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Das Haus der offenen Türen
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eBook245 Seiten3 Stunden

Das Haus der offenen Türen

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Über dieses E-Book

In diesem autobiographischen Roman beschreibt Lise Gast ihr Leben und ihren Arbeitsalltag auf dem Ponyhof in Süddeutschland. Hier lebte sie nach dem Tod ihres Mannes zusammen mit ihren 8 Kindern und vielen, vielen Gästen. Der Roman nimmt Ausgang in der Gastfreundlichkeit der Familie und berichtet liebevoll, mal im heiteren und mal im ernsten Ton, von den vielen Ereignissen auf dem Ponyhof. "Das Haus der offenen Türen" ist aber zugleich auch ein Roman über eine selbständige und lebensfrohe Frau, die ihr Dasein als Mutter, Vater, Schriftstellerin und Ponyzüchterin mit unermüdlicher Begeisterung und Freude meistert. Lesenswert!-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum1. Jan. 2017
ISBN9788711508787
Das Haus der offenen Türen

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    Buchvorschau

    Das Haus der offenen Türen - Lise Gast

    Spiele!

    Wir heißen Gast, daran liegt’s. Daran muß es liegen. Und zwar bedeutet dieser Name nicht etwa, daß wir überall in der Welt, in Griechenland und auf den Balearen, in Welzheim oder Berlin zu Gast kommen können, wann wir wollen, gern empfangen, herzlich begrüßt, mit Tränen verabschiedet — sondern das Gegenteil: Wir empfangen Gäste, wir begrüßen herzlich, wir verabschieden mit dem sogenannten großen Bahnhof unter Küssen, Tränen, Winken, bis der Wagen verschwunden ist. Unser Haus ist ein Gast-Haus.

    Vielleicht kommt es auch daher, daß wir als erstes — wir bauten es nicht, sondern kauften es — zu der einzigen Tür, die es besaß, zwei weitere herausbrachen. Diese drei Türen stehen immer offen, Tag und Nacht, Sommer und Winter, wenn es nicht gar zu grimmig kalt ist, deshalb „das Haus der offenen Türen. Soweit gut und schön, kein Hausschlüssel wird je gesucht, kein Spätheimkehrer muß Steinchen werfen — das wär’ bei uns gar nicht nötig, man reicht an alle Fenster heran, und manchmal erscheinen morgens am Frühstückstisch zwei Personen mehr, die uns nicht wecken wollten und sich deshalb in der Nacht oder frühmorgens in irgend einer Ecke zusammenrollten, dem Besuchskaffee entgegenträumend, der dann sofort in tiefer Schwärze aufgebrüht wird. Korrekterweise müßten wir also „Gastgeber heißen, aber diesen Namen habe ich noch nie gehört.

    Immer habe ich mir gewünscht, viele viele Gäste beherbergen zu können. Seit meiner Kindheit schwebte mir ein Haus vor, das ganze Trakte von Gastzimmern enthielte, alle von außen, vom Flur her, zu heizen, alle mit Schlafcouch und Nachttischlampe bestückt. Letztere vor allem sind wichtig, ja, ausschlaggebend. Ich selbst jedenfalls schlafe, wenn irgendwo zu Gaste, lieber auf der Erde mit einer erreichbaren Lampe als im schönsten Bett unbeleuchtet. „Ohne Lesen macht die ganze Bettliegerei keinen Spaß, sagte uns mal eine befreundete Forstmeisterin. Früh sollten die Birkenscheite in den Öfen knacken, herrliches, gemütliches Weck-Geräusch, baltischen oder ostpreußischen Geschichten entnommen, und ich selbst würde auf Zehen und Strümpfen von Zimmer zu Zimmer huschen und den „early-in-the-morning-tea bringen, an jedes Bett, lautlos, und flüsternd beteuern: „Ihr braucht ihn nicht zu trinken, wenn ihr nicht mögt. Aaaaber ..."

    Denn: gibt es eine schönere Tageszeit als den frühen Morgen? Sollte man nicht jeden Besuch an dieser Köstlichkeit teilnehmen lassen? Entweder er ist strahlend in seiner Sonne oder geheimnisvoll neblig, manchmal malt er ganze Farbsymphonien an den Himmel, so daß ich meinen zweitjüngsten Sohn, unsern Fotomann, begeistert aus dem Bett hole, was ihn gar nicht begeistert. Und wenn er dann gähnend auf der Veranda steht und sein Stativ aufbaut, ist das Rot-Gold längst erloschen und der Tag angebrochen, sein Schlaf aber unterbrochen ... Ich selbst fühle mich nie so strahlend jung, so bis unters Hirndach platzend vor Energie und Arbeitslust, so funkelnd frisch und stark wie früh. „Jaja", seufzen meine Kinder und möchten so gern, so gern weiterschlafen ...

    Davon später. Dieser Gästezimmer-Trakt blieb mir vom Schicksal vorenthalten. Gäste nächtigen bei uns auf der Wohnzimmercouch, dem sogenannten „grauen Viech, in den Betten der Kinder, die irgendwo anders untergebracht werden, oder im Heu. Sie liegen in Schlafsäcken mit oder ohne Luftmatratzen auf der Erde oder versuchen, ihre Formen denen der Eckbänke anzupassen, die wir anschafften, weil wir mit Stühlen nicht mehr nachkamen. Früh, wenn ich die Ofen füttern gehe — merkwürdig, ich denke beim Stichwort „Gäste immer an Wintertage —, stolpere ich über Leiber, als Marsmenschen getarnt, oder greife in ein schlafwarmes Gesicht, wenn ich die Schreibmaschine zurechtrücken will. Überall, allüberall schlafen Gäste. Und leider vergesse ich immer wieder zu schleichen und zu flüstern, weil ich eben früh so unerhört stark da bin, was die Gäste gutmütig übersehen und überhören, die Kinder aber wütend registrieren oder sich seufzend damit abfinden. Dabei rufe ich mir immer wieder ins Gedächtnis, daß ich ja leise sein muß, ungemein leise, überaus und maßlos leise ...

    Denn — Gäste habe ich heute noch gern. Mit dem Servieren des zeitigen Tees aber habe ich längst aufgehört. Im Gegenteil. Die einzige Zeit, in der ich Ich-selbst sein, in der ich arbeiten darf, ist der frühe Morgen. Und jeden einzigen Tag versuche ich, mit diesen Bissen vom Tageskuchen abzuschneiden, ihn wegzuschnappen, ehe die anderen aufwachen, schnell, schnell, ihn hinunterzuwürgen wie ein gieriger Hund ein Stück Rindermagen, um eine, manchmal sogar zwei Stunden arbeiten zu dürfen.

    Um es gleich vorauszuschicken: oft gelingt es nicht. Es gibt Gäste, die beim ersten Schritt, den ich tue, aufmerken, emporfahren, sich umdrehen, mich entdecken und dann strahlend verkünden: „Ich stehe auch so gern früh auf. Und mein Arbeitskaffee, den ich mir im ersten Morgengraun aus unserm herrlichen, quellfrischen Wasser bärenstark und kohlschwarz aufgieße, duftet wahrscheinlich so verlockend, daß sich jeder sagt: jetzt oder nie. Kann man da antworten: „Ach bitte, legen Sie sich wieder hin, der Kaffee ist für mich allein? Ich hab’ es bis heute nicht gelernt. Meine einzige Arbeitszeit verrinnt, während wir in der Küche oder auf der Veranda sitzen, ich im Bademantel, der Gast im Schlafanzug mit „was drüber", Kaffee trinken und ich mir anhören muß, wie schwer es der andere hat. Sicher, es gibt Ausnahmen, aber meist wird geklagt. Die Großstadt, die Hetze, die undankbaren Kinder, die viele, viele Arbeit, das fehlende Geld — ja, wenn man so wohnte wie Sie! Im Grünen und in der herrlichen Luft — und ohne Lärm und ungestört — hab’ ich gezuckt? Ich hoffe, nicht.

    Denn ich muß natürlich zuhören oder doch wenigstens so tun. Jedermann möchte sich einmal aussprechen. Ich bekomme den Traum erzählt, den ich mit meinen Schleichschritten zerstörte — ich kann nicht sehr gut schleichen, meistens rutsche ich aus oder werfe etwas um —, oder die Geschichte des im vorigen Jahr enfernten Blinddarms. Die Sonne geht auf und die Uhr weiter, und wenn ich erst die Schulgänger wecken muß oder die Babys nach mir brüllen, ist meine Arbeitszeit wieder einmal vertan.

    Und ich möchte, ich möchte so gern arbeiten, Sie werden es nicht glauben, so wahnsinnig gern. Es ist als lechzte ich nach einer verbotenen Droge. Alle, alle Menschen müssen arbeiten, nur ich, ich allein, darf es nicht ...

    Es ist vorgekommen, daß ich früh um acht verzweifelt in der Küche stand und jammerte: „Wieder ein Tag herum, und nichts ist geschehen! Und da gibt es Menschen — ich kenne welche, ich könnte Ihnen die Namen nennen — die nachmittags um fünf krähen: „Wir haben den Tag ja noch vor uns! So unterschiedlich schuf Gott die Krone seiner Schöpfung.

    Natürlich gehe ich den Tag über auch nicht müßig. An meiner eigenen Arbeit, die — alle vergessen es immer wieder — unbedingt nötig ist, komme ich einfach nur früh, nur ausgeruht weiter — einzige Ähnlichkeit mit meinem großen Kollegen Thomas Mann. Manchmal, wenn mir erzählt wird, daß „andere Dichter bis zwei in der Nacht schreiben, dann schäme ich mich auf eine merkwürdig verstohlene, aber sehr heftige Art. Abends bin ich halbtot und erledigt. Jeder muß leben nach dem Gesetz, nach dem er angetreten, sagt Goethe, und dann höre ich immer wieder, halb belustigt, halb sehnsüchtig: „Ja Sie, Sie haben es gut! Sie können sich Ihre Arbeit einteilen!

    Nun ja. Ich gehöre — Sie haben es bereits handgreiflich gemerkt, — seit über dreißig Jahren zur Gilde der Schreiberlinge, also einem Beruf an, der im allgemeinen nicht allzuviel gilt. Bei einer Rundfrage, so habe ich gelesen, rangierten die Schriftsteller eine Stufe unter den Straßenkehrern und nur zwei über den Berufslosen, während die Professoren stolz obenan prangten. Nichts gegen Straßenkehrer und Professoren, aber es wurmt einen doch, wenn man mit so viel Mühe, dem berühmten Herzblut und unter Einsatz aller Kräfte ein Buch zustande gebracht hat, das tatsächlich, o Wunder!, Widerhall findet und gefällt, und man hört dann — Sie werden es nicht glauben, aber man hört es öfter, als es dem Gemüt zuträglich sein kann — „nett, wirklich. Das könnte ich übrigens auch. Wenn ich Ihnen mein Leben erzählte, Sie würden staunen! Also ich sage Ihnen: ein Roman. Ich wollte es immer schon aufschreiben, aber wissen Sie, mir fehlt die Zeit. Der Beruf frißt mich auf. Sie, ja, Sie haben es gut! In diesem entzückenden Häuschen im Grünen sitzen und dichten, und noch dazu dicke Honorare einstreichen ..."

    Nett. Dichten. Dicke Honorare. Wenn ich das schon höre! Ich höre es aber, und zwar immer wieder. Fachkollegen werden es mir bestätigen. Das mildert den Schmerz um einige Grade.

    Trotzdem liebe ich meine Arbeit, gerade diese. Sie hat mich mitsamt meiner vielköpfigen Familie durch finsterste Kriesenzeiten getragen, damals, als honorige Berufe versagten, ja, mir sogar ermöglicht, Leuten dieser angesehenen, bürgerlichen Zünfte zu helfen. Ich hab’ es gern getan. Und es ist eine Arbeit, bei der man nie auslernt, bei der einem immer wieder neue Türen aufgehen, neue Ausblicke sich öffnen, neue Zauberschlüssel in die Hand gleiten. Eine Arbeit, die einen selbst bezaubert. Eine Arbeit, die freilich auch verlangt, daß man um sie dient und wirbt und nie aufhört, sich zu mühen.

    Ich habe, zugegeben, viel zuviel geschrieben, wie viel, das möchte ich nicht verraten. Vor einigen Jahren zählten die Kinder einmal die Bände und kamen zu einem vernichtenden Ergebnis, das beinahe Karl May oder die Marlitt in den Schatten stellt. Denn natürlich sind meine Bücher keine Werke der Weltliteratur geworden. Ich wende, wenn mir das vorgeworfen wird, meist schüchtern ein, daß auch Maler immer und immer wieder versuchen, an Leonardo oder Picasso heranzukommen. Waren Sie mal in einem Atelier? Wieviel Bilder stehen da an der Wand, das Gesicht dem Beschauer abgedreht. Dem Maler nimmt das keiner krumm. Wenn sich aber auf meinem Bücherbrett die eigenen Werke gegenseitig plattdrücken, weil man immer wieder ein neues dazwischenquetschen muß ... ja dann ...

    Genug. Übergenug. Davon wollte ich gar nicht reden. Ich wollte nur vorausschicken, was nötig ist, um unsere Situation zu erklären. Unsere, das ist die meiner Familie. Manchen macht es nervös, wenn er immerzu „Wir hört. Es riecht ein bißchen nach Kollektiv, und dieses Wort wurde in den letzten Jahrzehnten gar zu oft, mit häßlichen und traurigen Beiwörtern versehen, ge- und mißbraucht. Ich persönlich finde, daß „Wir ein wunderschönes und auf alle Fälle viel besseres Wort ist als „Ich. Unser großes „Wir tritt uns sehr häufig auf Zehen und Nerven, nie aber aufs Herz. Und wir sind altmodisch genug, das Herz wichtiger zu finden als andere Organe.

    Zu unserm Wir gehören natürlich auch die zahllosen Freunde und Freundinnen der Kinder, die bei uns ausund eingehen, mehr ein als aus, merkwürdigerweise. Aber das liegt in der Familie. Meine Schwester stellte einmal fest, als die Kinder noch Kinder waren und wir versuchten, uns trotz ihres munteren Treibens um uns herum zu unterhalten: „Ich habe Uli jetzt beobachtet. Er ist siebzehnmal hereingekommen, und ich merkte nie, daß er hinausging. Da ich Vater und Mutter in einem bin, sprich Witwe, belaste ich nur meine eigenen Nerven (und meinen eigenen Geldbeutel), wenn die Kinder mir junge Menschen heranschleppen, die sich gerade ausruhen, aufwärmen, aufmuntern lassen müssen oder denen sonst irgend eine Hilfestellung nötig ist. „Ich möchte nie ablehnen müssen, wenn ihr mich für andere bittet, habe ich ihnen vor Jahren einmal gesagt. Dies ist einer meiner größten Lebenswünsche, und das Leben war bisher liebenswürdig genug, ihn mir zu erfüllen.

    Manche Mutter meiner Generation, die ihren Mann behielt, hat mir schon ganz offen (und recht töricht) gesagt: „Du hast es gut. Unsere Kinder müssen abends auf Zehen gehen, sobald der Vater da ist, und Partys können wir nie geben. Immer bringt er Akten mit und muß noch arbeiten."

    Wie überaus taktvoll! Und wie gedankenlos! Übrigens, unser Vater würde nicht stören, kein Zehengehen verlangen und wahrscheinlich noch mehr junges Volk einladen. Er stammte aus einem kinderreichen Pfarrhof, und wenn dort die Jugend tanzte, sagte die alte Kinderfrau: „Ja, Jungvieh hat Mut!"

    Keine Abschweifung! Außer den Freunden des Hauses, den jungen, und natürlich auch einigen in meinem Alter, gehören die Ponys zur Familie. Sie wohnen im Stall, der unserm Haus angebaut ist, richtiger: sie dürfen darin ihr Heu fressen. Sonst weiden sie auf den Wiesen rings ums Haus, bekommen Fohlen, reißen mitunter aus und tragen oder ziehen uns durch unsere nunmehrige — die wievielte? Lieber nicht fragen! — geliebte süddeutsche Heimat. Kinder also, Kindeskinder, Freunde und Pferde, so müssen Sie sich unser Leben vorstellen. Und so schön und beneidenswert es oft von außen aussieht, so schwierig ist es manchmal, als Kapitän das Schifflein zu lenken, jedem gerecht zu werden und auch dann noch zu arbeiten, wenn Sommergäste auf meinem Schreibtisch nächtigen oder Ämter seitenlange Fragebögen schicken, die man ausfüllen muß, der Steuerberater mit erhobenem Finger droht, man solle doch nun endlich ... und die Verwandtschaft findet, man müsse Urlaub machen. Diese Forderung ist besonders störend. Freilich braucht jeder Mensch Urlaub, wer aber zwischen Himmel und Erde, so frage ich Sie, ist bereit, mir für vierzehn Tage oder drei Wochen die Oberaufsicht über mein Narrenhaus abzunehmen, damit ich nicht nur Urlaub machen, sondern mich dabei auch erholen kann? Denn jede Erholung wird unterhöhlt und verdorben, wenn ich mir Tag und Nacht vorstellen muß, was jetzt — und jetzt — und jetzt in meiner Hütte lossein wird. Ich habe nun einmal eine zügellose Phantasie, wäre ich sonst Schriftstellerin? Phantasie aber kann sehr beunruhigen und dem Schlaf abträglich sein.

    Alle Leute, die ich bitte, mich zu vertreten, sagen mir ab. Bedauernd, aber unmißverständlich. Sie könnten gerade ausgerechnet um diese Zeit nicht, aber ich solle doch trotzdem fahren, natürlich solle ich, jeder Mensch ... siehe oben.

    Nun habe ich eine neue Art des Urlaubs erfunden. Ich reite zum Beispiel fünfzehn Kilometer weit weg und schlüpfe bei Ponyfreunden unter, die ein Hotel und eine Schreibmaschine besitzen. Dort klappere ich dann von den vierundzwanzig Stunden des Tages ungestört und voller Genuß sechzehn und verschlafe die übrigen sieben, eine spare ich mir heraus, um gegen Abend mit den Kindern des freundlichen Wirtes zu reiten. Solche Tage bedeuten einen wirklichen Urlaub für mich, ich rufe jeden Abend zu Hause an, habe die Gewißheit, bei etwaigen Pannen binnen kürzester Frist eingreifen zu können, und komme wohlgenährt mit einem fertigen Manuskript und trotzdem ausgeruht, nach Hause. Diese Art des Urlaubs erfand meine Wahltochter, die, im Alter unserer Kinder, den Haushalt führt, die Enkel erzieht, mich bemuttert, wenn es mir dreckig geht, und die Jungen zur Ordnung boxt.

    Die zweite Art, mich auszuruhen, übte ich bis dahin. Sie hat mich viele Jahre über Wasser gehalten, von da an jedenfalls, als meine einzige jährliche Erholung, das Wochenbett, zu meiner Betrübnis ausfiel. Man kann dies vielleicht durch einen Vergleich deutlich machen.

    Sicher erinnern Sie sich an Kapitän Romer, jenen kühnen Deutschen, der in einem Faltboot, einem Gummikreuzer, wie er es nannte, den Atlantik überquerte. Gleich anfangs kam er in einen so ekelhaften Sturm, daß er fünf Tage und fünf Nächte nicht schlafen konnte. Er mußte sein Schifflein gegen die anstürmenden Wellen lenken, unermüdlich, bis der Sturm sich ausgerast hatte. Da man aber ganz ohne Schlaf nicht bei Kräften bleibt, machte er es folgendermaßen: er schlief die zwei Sekunden, in denen er mit seinem Boot, das er immer rechtwinklig gegen die Wellen halten mußte, gerade auf der Kimme der jeweiligen Woge stand. Zwei Sekunden, wie gesagt. Und dann riß er sich wach, tauchte ins Wellental, hielt das Boot wieder gegen. Diese Schlafsekunden zusammengezählt ergaben in fünf Tagen doch einige Stunden. Ähnlich habe ich es viele Jahre mit dem Ausruhen gehalten. Sobald kein Besuch da, kein Pony weg, kein Kind krank, kein Erwachsener zu betreuen und kein Buch zu schreiben war, nahm ich innerlich Urlaub. Ich schlief — im Heu oder auf einer Couch, stehend im Laden, wenn ich beim Einkaufen warten mußte, oder beim Telefonieren, ehe die handvermittelte Verbindung da war. Sogar auf dem Fahrrad habe ich geschlafen, das aber war ein Alarmzeichen, ich kam immerzu nach links und wachte zum Glück stets auf, wenn ein Autofahrer, begreiflicherweise empört, Zeichen gab oder gar anhielt. Damals fingen meine baltischen Freunde mich ein und steckten mich bei sich ins Bett, was mir sehr gut tat. Ich brauchte gerade alle Gedanken für ein neues Buch und legte mir den Stoff, idiotisch vor mich hinstarrend, während dieser gastlichen Tage und Nächte zurecht. Als dieses Buch später erschien, bezeichnete unser Jüngster es als „alten Käse, frisch garniert". Er hat recht; freilich kann man auch sagen, daß alter Käse oft der schmackhafteste ist, und frische Garnierung sollte man auch nicht unterschätzen. So wie bei der Ernährung die Grundstoffe die gleichen bleiben, Fleisch (bei uns sehr wenig) und Fett, Eier, Milch, Gemüse und Obst, so sind auch die Grundstoffe der Bücher immer die gleichen. Was der einzelne Künstler daraus mischt, aus Liebe und Haß, Bitternis und Süße, Jugend und Alter, das ergibt das neue Buch.

    Aber wo gerate ich hin! Ich wollte mich keineswegs gegen falsche Vorwürfe wappnen oder Ihnen gar vorklagen, wie schwierig unser Leben läuft, sondern Ihnen lediglich eine Episode erzählen, die unser sturmdurchtostes Dasein erheiterte — aber ich sehe schon, sie läßt sich nicht isolieren. Nehmen Sie also bitte alles bisherige als Vorrede und Information, und folgen Sie mir gütigst und mit nachsichtigem Blick — wieviel Nachsicht, ach, haben wir nötig! Wenn ich an andere Familien denke, bei denen immer und immer alles glatt geht, vom Fußabtreter eingangs der Wohnung bis zur Verlobung der Tochter! Bei uns geht nie etwas glatt, nie, nie — immer gibt es Hinder- und Hemmnisse, immer kommt etwas oder jemand dazwischen, immer wird geweint, wo man gelassen abwarten sollte, und gelacht, wo Teilnahme oder gar Mitgefühl am Platz wären, immer ist das Geld zu Ende, wenn eine große Ausgabe kommt, und der Kaffee, wenn Besuch einbricht, immer fetzt das Inlett in dem Augenblick, in dem man ganz, ganz schnell ein Deckbett überziehen muß, ohne daß der Besuch es merkt, und die Federn schweben durchs Zimmer, als habe Frau Holle geschüttelt. Der Stuhl, dem man dem so wichtigen Verlagsvertreter anbietet, kracht in den Gelenken, das Telefon fällt herunter, der Ölofen streikt, und die Jauchengrube sendet würzige Düfte. Das tut sie auch auf jedem Gutshof, wenn das Wetter umschlägt, aber dort findet niemand etwas dabei. Bei uns dagegen — ach, lassen Sie mich schließen. Oder besser: endlich anfangen. Das Leben besteht aus Pannen und Unzulänglichkeiten. Sagen wir ja dazu!

    Die Geschichte, von der ich erzählen will, begann in jenem Jahr, in dem wir zwei Babys, meine beiden ältesten Enkelkinder, bei uns hatten. Das Glück lächelte uns unwahrscheinlich, denn wir bekamen eine Kinderschwester als Hilfe, ohne die ich vermutlich diesen Winter nicht lebend überstanden hätte. Dieses freundliche Wesen — man wird es kaum glauben, aber hier phantasiere ich nicht — hatte zugesagt, einen Winter lang Freud und Leid mit uns zu teilen, obwohl es uns kannte, uns und unseren Wahnsinnsbetrieb.

    Am ersten Oktober tauften wir Reiternachwuchs Nummer zwei auf den schönen Namen Kerstin, der aber, wahrscheinlich, damit er nicht abgenutzt werde, zunächst nicht gebraucht, sondern in „Eichhörnlein, später „Hörnlein

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