragt sie zurück. „J—a und schon hat er den Geigenkasten geöffnet. — Agi schlägt vor Bestürzung die Hände zusammen: „Was ist denn mit der Geigen gschehn? — — Die ist ja zersprungen, geleimt und mit Spagatschnüren zusammengebunden!
— Das war so: „Nach der Geigenstund, kaum, dass der Oberlehrer bei der Tür drauss’t war, fangt der Eckel-Poldi an, mich zu frozelnb):
„Roserl, Roserl, Tintenfass!
Koja, Koja, du bist blass!
Koja, Koja, drah di um,
In der Neuda geht der Scheckel um!"
Da heben die andern Buben ein G’lachter an und singen ihm das Trutzliedel nach. Und der Eckel-Poldi springt dabei hin und her und lacht und lacht. — Ich Krieg einen Zorn, pack die Geigen beim Hals und hau ihm’s ’nauf. — Auf einmal war’s still. Der Eckel aber fangt an zu bitten: „Nix sagen, nix sagen. Dann rennt er mit mir zum Tischler; der hat’s g’leimt und fest verschnürt; am Montag darf ich die Schnür’ wegnehmen; er sagt, das Blatt wird besser halten als vorher.
—
Agi seufzte tief auf. „Auch von der Dummheit sag’ der Mutter nix. Später kannst ihr’s erzählen. Nur jetzt nit." Dann half sie ihm beim Aufschnüren der Schuhe, während er sich der Kleider entledigte. Erst als sie den Bruder zu Bette gebracht, mit ihm das Nachtgebet verrichtet, und ihm mit dem Daumen in mütterlicher Art das Kreuzeszeichen auf Stirn, Mund und Brust gemacht hatte, sagte sie ihm gute Nacht und trug die brennende Kerze davon.
Und jetzt Kam für den Buben, der noch immer nicht ans Alleinschlafen gewöhnt war, die schrecklichste Stunde des Tages. Er fürchtete sich im Finstern. Das Dunkel in seinem Stübchen war kein vollkommenes. Das Licht der Lampe, bei der unten Mutter und Agi die Briefe schrieben, drang durch die unverhängten Fenster und beleuchtete die mit „Palmkätzchen" reich besetzten Kronen der hohen Weiden jenseits des Weges, und diese warfen einen Schimmer des Lichtes in Kojas Kammer, so dass die verschwommenen Umrisse und Schatten des Zimmergerätes gespenstisch wirkten.
Koja verkroch sich unter die kalten Federbetten, um nicht die sonderbaren Geräusche zu hören, die er sich nicht zu erklären vermochte. Und doch musste er immer wieder die Decke lüpfen, um dem Rätselhaften zu lauschen. Im alten Schrank, der nie geöffnet wurde, tickte etwas, wie eine Taschenuhr, die manchmal von unsichtbarer Hand zum Stehen gebracht wurde und dann plötzlich wieder unheimlich rasch zu gehen begann. — Die Totenuhr. — Wer sollte jetzt im Hause sterben? — Auf dem Dachboden trippelte es von kleinen Füssen, beim Mühlsteg unten klatschte etwas. Der Wassermann? Kojas Pulse hämmerten, in seinen Ohren war ein Sausen, das war nicht vom gleichmässigen Rauschen des Überfallwassers unterm Mühltrog. Erst, als sein Körper das Bettzeug gleichmässig durchwärmt hatte, begann seine Aufmerksamkeit zu erschlaffen, seine Einbildungskraft sprang von einem Gegenstand zum andern; Wassermann, Palisaden, der tintige Zopf, der Hund mit den feurigen Augen, Roserl in der Puhu-Hütte; alles stellte sich ihm kunterbunt vor; seine Hände falteten sich vor dem Munde, dann war ihm, als ruhten Agis graue Augen in Mütterlichkeit auf ihm und er schlummerte ein. — Mitten in der Nacht aber erwachte er von einem Knacken der Diele über sich auf dem Oberboden, dann hörte er ein Schlurfen von blossen Füssen, ein Rieseln zwischen Diele und Decke, dann ein Knarren, als öffne jemand das Dachfenster, und plötzlich einen langgedehnten, rauhen, zitternden Ton, wie vom Reiben eines gespannten Seiles — dann ein dumpfes Aufprallen eines schweren Körpers — und wieder das Schlurfen der nackten Füsse. — Als das kaum hörbare Schleichen und Tasten die Stiege herabkam und sich seiner Kammertür näherte hätte er schreien mögen vor Angst; wenn der Kerl jetzt da hereinkäme! — aber er biss die Zähne aufeinander und hielt den Atem an. Es ging vorbei —, dann wurde es stille. — Einschlafen konnte Koja nicht. Da scholl beruhigend von der Donauseite her das Pusten und Räderschlagen eines mühsam gegen den Strom arbeitenden Frachtendampfers. Wieviel Schlepper mit ungarischem Mehl der wohl hinter sich herzog? Das gleichmässige Geräusch wirkte auf Koja einschläfernd, aber schwere, unsicher tappende Schritte unten an der Hauswand entlang liessen ihn wieder gespannt aufhorchen. Ein Klirren von Eisen auf Stein. Der Haustorschlüssel war aus einer unsicheren Hand auf den Mühlstein vor der Türschwelle gefallen. Ein unverständlicher Fluch, ein Schnappen des schweren Türriegels, ein kurzes, freudiges Anschlagen des Hofhundes — der Vater war nach Hause gekommen.
Koja schob die Bettdecke von seinem Gesicht, strich sich das Haar sorgfältig hinter die Ohren, stützte sich auf den linken Ellbogen und lauschte angestrengt hinunter. Erst fiel die Türe der Wohnstube krachend ins Schloss, dann hörte er die tiefe Stimme des Vaters. Es war eine unwillige Frage, die Koja nicht verstand. Und jetzt hörte er die Mutter etwas sagen, dann redeten Mutter und Vater zugleich und dann sprach Agi darein. So angestrengt Koja lauschte, er vermochte nichts zu verstehen.
Plötzlich aber hörte er einen durchdringenden Schrei, dann wieder einen. Die Mutter schluchzte. Koja setzte sich im Bette auf. Und wieder vernahm er Agis hohe Stimme. Sprach sie der Mutter zu oder dem Vater? Der war still geworden. Das Weinen der Mutter wurde schwächer und schwächer, bis es verstummte.