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Oktober
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eBook340 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Berlin in den dreißiger Jahren. Professor Zylverkamp ist ein angesehener Maler, der seine künstlerischen Hochs und Tiefs durchlebt. Augenblicklich aber ist er völlig aus der Spur geraten. Er liebt seine 30 Jahre jüngere Schülerin Maria von Nemesch. Und was die Sache noch schlimmer macht: Diese Liebe wird erwidert. Für Maria hat dies jedoch zur Konsequenz, dass sie sich mit Macht dem Zugriff des Professors zu entziehen versucht. Denn er ist mit Renate verheiratet, die vor 14 Jahren ihren Mann wegen des Professors verlassen hatte. Maria sieht den Ausweg darin, sich mit Guido von Wrede zu verloben, den sich aufrichtig schätzt. Und so spitzen sich die Dinge zu in diesem Oktober, dessen einzelne Tage der Leser begleitet. AUTORENPORTRÄT Walther von Hollander (1892–1973) war ein deutscher Schriftsteller. Der Erzähler betätigte sich auch auf dem Gebiet der Partnerschafts- und Lebensberatung und als Drehbuchautor.Hollander, Sohn eines Pastors im Baltikum, studierte an den Universitäten von Berlin, Heidelberg, Jena und München Nationalökonomie, Literatur und Philosophie und promovierte zum Doktor der Philosophie. Am Ersten Weltkrieg nahm er als Soldat teil, war danach in München als Verlagslektor und Kritiker, aber auch als Schauspieler tätig. 1922 kam er nach Berlin, wo er, von Theodor Wolff, dem damaligen Chefredakteur des Berliner Tageblattes, gefördert, bald als freier Schriftsteller lebte. Zunächst arbeitete Hollander in Nebentätigkeiten für ein Antiquariat und den PEN-Club, später auch für Film und Rundfunk. Nach dem Zweiten Weltkrieg trat der Romanschriftsteller vermehrt als Kolumnist und Funkschriftsteller, aber auch als Hörfunkmoderator hervor. 1967 erhielt er das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum8. Jan. 2016
ISBN9788711474662
Oktober

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    Buchvorschau

    Oktober - Walther von Hollander

    www.egmont.com.

    Der erste Oktober

    1

    Der Oktober begann für Berlin höchst ungewöhnlich mit einem Sommertag. Noch am Nachmittag um fünf war es heiß wie im Juli. Die Farben allerdings waren herbstlich hell und kräftig. Denn die Bäume in den Vorgärten und in der Mitte des Kurfürstendamms hatten durch die Trockenheit des Sommers zumeist ihre Blätter verloren, und die wenigen, die noch belaubt waren, verstärkten hellgelb und rot das Sonnenlicht. Tief und dunkel schnitten die langen Schatten der Häuser in die gelben Sonnenbänder zu beiden Seiten der Straße.

    Zylvercamp, der Maler, bog von der Uhlandstraße in den Kurfürstendamm ein. Er blieb einen Augenblick stehen und zog nach seiner Gewohnheit die Unterlippe ein wenig vor, als müsse er die heiße, helle Luft schlürfen oder die Schatten, die gerade neben ihm das Pflaster überwucherten.

    Das bunte Bild — zu den hellen Herbstfarben kamen hier der waschblaue Gegenlichthimmel im Osten, die Frauen in bunten Herbstkleidern und die Schaufenster, in denen Modefiguren die Passanten anlächelten — dies bunte Bild gefiel ihm, als ob er es selbst gemalt hätte.

    Es erinnerte ihn an ein Bild, das drei Jahre zuvor entstanden war: eine Großstadtstraße mit grellbunten Menschen drin. Das sah aus wie ein Blumengarten. Oder ganz von fern wie ein Park nach dem Sturm. Es hing jetzt im Kronprinzenpalais. Man mußte mal hingehen und es sich ansehen. Denn wahrscheinlich waren die scharfen Schatten nicht drin, die grellen und unheimlichen Schatten, von denen aus dies Bild hier erst eigentlich leuchtete. Das Tragisch-Oktoberliche war nicht drin, die helle Sonnenheiterkeit neben den Streifen und Schatten des Frostes. Das Aufbrennen im letzten Augenblick. Richtig sehen lernte man eben erst im Älterwerden. In die Ferne hinein, das Kommende gleichzeitig mit dem Gegenwärtigen, das Hintergründige gleich neben dem, das sich immer in den Vordergrund drängte und den Nichtskönnern sich allein darbot.

    Zylvercamp starrte ein paar Minuten bewegungslos das Bild an. Er holte es Farbe für Farbe in sich hinein und übersetzte es Fleck für Fleck ins Zylvercampsche. Dann hob er grüßend eine Hand. Jemand hatte seinen Namen gerufen. Drüben auf der anderen Seite der Uhlandstraße, im Kaffeegarten, saß Christian Baudis, der Schauspieler, mit dem er verabredet war, und winkte ungeduldig. Jetzt war Baudis sogar aufgestanden, lehnte groß, breit, in einem hellen, seidenen Sommeranzug, an der Balustrade und rief. Zylvercamp, dem alles auffällige Benehmen ein Greuel war, eine „Belästigung anderer Menschen mit persönlichen Eigenheiten", zögerte ein paar Sekunden, und jetzt verwehrte das rote Sperrlicht den Übergang.

    In diesem Augenblick kam von der anderen Seite her, von der Untergrundbahn also, und zwar so, daß Baudis sie nicht sehen konnte, Maria von Nemesch über die Straße. Sie ging langsam und so achtlos, als überschritte sie irgendeinen Waldweg, die hellen Augen auf Baudis gerichtet. Nun war sie drüben gelandet und blieb so hinter dem Schauspieler stehen, daß er sie nicht sehen konnte. Sie betrachtete ihn aufmerksam und etwas in der Art von Zylvercamp, grübelnd, einheimsend, also gar nicht wie die anderen Damen auf der Straße den berühmten Schauspieler angafften, neugierig oder stolz, als hätte sie ein Widerschein der Filmleinwand getroffen.

    Jetzt hatte das Straßenlicht wieder gewechselt, und nun kam Zylvercamp ins Bild. Er grüßte lächelnd den Schauspieler. Maria von Nemesch zuckte zusammen, drehte sich blitzschnell um und lief durch den eilig dahinflutenden Strom der Autos auf die Insel der U-Bahn zurück.

    Zylvercamp wurde erst durch ihre Flucht auf sie aufmerksam. Er hatte sie vorher gar nicht gesehen. Aber nun ließ er den Schauspieler einfach stehen und lief hinter Maria von Nemesch her. Ziemlich dicht hintereinander verschwanden die beiden im Untergrundbahnschacht, über den gleichzeitig der Schatten eines Hauses fiel.

    Christian Baudis, der Schauspieler, sah ihnen verdutzt und etwas ärgerlich nach. Er war es nicht gewöhnt, daß man ihn sitzen ließ.

    Dann aber beugte er sich lachend zu seiner Begleiterin, einer achtzehnjährigen Blondine (sie war zur Zeit seine fünfte Frau und eine Hoffnung des deutschen Films), und sagte: „Hast du gesehen? Lief hinter der jungen Dame her wie ein Primaner. Meine Generation! Nicht totzukriegen! Die junge Dame aber hatte ihren Spiegel gezogen, fletschte ein wenig die Zähne, zog sich die Lippen nach und näselte: „So? Wird dein Freund Zylvercamp auch sechzig Jahre?

    „Ich bin fünfundfünfzig, sagte Baudis scharf, „und Zylvercamp wird nicht älter sein.

    Die junge Frau Baudis antwortete nicht. Sie fand, daß es in diesem Alter auf ein paar Jahre mehr oder weniger nicht mehr ankam.

    2

    Zylvercamp erwischte gerade noch den letzten Wagen des abfahrenden Untergrundbahnzuges. Maria von Nemesch war nicht drin. Er stand und starrte die vorbeifliegenden grauen Wände an, die Lichter, die vorbeizuckten, die Pfeiler, die auf- und abtanzten. Er war tief erschrocken. Einmal, weil Maria von Nemesch ihm ihre Rückkunft verschwiegen hatte, weil sie mit jenem Abschiedsbrief vom Juli Ernst machte, weil sie ihm ausgewichen war und nun sogar vor ihm davonlief.

    Dann aber — und das war schlimmer — weil er ihr besinnungslos nachgelaufen war, gezogen von der gleichen unwiderstehlichen Kraft. Besinnungslos und gegen jeden Verstand. Es war doch gut, daß sie ihm auswich. Es war doch richtig, daß sie nicht mehr zu ihm kam. Es war doch tapfer und feinfühlig, daß sie ihn glauben ließ, sie sei noch immer in Wiesenberg.

    „Ich fahre zu den Großeltern, hatte sie beim Abschied gesagt, und er hatte geantwortet: „Das klingt feierlich und traurig wie bei einem Begräbnis. Und sie: „Das soll auch so klingen."

    Der Zug hielt am Wittenbergplatz. Zylvercamp sah Maria aussteigen und die Treppe langsam hinaufgehen. Er lief hinterdrein. Er freute sich wieder an ihrem Gang, wie sie „von selbst" die Stufen hinaufschwebte. Er hatte ihr einmal versprochen, er wolle sie als Engel malen, in einem grauen Sportkostüm mit einer rosa Flügelbluse eine Treppe hinaufschwebend, die Treppe natürlich zu seinem Atelier. Fast ohne Flügel sollte sie schweben. Denn das traumhafte Fliegen kam aus der Vollkommenheit des Treppensteigens.

    Er stampfte jetzt eilig die Stufen hinauf. Breit durch die Menge pflügend, kam er an ihre Seite.

    „Fräulein von Nemesch, sagte er etwas vorwurfsvoll. „Maria ...

    Maria blieb stehen. Sie reichte ihm wortlos die Hand. „Warum haben Sie sich nicht zurückgemeldet?" fragte Zylvercamp.

    Maria antwortete nicht.

    „Warum laufen Sie vor mir weg, was ist das für eine Sache?"

    Sie antwortete nicht.

    „Und was ist das mit Baudis? Was wollten Sie von ihm?"

    Endlich sprach Maria. „Baudis? fragte sie. „Es war also doch Baudis?

    Zylvercamp antwortete: „Ja, kannten Sie ihn denn nicht? Und wenn Sie ihn nicht kannten, dann mußten Sie ihn doch erkennen. Jeder Mensch kennt Baudis."

    „Ich kannte ihn nicht, sagte Maria, als spräche sie nur zu sich. „Aber jetzt weiß ich, er ist es gewesen.

    Sie waren auf den Wittenbergplatz getreten. Immer noch schien die grelle, warme Sonne. Aber gleich mußte sie hinter der Gedächtniskirche verschwinden. Sie gingen schnell die Tauentzienstraße hinunter. „Wie lange sind Sie schon zurück? examinierte Zylvercamp. „Einen Tag? Sehen Sie, Sie können mir nicht ausweichen. Ich wußte es ja. Und war es schön bei den Großeltern? Nein? Lebt der Dackel Pepper noch, schimpft Seine großväterliche Gnaden, der Herr General, noch?

    Maria lächelte. Sie antwortete. Aber sie war nicht bei ihren Antworten. Schließlich sagte sie: „Ich habe doch Baudis schon in ein paar Filmen gesehen. Aber er sieht im Leben ganz anders aus."

    „Älter, antwortete Zylvercamp. „Härter, abgebraucht, wie wir alle.

    Maria schüttelte den Kopf. „Nein, sagte sie, „anders.

    Und nach einer Weile: „Ich möchte nicht weiter davon sprechen. Es war schrecklich."

    Zylvercamp hatte sie jetzt nach alter Gewohnheit untergehakt. Sie bogen zusammen in die Nürnberger Straße ein. „Schrecklich? murrte er ungeduldig. „Seit wann gebrauchen Sie so große Worte?

    Maria sah ihn endlich an. Sie mußte lachen. „Ihr Ton ist zum Davonlaufen, sagte sie. „Wie in der ersten Stunde. Die erste Aufgabe des Lehrers ist es, den Schüler zu entmutigen. Und sehr ernst: „Ist nicht nötig, Professor."

    Sie gingen im Schatten der Häuser, die eine muffige Hitze atmeten. Es war schon nicht mehr ganz hell. Zylvercamp wollte in dem kleinen russischen Kaffee eine halbe Stunde mit Maria sprechen. Aber sie hatte keine Zeit. Sie mußte zu ihrer Schwester Ilse, der Regierungsrätin. Ein Kind war krank. Nicht schlimm etwa. Nein, nur ein bißchen. Aber sie mußte die Schwester ablösen, und darum war sie eilig. Sie streckte ihm die Hand hin. Aber er schien es nicht zu bemerken.

    Er ging weiter neben ihr. Er wußte ja, wo „die Regierungsrätin" wohnte. Er hatte sie schon manchmal begleitet. Man stieg einen engen Treppenflur im Hinterhaus hinauf und hatte dann den Blick in einen bescheidenen Kaffeegarten. Also hier rechts herum in die Kurfürstenstraße. Nicht wahr?

    Und mit einemmal brach er los. Er packte sie beim Arm. Er zog sie so zu sich herum, daß sie stehenbleiben mußte und Gesicht zu Gesicht vor ihm stand.

    „Was glauben Sie eigentlich? flüsterte er. „Denken Sie, man beendet eine Freundschaft wie die unsere so mit Wegbleiben, Verschwinden, Nichtmehrdasein?

    Maria starrte ihn an. Nur nicht weinen, dachte sie. Das würde ganz verkehrt sein. Haltung, nicht wahr, geradestehen und einstehen für das, was man will. Das hatte der Großvater, General Schüler, immer gepredigt, und aus den tausend Lehren, die sie bekommen hatte, erwies sich diese eine immer wieder als brauchbar. Einstehen für das, was man will.

    „Ich wollte unsere Freundschaft gar nicht beenden, sagte sie, „ich wollte ...

    Zylvercamp aber ließ sie nicht zu Ende sprechen. „Nicht beenden, murrte er und drehte sie wieder fort von sich, er schob sie geradezu weiter. „Nicht beenden, aber untertauchen und wegschwimmen und nicht mehr wissen, wo das Atelier liegt, und sich nicht mehr um das letzte Bild kümmern, Garten im Herbst als talentvolle Studie wie von einem Pfuscher hingehauen stehenlassen. Lieber Gott, wäre ich mit sechsundzwanzig Jahren so begabt gewesen! Hätte ich einen solchen Lehrer gehabt wie diesen Professor Zylvercamp! Aber ich war immer allein, mußte alles selbst machen, denken, experimentieren, exerzieren, probieren und verlieren, bis man es endlich gefunden hatte. Und euch jungen Leuten fällt die ganze Sache in den Schoß, und ihr laßt es eines Tages stehen und liegen. Keine Diskussionen bitte. Weg, verschollen. In die Arktis abgereist. Im Schweigen erstickt!

    Maria von Nemesch legte ihm die Hand auf den Arm. Zylvercamp verstummte endlich.

    „Sie wissen, sagte sie mit ihrer etwas dunklen, tonlosen Stimme, „Sie wissen genau, es ist nicht so.

    „Sondern ganz anders, sagte Zylvercamp, „Sie kamen sofort nach Ihrer Rückkunft zu mir. Sie schickten mir von Wiesenberg aus Ihre neuen Arbeiten.

    „Ich habe fast nichts gearbeitet, sagte Maria, „außer für den Verlag. Für Geld also, weil ich ja leben muß. Aber nichts für mich. Es ging nicht.

    Zylvercamp schüttelte erstaunt den Kopf. „Warum ging es denn bei Ihnen nicht? Bei mir, das ist ja ganz klar: ich suche etwas Neues. Etwas ganz Bestimmtes, das sich nicht fangen läßt. Und da übe ich mich eben im Fangen. Eine widerwärtige Zeit. Man ist wie tot, so sehr man sich abzappelt."

    Maria antwortete nicht. Sie hatte am Tage zuvor ein paar neuere Arbeiten von Zylvercamp gesehen. Sie waren gut, sicherlich. Aber wirklich wie tot. Merkwürdig unsicher. Trotzig. Ohne Hintergrund und Untergrund.

    „Angelangt, sagte sie jetzt und blieb an dem kleinen Eingang eines riesigen Hauses stehen. „Es ist auch Zeit. Mein Himmel, gleich sechs!

    Aber sie reichte ihm diesmal nicht die Hand. Sie sah ihn vielmehr erwartungsvoll an mit ihren „Landschaftsaugen in zierlich bemaltem Stadtgesicht". So hatte er das erste Porträt genannt, das er von ihr gemalt hatte, und so sah er sie jetzt. Das war das Schreckliche und Schöne: wenn man einmal bis in den Untergrund des Menschen gesehen hatte, so blieb das und veränderte sich nicht. Das hatte seine Ewigkeit, wenigstens die kurze Ewigkeit des Lebens, das man führte.

    „Landschaftsaugen in zierlich bemaltem Stadtgesicht, sagte er. Und sie antwortete: „Leben Sie wohl, Professor.

    Sie drehte sich um und war sogleich in dem dunklen, engen Eingang verschwunden. Sie lief über den Hof, der lichtschachtähnlich eingeschlossen war von einem Steinviereck aus grauweißen Steinen, vier Stockwerke hoch, mit einem grellen blauen Himmel darüber. Es war schon dämmerig, und die Lampen der Fenster schienen.

    Maria rannte an den Aschenkübeln vorbei, die hier immer standen, immer überquollen von Asche, Apfelsinenschalen, Papier und Gemüseresten. Sie hörte Zylvercamp rufen. Sie lief die ersten Stufen im engen Treppenflur. Im oberen Stock kam jemand aus der Tür und unterhielt sich hallend. Sie konnte nicht so weiterlaufen. Sie wollte ja auch nicht weglaufen. Warum lief sie? Geradestehen und einstehen! Sie hielt also an, sie hörte Zylvercamp über den Hof stampfen, wütend den Stock aufs Pflaster klopfend.

    „Maria! Es klang böse und gebieterisch. „Maria!

    Er kam jetzt in den Flur. Er kletterte eilig die erste Treppe herauf und stand neben ihr.

    Nun kam von oben der Mensch, ein dürrer, hastiger Herr, ein Rattengesicht mit neugierigen, fresserischen Augen. Es sah so aus, als wollte der fein gekleidete Mann sich gleich in die Abfallkübel auf dem Hofe stürzen. Er lief vorbei, zuckte mit der Hand nach seinem Hut, wollte Zylvercamp grüßen. Das war doch ein Gesicht, das man schon gesehen hatte. Er wandte sich von unten her noch einmal zurück und lief dann kopfschüttelnd über den Hof davon.

    „Da stehen wir nun, sagte Zylvercamp. „Da müssen wir in einem engen Treppenflur über die wichtigsten Dinge sprechen.

    „Wir brauchen, glaube ich, nichts mehr zu sagen, antwortete Maria. „Es ist alles ganz klar.

    „Unsinn, schalt Zylvercamp, „nichts ist klar. Alles ist verwölkt, dunkel, voller Gewitter.

    „Ich bitte Sie herzlich, sagte Maria, „lassen Sie mich jetzt gehen.

    „Sie wollen also nicht wiederkommen?" fragte Zylvercamp.

    Maria schüttelte den Kopf.

    „Auch wenn es notwendig wird für mich, wollen Sie nicht kommen?"

    Maria ging schnell ein paar Stufen. Sie sagte: „Wir wollen nicht weitersprechen. Es kann doch nur schlimmer werden."

    Zylvercamp schlug mit dem Stock auf das Treppengeländer wie ein ungezogener Junge. Aber er sprach ganz gefaßt und leise: „Warum wollen Sie die Wahrheit nicht hören?"

    „Weil ich sie weiß."

    „Auch daß ich Sie liebe?"

    „Deshalb bin ich nicht mehr gekommen."

    „Nun ... und?" Es sah gespannt zu ihr hinauf. So wie er im letzten Augenblick, bevor er zu malen begann, die Leinwand ansah. Auf die ersten Striche kam es an, alles andere ergab sich daraus ... wie Schicksal. Ja, es gab Bilder, notwendig wie Schicksal, und Bilder, überflüssig wie ein Durchschnittsleben, und es gab Schicksal, das sich notwendigerweise vollenden mußte wie ein Bild, und anderes Schicksal, nicht wert, es zu beginnen. Aber dies hier war notwendig wie ein Bild.

    „Sie sind nicht gekommen, sagte er, „und hat es Ihnen genützt?

    Maria mußte in allem Kummer lachen. „Nein, es hat mir ganz und gar nichts genützt."

    Damit wandte sie sich und lief schnell die Treppe hinauf. Zylvercamp stand einen Augenblick verblüfft. Dann lief er in ein paar Sprüngen hinterdrein. Er faßte sie noch dicht vor der Tür. Er hielt sie, indem er seinen rechten Arm um ihre Schulter legte, wie er es manchmal kameradschaftlich bei der Korrektur getan hatte. Er sagte: „Nein, hallo, so können Kinder einander weglaufen. Aber da Sie wissen, daß Sie ebenso ein Stück von meinem Schicksal sind, wie ich ein Stück von Ihrem Schicksal bin, so müssen Sie bleiben. Sie werden doch nicht gegen Ihr Schicksal kämpfen wollen?"

    Maria antwortete nichts. Sie drückte auf die Klingel zu der Wohnung ihrer Schwester. Sie sagte: „Noch kann man entkommen."

    Zylvercamp konnte nichts mehr erwidern. Die Tür wurde gerade von dem Hausmädchen geöffnet. Er reichte ihr die Hand, verbeugte sich etwas linkisch. Die Tür schloß sich, und Maria von Nemesch war verschwunden.

    Zylvercamp ging ganz langsam, Stufe für Stufe, die Treppe im Zwielicht hinunter. Als er unten auf der Straße ankam, war es dunkel geworden. Aber es war noch immer sommerwarm. Die Schaufenster glänzten von der falschen Sonne überheller Taglichtlampen.

    3

    Abends war eine kleine Gesellschaft bei Zylvercamp. Es waren fast nur Freunde gekommen. Nur Doktor Altpeter, Assistent an der Hamburger Kunsthalle, war „zugeladen worden, weil er wichtig war oder sich wichtig machte. Er war ein schöner, junger Mensch mit einem Anflug von Feistheit infolge reichlicher Ernährung und ungewöhnlicher Selbstzufriedenheit. Er war ein verhinderter Dichter, der seit Jahren eine „exakte Ästhetik schrieb und seiner bissigen Kritiken wegen als Kenner galt.

    Er verehrte den „Farbmeister und Menschendichter" Zylvercamp sehr und gebrauchte ihn vielfach als Maßstab in seiner exakten Ästhetik. Zylvercamp behandelte ihn schlecht. Er duldete ihn auf Bitten seiner Frau. Aber er übersah ihn meistens. An diesem Abend hatte er noch kein Wort mit ihm gesprochen.

    Aber er war überhaupt nicht sehr gesprächig. Bei Tisch hatte er sich von der Sammlerin Frau Terpuis, der Witwe eines Wäschegrossisten, über ihre Ankäufe berichten lassen. Jetzt saß er neben Bigel, dem Kunsthändler, auf dem großen Altan und starrte mit dem alten Freund zusammen über die Bäume des Bellevueparkes, die sich im Vollmondlicht mit den Bäumen des Tiergartens wie ein großer Wald dehnten, ein graugrüner Wald, wie Bigel behauptete, ein grünblauer Wald, wie Zylvercamp ihn belehrte. Ob nun blaugrün oder graublau ... der Blick auf die Bäume war herrlich, auf die Lichter der Charlottenburger Chaussee, die wie bläuliche Kerzen im Laub schimmerten, auf den dunklen, spitzen Turm der Kaiser-Friedrich-Kirche und den hellen, von Kinolicht angestrahlten Turm der Gedächtniskirche.

    Der alte, dicke Bigel sprach heftig und ohne rechte Überzeugung auf Zylvercamp ein. Daß man manchmal lebensunlustig wurde, war doch klar. Aber es war kein Grund, böse auf das Leben zu werden. Daß man manchmal Mist malte oder, wie er sich ausdrückte, Schinken in Mist, war ganz selbstverständlich. Kein großer Maler ohne großen Mist. Er wollte vor den Ohren dieses süßlichen Altpeter keinen Streit entfachen, aber Rembrandt und Dürer, Holbein und Cranach, Corinth und Slevogt hatten nur deshalb keine miserablen Bilder gemalt, weil die Kunsthistoriker Gut und Schlecht nicht unterscheiden konnten. Hatte jeder seine schwachen Stunden, also Zylvercamp auch.

    Bei dieser Gelegenheit: das Porträt des Gesandten, um das sich eine Wochenschrift sehr erregt hatte, war keine schwache Arbeit, sondern eine ausgezeichnete, und es war vielleicht nur nicht klug, Gesandte so zu malen, wie sie sind, statt so, wie sie sich sehen. Aber wenn irgendeiner mit seinem Leben zufrieden sein konnte, so doch Zylvercamp.

    Zylvercamp zuckte die Schultern. „Vielleicht, wenn ich wie mein Bruder hinter dem Pflug herginge oder jetzt im Oktober beim Torfladen wäre oder auf der Entenjagd, würde mir wohler sein."

    Bigel winkte ab. Das stand jetzt nicht zur Debatte. Er sollte aber einmal das Glück in seinem Leben objektiv ansehen. Daß er als ein Bauernjunge in Dürftigkeit geboren war und doch nicht in Not. In einer engen Bauernkate aufgewachsen, aber in einer breiten, weiten Landschaft. Und hatte sich selber durchschlagen müssen, ohne andere Waffen als ein Bündel Pinsel. War ein berühmter Mann geworden, ein wohlhabender Mann mit der schönsten Aussicht Berlins vor der Nase, Stadt und Land in einem, Wald und Weite. Rechter Hand das Brausen der Kinowelt vom Kurfürstendamm, links das Grollen von Moabit mit Turmpalast und Bürgerwohnungen, und im Rücken das Zischen, Rollen und Funkeln der Stadtbahn, die gelben Sternlichter des Himmels neben dem Mond und das Vergnügungslicht Berlins als gelbe Kuppel am Himmel. Das war alles so wunderbar und märchenhaft, daß Zylvercamp sich täglich wenigstens einmal seines Glückes bewußt werden sollte.

    Zylverkamp lachte: „Ich bin auch kolossal zufrieden."

    Bigel schüttelte den Kopf: „Nein, Ihre letzten Sachen sind nicht gut, also geht es Ihnen nicht gut. Außerdem aber, wenn man es Ihnen nicht ansähe: das gute Barometer des Hauses zeigt Stille, Flaute, baldigen Sturm."

    Sie blickten sich beide um. Sie lächelten Frau Renate Zylvercamp zu, die hinten auf dem Balkon saß, fast am Eingang zum Zimmer, mit Delius, dem Gutsbesitzer, und Minchen Tweer, der großen Sängerin.

    Renate Zylvercamp hörte mitten im Satz zu sprechen auf und kam herüber. Sie legte eine Hand leicht auf Zylvercamps Schulter und sagte: „Wir schwatzen von früher wie die Kinder. Delius erzählt Jagdgeschichten aus Pommern und Minchen Erinnerungen an die Zeit, da sie eine Pastorentochter war."

    Zylvercamp lachte: „Und du erzählst aus der Zeit deiner Rittergutsbesitzerei, wie?"

    Renate hörte ganz gut den Unterton von Unzufriedenheit heraus. Ein bißchen eifersüchtig war Zylvercamp noch immer auf ihren ersten Mann, den Gutsbesitzer Scheffer, von dem sie weggegangen war, um zu Zylvercamp zu kommen. Er war im August geboren. Wo er liebte, galt nur seine Welt.

    Sie sagte: „Ja, in Geschichten kriegt das Frühere seinen kleinen Glanz. Der Reitweg ins Moor, der versoffene Buschwächter Grün, Schäfer Frenze mit der Strickstrumpfweisheit, Schlehen im Oktober, so jetzt bei Vollmond, und die Mondnebel über dem Bruch ..."

    Sie verstummte. Sie beugte sich ein wenig hinaus. Der Mond traf gerade ihre schöne, klug gebuckelte Stirn, eine faltenlose Stirn. Der Gram saß tiefer, in den Lippen zum Beispiel, die jetzt ins Mondlicht tauchten, ein wenig zusammengezogen, verkniffen vom Verschweigen und Stillesein.

    „In der Erinnerung ist das Leben fast immer glücklich, fuhr sie fort. „Minchen Tweer erzählte vorhin von Amsterdam. Von einem Spaziergang an den Grachten mit ihrem Mann Tweer. Er habe damals aus dem Mondschein und den alten Kanälen den ganzen Geist Amsterdams beschworen. Tatsächlich war Tweer damals schon irrsinnig, und Minchen hatte jede Nacht Angst, er würde auf sie schießen. Sie wissen, Bigel, er wollte sie nicht totschießen. Nein, nur die Kehle durchschießen, damit sie nicht mehr singen könnte. Denn er glaubte, daß ihr Singen ihm die Kraft, die Einsicht und den Verstand nähme. Das mußte sie damals durchleben. Ich weiß es genau. Und in der Erinnerung bleibt der Mondschein über den Grachten.

    Sie wandte sich schnell und ging über den Altan weg ins Zimmer. Bigel steckte sich eine neue Zigarre an. Er sagte paffend: „Eine muntere Geschichte, diese Geschichte aus Amsterdam. Und wie gewöhnlich haben die Verrückten recht. Die Kunst des einen frißt das Leben des anderen mit auf. Oder?"

    „Wieso frißt die Kunst das Leben des anderen? fragte Zylvercamp. „Kunsthändler zum Beispiel kommen mit ihrem Leben auch nicht zurecht und Gutsbesitzer, Kaufleute und Postsekretäre mit ihren Ehen auch nicht. Wer frißt denn da wen?

    Bigel sah den alten Freund forschend an. Ihm war es eigentlich gleichgültig, wer wen fraß. Er wollte wissen, ob es wirklich so gefährlich um Zylvercamp stand, wie ihm Renate berichtet hatte. Eine Krise durch und durch, von oben bis unten, die alles zerfrißt, hatte sie ihm gesagt. Sie schien recht zu haben.

    Denn Zylvercamp ging ganz gegen seine Gewohnheit — er liebte es sonst, alles ordentlich zu Ende zu bringen, er war eigentlich ein Pedant, ein Alles-immer-besser-Macher — Zylvercamp ging einfach aus diesem Gespräch weg.

    Er ging mit einem starrsinnigen Lächeln auf den Lippen an seinen Gästen vorbei. Er übersah es, daß Doktor Altpeter sein feistes, lächelndes Gesicht gegen ihn erhob, um ihn nach seiner Meinung über Grünewald zu fragen, der in der exakten Ästhetik eine schlechte Note bekam. Er überhörte auch Minchen Tweers Frage, ob sie ein Lied singen dürfe. Er ging hinaus. Und während Minchen Tweer sich im Balkonzimmer an den Flügel stellte und, von Renate begleitet, ein altes italienisches Lied von Spinelli sang: Frage der Liebenden über die Ewigkeit des Glückes, das sterngleich auf ihr Bett schien (sie sang es sehr leise, die Töne hatten Zeit, einander abzuwarten, zu begleiten, zu versickern), während Bigel mit unruhigen Altersschritten auf dem Altan auf und ab ging, Frau Terpuis, die Wäschegrossistenwitwe, die Augen schloß, Delius ernst und würdig vor sich hinschaute und Doktor Altpeter wohlwollend lächelte, weil er sehr zufrieden war, daß die berühmte Tweer hier abends einfach ohne Eintritt und Vorbereitung und Presse für ein paar Auserwählte sang ... währenddessen stand Zylvercamp in seinem Zimmer am Telefon. Er rief bei Regierungsrat Richter an. Er hatte sich ausgerechnet, daß Maria allein in der Wohnung sein würde. Er stand, den Hörer am Ohr. Die Verbindungsglocke zirpte. Jetzt knackte der Apparat. Marias Stimme.

    Zylvercamp nannte seinen Namen. Er sagte nichts weiter. Sie, nicht wahr, war weggelaufen, sie mußte jetzt sprechen. Aber sie sagte auch nichts. Sie stand am Apparat, der neben dem Kinderbett aufgestellt war. Eine Nachtlampe schien in das unruhige Fiebergesicht des kleinen Gebhard. Sie fürchtete, ihn zu wecken. Sie flüsterte endlich: „Ich kann jetzt nicht sprechen."

    Zylvercamp sagte: „Mit einemmal kann ich es nicht mehr ertragen, von Ihnen getrennt zu sein."

    Sie antwortete: „Was soll ich tun?"

    Er überlegte einen Augenblick. Das war wirklich nicht einfach zu sagen. Er war kein Knabe mehr, der glaubte, daß man zusammenlief, und es war dann alles in Ordnung.

    „Ich wollte Ihnen schon lange sagen ..." begannen sie beide gleichzeitig und stockten.

    „Nicht jetzt", schloß Maria hastig. Denn das kranke Kind hatte sich bewegt. Sie legte den Hörer schnell auf. Sie löschte das Licht und ging mit dem Apparat in ein anderes Zimmer. Sie stöpselte ein. Er würde sicher gleich wieder anrufen. Sie wollte ihm dann sofort sagen, daß sie so gut wie verlobt war. Mit Oberleutnant von Wrede. Sie hatte sich in

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