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Akazien
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eBook205 Seiten2 Stunden

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Über dieses E-Book

Seit kurzem ist Stefanie, verwitwete von Strassow, die Ehefrau von Leo Landowski. Leo ist seit der Inflation unverschämt reich, ein hoch angenehmes Leben mit Villa im Berliner Grunewald ist die Folge. Da macht es auch nichts, dass Hermann der Große, das Familienoberhaupt der Landowskis, Leo aufgrund seiner Heirat mit der Nicht-Jüdin Stefanie testamentarisch geringer bedacht hat. Übrigens war Stefanie eigentlich auf ganz anderer Art der Grund für die Abänderung des Testaments. Denn die Unterredung mit Stefanie, mit der der alte Hermann die Schande von der Familie abwenden wollte, endete mit dem Ergebnis, dass er ihr nach zwei Stunden selbst einen Heiratsantrag machte. So kann es passieren! Wie aber lebt man glücklich in solch einem Wohlstand? Mit dieser Frage setzt sich Walther von Hollander in diesem Roman auseinander. Entfernen sich die Liebenden in dieser Situation voneinander oder finden sie auf immer zusammen?-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum20. Feb. 2019
ISBN9788711474471
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    Buchvorschau

    Akazien - Walther von Hollander

    www.egmont.com

    1

    Genau wie damals, ganz wie immer, begann die Lokomotive schrill und hämmernd zu läuten, als der Zug um die Waldecke des Heuberges bog. Marianne von Schellemarr, die allein im einzigen Abteil zweiter Klasse saß, stand langsam auf. Vom Heuberg bis Langwede brauchte die Kleinbahn noch zwei Minuten, und darum war es Zeit, sich zurechtzumachen. Marianne zog die braune Kostümjacke an, setzte den hellen Frühlingshut so schräg, daß die kleine graue Strähne über dem rechten Ohr verdeckt wurde, und sah scheinbar prüfend in den Spiegel.

    Aber sie sah nicht ihr Gesicht. Sie sah, von plötzlichem Herzklopfen befallen, die Landschaft hinter ihrem Gesicht vorbeifahren: den Buchenwald, steil ansteigend, mit kleinen Felsen durchsetzt, den Aussichtspavillon auf der winzigen Burgruine und den Kaffeegarten zu seinen Füßen. Die Bahnschranke ging mit einem weichen Läuten herunter. Der Zug polterte am Bahnwärterhaus vorbei. Der weißbärtige alte Deike mit dem Stelzfuß und dem Lederwams, den Schrankenwärterstab als Zeichen der Würde und gleichzeitig als Krücke unter die Schulter gestemmt, würde jetzt grüßen. Frau von Schellemarr drehte sich schnell um und sah lächelnd hinaus. Aber da stand ein junger, etwas feister Schrankenwärter, die Dienstmütze wie eine Reservistenkappe elegant auf das Ohr gedrückt. Er grüßte lachend, zwei Finger am Mützenrand, zurück. Frau von Schellemarr beugte sich weit hinaus. Merkwürdig: Deike, der Wachtposten vor Langwede, war tot. Aber die Birken, die schon im zweiten, kräftigen Grün standen, wehten wie immer über seinem Haus.

    Die Sonne, die wechselnd mit Schatten über das Land fuhr, landete jetzt fast gleichzeitig mit dem Zug im Tal von Langwede. Ein heiteres Sonnen- und Wolkenspiel begann. Hellrot leuchtete das Schloß auf, um gleich wieder unter seinem schwarzen Schieferdach zu verschatten. Gelbweiß, fast sonnenfarben, blinkte die Kirche, die wie eine Glucke über den regellos ausgeschwärmten Villen am Bergwald hockte. Jetzt wischte ein tiefschwarzer Wolkenschatten über den Bergwald, über das weiße, langgestreckte Schellemarr-Haus am Waldrand, und dafür flammten die roten Dächer der Altstadt auf, die ringförmig dem runden Talkessel eingepaßt waren. Und jetzt, kurz bevor der Zug die langgestreckten Schuppen von Quandt & Küpper erreichte, lief der Sonnenschein, vom Winde getrieben, über die Obstplantage, den Stadtwald, den Steinbruch und erreichte zugleich mit den Eisenbahnwagen den Friedhof.

    Ein paar denkmalartige Zypressen tauchten auf und verschwanden, eine Herde von Trauerweiden, Marmorengeln, Eisengittern, schwarzen, lastenden Gedenksteinen. Frau von Schellemarr sah den Hauptweg vorüberhuschen und stellte fest: es war nicht derselbe Weg. Er war in ihr Gedächtnis eingeätzt als breit, gelb, kahl, unendlich, unter einem unbarmherzigen Sonnenbrand liegend, in einem August, der die Wege gehärtet hatte und in Dürre aufspringen ließ. Die Gräber sackten in jenem Jahr schneller zusammen. Die Kränze waren in ein paar Stunden zu Heu gewelkt, und nichts wuchs auf diesem »frischen« Teil des Friedhofs.

    Frau von Schellemarr setzte sich noch einmal. Die Hitze von damals färbte ihre Wangen. Die unbarmherzige Sonne jenes Weges ließ ihre Augen flirren, daß sie ein wenig tränten. Sie seufzte. Sie hielt ihr Herz fest, das schmerzhaft laut schlug.

    War es denn nicht gut, daß der »frische« Teil des Friedhofs nicht mehr frisch war, sondern von Trauerweiden überschattet, die ihre rechten Trauergebärden meist erst dann entfalten, wenn die Trauernden schon eingegangen sind in die gut ausgerichteten Reihen der Betrauerten und neue Weiden von neuen Weinenden gepflanzt wurden?

    Der Zug hielt.

    Die Reisenden stiegen lärmend aus. Ein Lachen, ein Kuß wehten am Wagen vorbei. Ein Gepäckkarren knirschte über den Kies des Bahnsteigs. Jetzt wurde die Tür des Abteils aufgerissen. Ein alter Mann in Zivilrock, mit Eisenbahnermütze und Gehstock sah neugierig herein.

    »Alles aussteigen«, sagte er und hob dienstlich die Hand an die Mütze. »Endstation!« Sicherlich erkannte er Frau von Schellemarr, und sie erinnerte sich auch an ihn. Er hieß Mettler, war Lademeister gewesen und verschönte sich jetzt die Alterstage mit einem amtlichen Getue. Bis zur Quarta hatte er mit Reinhold von Schellemarr die gleiche Schulbank gedrückt. Sie begrüßten sich, wenn sie einander begegneten, mit Handschlag, und wenn Mettler betrunken war, nahm er seinen Mut zusammen und läutete zuweilen am Schellemarr-Haus, verlangte Schellemarr zu sprechen, wünschte mit ihm den Abend zu verbringen, weil er der einzige Studierte war, der sich herabließ, mit einem Quartaner a. D. umzugehen.

    Mettler stand und starrte Frau von Schellemarr mit seinen wäßrigen Altersaugen an. Er wagte nicht, sie anzureden.

    Aber er bekam es auch nicht fertig, weiterzugehen. Frau von Schellemarr sprang, den Handkoffer in der Hand, auf den Bahnsteig und ging schnell durch die Sperre hinaus. Mettler sah ihr böse nach. In diesem Augenblick kam der Dienstmann Peddig vorüber.

    Mettler deutete mit dem Daumen auf den Ausgang. »Jung ist sie ja geblieben, das muß man zugeben«, sagte er mit seinem tonnenhaften Baß. »Viel zu jung noch immer.«

    Peddig schüttelte den Kopf: »Zu jung? Wo der Mann zwanzig Jahr tot ist«, murrte er.

    Mettler blies sich auf: »Vierzehneinhalb Jahr ist er tot, mein Freund Doktor von Schellemarr. Ich könnte Ihnen Sachen erzählen, Peddig . . .«

    Peddig stemmte sich in den Gepäckkarren und zog ihn pustend aus dem Wortbereich Mettlers. Er schien nicht gierig zu sein auf die alten Geschichten, die der Alte hätte erzählen können. Mettler merkte erst spät, daß er in den Wind hineinsprach. Er sah noch einmal mit Inspektorgebärden in das Abteil hinein, stocherte mit seinem spitzen Gehstock nach einem zusammengeknüllten Papier und angelte es schwungvoll heraus. Er entfaltete es, schob die Brille auf die Stirn und beugte sich über das Geschriebene. Es war ein angefangener Brief, in Eisenbahnschrift geschrieben. Man konnte die Stöße der Achsen, die Kurven der Kleinbahn daraus ablesen. Sonst aber war ihm nicht viel zu entnehmen.

    »Liebe Melanie«, las Mettler, »je mehr ich mich Langwede nähere, um so banger wird mir. Das Ganze ist wahrscheinlich nichts als eine sentimentale Narretei. Man weiß erst, wie alt man ist, wenn man den Abstand zwischen dem Herzen und damals ermißt. Ich glaube . . .«

    Jetzt war die Feder ausgerutscht, der Brief war weggeworfen, und der Stock hatte auch noch ein paar Worte zerstört.

    Ärgerlich knüllte Mettler den Brief zusammen und ließ ihn auf die Schienen rollen. Dann warf er die Tür des Abteils mit Schwung ins Schloß.

    Es war, als hätte der Zug auf dieses Zeichen gewartet. Denn er schob sich dampfend langsam rückwärts, um auf das Abfahrtgleis zu rangieren.

    2

    Frau von Schellemarr lag auf ihrem Liegestuhl ihres Balkons im Parkhotel. Sie hielt ihren Schreibblock auf den Knien und zeichnete in die Ecke des ersten Blattes ein kleines spöttisches Selbstporträt. Die krausen Haare vom Winde etwas zerzaust, die schwarze Brille ein wenig auf die Nase vorgeschoben, die Pelzjacke als Windschutz für den empfindsamen Hals aufgeschlagen, eine Decke um die Knie geschlungen (obwohl es eigentlich ganz hübsch warm war).

    Sie setzte von neuem zu dem Brief an, den sie im Zug fortgeworfen hatte:

    »Liebste Melanie, der Wind treibt immer wieder die Wolkenschatten über den Wald und über meinen Balkon. Dann fröstelt man. Wenn aber die Sonne scheint, dehnt sich das Holz des Balkons, knackt wie alte Knochen und riecht nach Harz.

    Vorläufig spiele ich Sommerfremde. Es ist keine gute Rolle für mich. Denn weder ist es Sommer, noch bin ich fremd hier. Im Gegenteil. Gleich am Anfang traf ich einen Bekannten von Reinhold. Da überfiel es mich, daß er nun auch über Sechzig wäre, und die große Frage beschäftigt mich: Wird man so alt, wie man werden kann, das heißt: stirbt man dann, wenn man eine andere Gestalt nicht mehr erlangen kann, oder hätte er doch noch eine andere Gestalt erreicht, wenn er nur weitergelebt hätte?

    Ich weiß, ich drücke mich schlecht aus. Aber Du wirst mich schon verstehen, obwohl Du knapp vierzig bist und ich schon sechsundvierzig und man doch eigentlich weise frühestens mit fünfundvierzig wird.

    Was ich sagen wollte, ist dies: Reinhold mit seiner Schärfe, seiner Schneidigkeit und Zweischneidigkeit konnte seiner Natur nach nicht älter werden als fünfzig oder fünfundfünfzig. Als weiser Greis ist er nicht denkbar, ja nicht einmal als ein Sechziger, bei dem doch auch das Herz zu sprechen anfängt. Aber da sehe ich Dich schon lachen. Du weißt natürlich, worauf ich hinaus will. Ich will mich entschuldigen. Vor mir, vor Dir. Vielleicht sogar vor den Kindern. Aber ich sage doch nichts anderes damit, als was wirklich gewesen ist. Der Mensch stirbt meinem festen Glauben nach an sich selbst und nicht an anderen. Wenigstens ist das meine Hoffnung.«

    Sie saß eine Weile bewegungslos und sah über die Blütenplantage von Kirschbaum und Flieder im Garten. Dann schrieb sie sehr schnell in ihrer winzigen Schrift, die sich fast runenartig ausnahm, den Brief zu Ende:

    »Natürlich . . ., wenn man unsicher ist, drückt man sich möglichst heftig aus. Wenn ich irgendwas ernstlich glaubte, hätte ich nicht herzufahren brauchen. Und jetzt, hier auf dem Balkon des etwas schäbigen und altersschwachen Hotels, das einen verblichenen Glanz von lebensgroßen Fürsten-Fotografien her ausstrahlt (mit eigenhändiger Widmung und dem Zeugnis, daß der alte Fürst genau am 23. 6. 96 im Parkhotel vorzüglich gespeist hat, Mockturtle-Suppe als erstes natürlich) . . ., hier auf diesem Balkon begreife ich nicht mehr, was mich mit solcher Gewalt hergezogen hat.

    Es ist alles hell, nüchtern und von einer, weil es Frühling ist, lieblichen Alltäglichkeit. Wer hier lebt, führt ein Leben ohne Hintergrund und Untergrund vor der grünen Kulisse des Heuberges, des Hirschfelsens oder des Nesselkopfes. Vielleicht, niemand (niemand?) hat mir ja befohlen, herzufahren, fahre ich genauso Hals über Kopf wieder weg, wie ich hergekommen bin. Die Gräber brauchen mich nicht. Für sie sorgt der Gärtner Bräutigam. Natürlich denkst Du wieder, dieser Name ist eine Erfindung oder Übertreibung von mir. Aber die Wirklichkeit ist erfinderischer als ich. Bräutigam ist nicht nur Friedhofsgärtner, sondern auch stellvertretender Totengräber, weil der amtliche krank ist. Und im übrigen gibt’s auch sonst noch allerlei gegenteilige Namen hier, die ich vergessen hatte. Der Konditor heißt Bitterlich. Der Kohlenhändler Kühl und Sohn, als ob so ein Sohn den unpassenden Namen wärmen könnte. Vielleicht also bin ich vor meinem Brief noch da, und Du kannst mich auslachen. Deine Marianne.«

    Sie stand auf. Sie faltete das Blatt zusammen, steckte es in einen Umschlag, wollte ihn schließen, nahm den Brief noch einmal heraus und schrieb ganz schnell hinzu: »Kann aber auch sein, ich muß mich ausheulen.«

    3

    Als sie aus dem Wald herauskam und nun in den schmalen, stadtabgekehrten Friedhofsweg einbog, lag die Sonne scharf blendend auf ihrem Gesicht. Sie nahm die schwarze Brille aus der Handtasche und setzte sie auf. Hinter den Gläsern, die die Welt des Frühlings durch eine sanfte Trauerfarbe dämpften, fühlte sie sich sicherer.

    Sie trug immer noch den leichten, halblangen Pelz, obwohl der Wind nachgelassen hatte und es ziemlich warm war. Hier auf dem schattenlosen Friedhofsweg war es sogar sehr warm. Merkwürdig, man ging doch unter Bäumen. Warum gab es keinen Schatten? Sie blickte auf. Wieder errötete sie, so daß die helle Haut aufflammte und die Sommersprossen der Stirn dunkler wurden. Natürlich: der Weg wurde ja von Akazien begleitet, deren Laub noch nicht herausgekommen war und die dicht vor der Blüte standen. Frau von Schellemarr ging schneller, so, als müßte sie den Akazien noch vor der Blüte entkommen.

    Auf dem Friedhof nahm sie nicht den verschatteten Hauptweg, der hinüberführte zum »frischen« Teil des Friedhofs, sondern bog rechts ab. Gleich darauf stand sie vor dem Erbbegräbnis der Schellemarrs.

    Der Engel, riesenhaft mit breiten, marmornen Flügeln, war gerade gereinigt worden. Kalkweiß leuchtete der Marmor über den alten Gräbern. Die Rechnung über dreiundfünfzig Mark und achtzig Pfennig trug sie in der Handtasche. Sie war der eigentliche Anlaß, wie man so sagt, hierherzufahren.

    Links hinten, unmittelbar unter dem Engel, lagen Louis Freiherr von Schellemarr, Generalleutnant und Kammerherr, und seine Frau Louise, geborene Gräfin Chappron. Davor deren Sohn, Oberstleutnant Louis von Schellemarr, Hofmarschall beim Fürsten, gefallen bei Saint-Privat 1870, davor dessen Sohn, Oberstleutnant und Kammerherr Reinhold von Schellemarr, gefallen 1916 bei Verdun, davor deren beide Frauen, gestorben 1918 und 1922 (eine hatte Mann und Sohn, die andere nur den Mann zu betrauern, bevor sie hier zur Ruhe kam). Und hier vorn, vor ihren Füßen, lag Reinhold von Schellemarr, Rechtsanwalt, Rittmeister der Reserve a. D., Inhaber des Eisernen Kreuzes erster und zweiter Klasse, gestorben 1924, sechs Jahre nachdem er aus dem Krieg gekommen war, der seinen Vater im Alter von neunundsechzig Jahren genommen hatte und ihn verschonte, obwohl die Schellemarrs anstandshalber im Krieg zu bleiben pflegten und nie und nirgends Drückeberger gewesen waren.

    Frau von Schellemarr legte den Kranz zurecht, den der Gärtner Bräutigam in ihrem Auftrage am Tage zuvor hier niedergelegt hatte, einen Kranz von gelben Rosen und weißen Strohblumen. Seit dreißig Jahren waren das die Maikränze, die Herr Bräutigam herstellte. Wer im Mai starb, bekam gelbe Rosen aus dem Treibhaus und weiße Strohblumen aus dem unerschöpflichen Vorrat auf dem Boden, und wer im Mai einen Kranz bestellte, der hatte eben auch gelbe Rosen und weiße Strohblumen zu nehmen.

    Die Gräber waren übrigens tatsächlich, wie Herr Bräutigam versichert hatte, »tadellos gepflegt«. Der Efeu war gestutzt. Die Rosen, die die Steine umwuchsen, waren sauber geschnitten und mit Bast festgebunden. Die goldene Schrift auf den Kreuzen hatte man erneuert. Wie es schien, war der Maler bei seiner Arbeit unterbrochen worden. Denn auf dem Kreuz des Rechtsanwalts leuchtete nur der Vorname Reinhold in neuem Gold, und auch die Orden hatte man frisch bronziert. Familienname aber, Titel und Jahreszahlen lagen noch im Schatten.

    Marianne fand jedenfalls nichts zu tun. Nicht einmal begießen konnte sie. Denn die Kanne war ordnungsgemäß und dem Paragraphen sechs der Friedhofsordnung entsprechend (»Der Bürgermeister, gez. Hollenbeck«) angeschlossen und der Schlüssel beim Friedhofswärter oder in dessen Behinderung bei seinem Stellvertreter gegen Ausweis abzuholen.

    Witwen sind überflüssig, dachte Frau von Schellemarr. Sie sah schon, wie sie wieder eine Zeichnung für Melanie machen würde: eine Dame mit Eulenaugen, sieben Gräber, die Trauerweide, die hier, von drei Generationen gepflegt, zu gewaltigem Trauergehänge ausgewachsen war, die Steinkugeln, die alle vier Ecken der Grabstätte wehrhaft schmückten und durch stachlige Eisenketten miteinander verbunden waren, als sollten die Toten an diese Stätte gefesselt werden. Dazu die kleine Holzbank, weiß, mit grasgrünen Eisenbeinen und den Buchstaben v. S., damit nicht etwa ein anderer auf den Gedanken käme, sie zu Trauerzwecken auf sein eigenes Grab zu verpflanzen.

    Einen Augenblick nahm Marianne Platz, schlug die Beine übereinander und zog den Rock etwas herunter. Gerade kamen ein paar ältere Herren vorbei, die, gebändigte Wehmut im Blick, die Beine der fremden Frau sorgsam prüfend betrachteten.

    Es war alles scheußlich nüchtern und durchsichtig. Sie hatte hier nichts zu tun und kaum etwas zu fühlen. Mit einem Ruck stand sie auf, um endlich das »Eigentliche« zu unternehmen.

    Sie ging schnell den Hauptweg hinunter. Die Trauerbäume streiften sie mit hängenden Ästen. Sie hätte auch mit geschlossenen Augen hingefunden.

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