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Eine unordentliche Familie
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eBook219 Seiten3 Stunden

Eine unordentliche Familie

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Über dieses E-Book

Im Haus der Mutter Merle haben sich Ältere und Jüngere, Frauen und Männer zusammengetan und leben den Traum einer alternativen Hausgemeinschaft entgegen der gefühlsarmen Hektik und konsumorientierten Industriegesellschaf. Ihren individuellen und persönlichen Lebensentwurf verwirklichend, geraten die Hausbewohner dennoch ab und zu an ihre Grenzen: Vorallem wenn es um finanzielle Angelehnten geht. Denn Geld ist in Merles Haus nicht wirklich zu finden... Zum Glück lässt sich die mutige Frau nicht unterkriegen und weiss der Gemeinschaft auch in schwierigen Situationen zu helfen. – Eine wunderschöne, mit viel Humor und Lebensklugheit erzählte Alltagsgeschichte über das Leben in einer alternativen Hausgemeinschaft. Lesenswert!-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum1. Jan. 2017
ISBN9788711509296
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    Buchvorschau

    Eine unordentliche Familie - Lise Gast

    www.egmont.com

    Der Weg war ein richtiger Feldweg, wie man ihn von früher her kennt: in der Mitte eine erhöhte Grasnarbe, rechts und links Furchen, fest ausgefahren, lehmig. Zu beiden Seiten des Weges standen Birken. Man sah höchstens acht, zehn Schritte voraus, dann verlor sich die Sicht im Nebel. Eine Stimmung wie im Herbst, und doch war Frühling. März war es.


    Gut lief es sich hier nicht. Gina, die links ging, schob ihr Fahrrad auf der grasbewachsenen Mitte; es war beladen wie ein Kamel und schwankte wie ein solches, sobald es über Buckel oder Vertiefungen gezwungen wurde. Ulrike ging rechts. Sie suchte in der Räderspur einen gangbaren Weg und murrte halblaut vor sich hin. Schließlich blieb sie stehen, warf den altmodischen Matchsack, den sie statt eines Rucksackes trug – Rucksack, wie spießig, man war doch kein Wandervogel wie ehedem! – auf den Wegrain und ließ sich danebenfallen.

    »So. Danke. Mir reicht’s. Ich bleibe hier.«

    Sie kannten sich noch nicht lange. Gina, zwanzigjährig, hatte sich nach dem Abitur zu einer Reise durch Deutschland aufgemacht, allein, auf dem teils ersparten, teils von den Eltern mitfinanzierten neuen Fahrrad. Einen Studienplatz hatte sie nicht bekommen und also etwas zwischengeschaltet, was ihr Spaß machte. Unterwegs hatte sie Ulrike aufgegabelt.

    »›Uli‹ bitte ich mir aus!« Ulrike haßte ihren Namen. »Meine Eltern müssen bescheuert gewesen sein, als sie mich so nannten. Na ja, Eltern ... zur Strafe halten sie mich für die unerträglichste Tochter der Welt. Geschieht ihnen recht.«

    Gina nannte sie ›Rike‹, um sie zu ärgern. Ulrike war, wie es derzeit zum guten Ton gehört, zu Hause durchgebrannt.

    »Zehn Jahre Schule, danke verbindlichst«, sagte sie, »bis hierher und nicht weiter.«

    Das war übrigens einer ihrer liebsten Aussprüche. Auch jetzt holte sie ihn wieder hervor, obwohl er Gina schon ziemlich abgegriffen schien.

    »Laß dir doch mal was Neues einfallen. Aber von mir aus, wir können auch hierbleiben.«

    Sie klappte den Ständer des Fahrrades herunter, stellte es fest und setzte sich neben Ulrike an den Wegrand. Es war kalt und feucht, aber irgendwie roch es doch nach Frühling. Gina schnupperte.

    »Hast du noch – natürlich hast du keine«, sagte Ulrike verdrossen und meinte eine Zigarette. Sie rauchte, Gina nicht. Natürlich hatte Gina keine Zigaretten.

    »Wär’ doch schade um die schöne Luft«, sagte Gina friedlich. Sie war groß, blond und ein wenig zu füllig, was den Entschluß zur Radtour mitbestimmt hatte. Ulrike, kleiner, dunkel das Haar und die Augen, sah sie giftig an.

    »Ja, ich weiß schon. Man schädigt sich, landet bei Hasch und Heroin, man ist ein verkommener Mensch und wird zum Frührentner, der den Staat Millionen kostet. Das alles weiß ich auch. Brauchst es mir gar nicht erst vorzubeten.«

    »Tu ich ja gar nicht. – Du, hier in der Nähe kenn’ ich jemanden«, sagte Gina, unbeeindruckt von Ulrikes nörgeliger Laune, »jedenfalls glaub’ ich, daß es hier in der Nähe ist. Entfernte Verwandte von –«

    »Von deinen Eltern? Vielen Dank. Was einem Eltern so zumuten ... ›Besuch doch mal Tante Evelin, Kind‹« flötete sie mit gespitztem Mund, »›oder Onkel Theodor ... Die würden sich so freuen ...‹, so wie es früher hieß: ›Spiel doch lieber mit Gertraud, die ist immer so höflich und nett und sauber. Müssen es denn immer diese gräßlichen Jungen von gegenüber sein?‹« »Höflich und nett und sauber, ich weiß nicht, ob die das sind«, sagte Gina unbeirrt und kramte in ihrer Wandertasche nach der Karte. »Hier, in der Nähe von Feldheim, müssen sie wohnen. Mutter hat es mir genau beschrieben. Wir sind wahrscheinlich ziemlich nahe. Nur bei dem Nebel sieht man ja nichts. Gehen wir nach Süden oder Westen –? Na, die Sonne wird schon herauskommen. Aber man kann hier ja niemanden fragen, wo diese Leute wohnen –. Hier, so allein auf weiter Flur.«

    »Wer? Welche Leute?« fragte Ulrike, wider Willen interessiert, obwohl sie sich das nicht anmerken lassen wollte.

    »Die von der Fuchsfarm. Die, die mir meine Eltern empfohlen haben. Ich soll sie mal besuchen.«

    »Na, da braucht man doch nur die Ortschaft zu wissen, in der sie wohnen«, brummte Ulrike. »Überhaupt, was werden das schon für Leute sein, wenn Eltern sie nett finden. Ich hab’ es aufgegeben, da was Brauchbares zu erwarten.«

    »Ist eben keine Ortschaft. Sie wohnen ganz einsam.«

    Gina hatte die Karte vor sich ausgebreitet und ließ die Augen darüber wandern. Sie sah die Gefährtin nicht an. Was für ein Gesicht die machte, wußte sie auch so: herabgezogene Mundwinkel, vorgeschobene Unterlippe, Blasiertheit, Überdruß, Traurigkeit. Echte? Ach ja, doch wohl echte Traurigkeit. Schöner wurde ein junges Gesicht dadurch nicht. Aber es war ›in‹, sich so zu geben.

    Gina seufzte. Warum eigentlich schleppte sie die andere mit? Warum schob sie ihr Fahrrad, statt sich draufzusetzen und loszufahren, wie vorher, ehe sie Ulrike traf? Allein, vergnügt der Landschaft und dem Leben entgegen? Sie verstand sich eigentlich selbst nicht, und sie ärgerte sich über sich. Nur, weil Ulrike so ein armseliges und lebensuntalentiertes Geschöpf war? Glücklicher schien sie in ihrer Gesellschaft allerdings auch nicht zu werden.

    Jetzt hatte sie Feldheim gefunden. Wenn sie einigermaßen richtig peilte, wo ihr augenblicklicher Standort war, konnte es nicht mehr weit sein. Halbe Stunde, höchstens. Nur der verdammte Nebel ...

    »Ich glaub’, ich hab’ es ungefähr. Wollen wir wieder? Wenn du noch länger hier sitzt, kriegst du Darmhusten«, sagte sie, stand auf und putzte sich den Hosenboden ab. »Kalt und feucht. Auf der Erde sitzen darf man erst, wenn es das erstemal im Jahr gedonnert hat. Sagte meine Großmutter immer, und die war vom Land.«

    »Jetzt kommst du schon wieder mit Weisheiten deiner Großmutter. Du bist wirklich von gestern, von vor-vor-vorgestern«, sagte Ulrike ungnädig. Da gab es bei Gina einen Kurzschluß. »Hör zu, Rike«, sagte sie, »was ich dir jetzt sage, ist mein Ernst und kein Ulk. Von mir aus kannst du hier sitzen bleiben, bist du schwarz wirst. Ohne mich. Wenn du aber mitkommst, dann bitte ich mir einen anderen Ton aus, verstanden? Mir gegenüber, und denen auch, zu denen ich jetzt gehe. Zu denen von der Fuchsfarm. Kapiert? Entweder oder.«

    »Dann entweder«, sagte Ulrike und blieb ostentativ sitzen. Gina sah sie an, kämpfte einen Augenblick mit sich, würgte das Mitleid mit der Jüngeren – oder was es war – seelisch mit beiden Händen ab und sagte:

    »Schön. Dann nicht. Ich fahre.«

    Sie klappte den Ständer des Fahrrades herum, führte das Stahlroß in die eine der ausgefahrenen Furchen und stieg auf. Es war nicht leicht, hier zu fahren, man mußte balancieren und gut aufpassen, um nicht zu kippen. Deshalb war es nicht möglich, sich umzudrehen. Wozu auch? Ulrike blieb sitzen. Gina fuhr in den Nebel hinein und war alsbald verschwunden. Die andere sah ihr nach.

    »Blödes Weib. Ich komme auch ohne dich weiter«, murmelte sie. Es klang nicht sehr überzeugt.

    Übrigens begann der Nebel sehr bald, sich zu lichten. Und auch der Feldweg nahm ein Ende, er mündete in eine asphaltierte Straße. Fast alle Wege, die auf Felder führen, sind wegen der Trecker jetzt asphaltiert.

    Jenseits sah man Wald. Gina folgte dem neuen Weg, sie hoffte, bald auf eine Straße mit Schildern zu gelangen. Das Glück war ihr hold, oder: sie hatte die Karte richtig gelesen. Feldheim, zwei Kilometer. Na also!

    Die Straße führte jetzt durch ein nicht sehr breites Flußtal am Wasser entlang, zu beiden Seiten zogen sich waldbedeckte Hänge hin. Als Gina um eine Kurve bog, lag vor ihr, oben am Hang, ein altes Gebäude, vielleicht ein Kloster. Und ein Kloster sollte in der Nähe sein, wie sie sich erinnerte. Vor dem Klosterberg, an den Hang geschmiegt, läge die Fuchsfarm – ja, das mußte sie sein. Ein niedriges, langgestrecktes Gebäude, in mehrere kleinere Gebäude unterteilt, jedes so groß wie ein mittleres Zimmer, die meisten mit einem breiten Fenster zur Straße hin, die etwa dreihundert Meter unterhalb entlangführte. Das waren zweifellos die Fuchsboxen. Die Mitte der Gebäudereihe beherrschte ein Wohnhaus, ebenfalls niedrig, indes zweistöckig, wenn man den oberen Teil mitrechnete, der auch bewohnt aussah. Allerdings hatte er wohl auf beiden Seiten schräge Wände. Rechts und links neben der Haustür war je ein Fensterchen; alles dicht bewachsen mit Efeu oder wildem Wein, was von der Straße her kaum auszumachen war. Wahrscheinlich war es Efeu, der seine Blätter auch im Winter nicht verliert. Rotes Dach, Schornstein mit Rauch, anheimelnd, fast wie im Bilderbuch. Gina drehte bei, sobald sich ein Fußweg zeigte, der hinaufführte. Es war übrigens kein ausgesprochener Fußweg; auch ein Auto konnte hier ohne allzu große Schwierigkeiten hinauffahren. Das ganze Grundstück war zur Straße hinab und offensichtlich auch den Berg hinauf durch einen freundlichen Jägerzaun mehr eingerahmt als abgezäunt; ein Eindruck, der durch das offenstehende Tor bestätigt wurde. Gina schob ihr Rad bergauf, bog ein – und begegnete auf dem plateauartigen Hof, der die Farm umgab, bereits der Verwandten, von der ihre Mutter gesprochen hatte: Anne, ihrer Cousine um sechs Ecken herum, die sie noch nie gesehen hatte. Anne schien etwas älter zu sein als sie selbst, war größer, sehr schlank, mit rotem, ganz kurzem Haar, das sich wie ein Fell um ihren Kopf lockte. Sie trug Jeans, einen dunklen Pulli, Turnschuhe.

    »Anne? Ich bin Gina, Gina Herfurt, wenn du ahnst, wer das ist«, stellte sie sich vor, ein wenig geniert, aber doch gewillt, nun durchzuführen, was sie vorgehabt hatte. Anne, offenbar sehr in Eile, bremste ab.

    »Gina? Ich ahne. Dich schickt mir der Himmel«, platzte sie heraus, »komm, gib mir dein Fahrrad. Gunnar ist wieder mal nicht heimgekommen, er wollte – und ich muß in die Schule, höchste Eisenbahn. Schmeiß den Trödel hin –«, sie schnallte bereits Ginas Packtaschen los, Gina half auf der anderen Seite. Die Taschen flogen beiseite, auch der Schlafsack, der, in Plastik verpackt, obenauf geschnallt gewesen war. Gina griff nach der Ledertasche, die an der Lenkstange hing.

    »Wieso gehst du denn noch in die –«

    »Schule? Nicht noch, sondern schon wieder. Bin Lehrerin, bei behinderten Kindern. Aber das alles später. Geh zu Merle, sie wohnt oben. Da ist übrigens Michael – he du, das ist Gina, hilf ihr tragen –«, schon saß sie auf Ginas Rad und lenkte es gekonnt um die Kurve bergab, auf die große Straße.

    »Bis Mittag – tschüß, danke!« Weg war sie.

    »Grüß dich, Michael«, Gina reichte dem halbwüchsigen Jungen, der ihr entgegenkam, die Hand. Der nahm sie zwar nicht, hatte dafür aber bereits die Packtaschen aufgehoben.

    »Grüß dich.«

    Miteinander trotteten sie dem Haus zu. Michael legte die Packtaschen auf die Bank neben der Haustür.

    »Merle ist oben«, sagte er und deutete mit dem Kopf zu der schmalen Treppe hinüber, die hinten ans Haus angebaut war und von außen in den oberen Stock führte. Es war mehr eine Hühnerleiter, ein Brett mit daraufgenagelten Querleisten, besaß aber ein Geländer.

    Merle war Annes Mutter. Sie hatte lange in Frankreich gelebt, nach ihrer Rückkehr war dann aus »la mère« durch ihren schwäbischen Mann der Name Merle geworden. Krankengymnastin von Beruf und lange mit einem freischaffenden Maler verheiratet gewesen, wohnte sie jetzt mit ihrer Tochter Anne und deren Freund Gunnar auf der Fuchsfarm, wie Gina nach und nach herausfand. Anne und Gunnar, dieses junge Paar, war jedoch kein Ehepaar, jedenfalls kein amtlich eingetragenes und vom Pfarrer gesegnetes. Gunnar war Fernsehregisseur und viel auswärts. Anne Sonderschullehrerin. Sie – und einige andere Personen, die Gina nach und nach kennenlernte – lebten auf der Fuchsfarm. Die nun seit Jahren nicht mehr in Betrieb und längst ein Wohnhaus war, in dem die Bewohner in einer losen, freundlichen, kaum fixierten Gemeinschaft lebten. Merle kochte, Anne putzte und räumte, wenn sie Zeit dazu fand – viel fand sie nie, also wurde wenig geputzt und geräumt –, und Michael reparierte. Er war Linkshänder und mit der linken Hand dreimal so geschickt wie andere mit der rechten. Gunnar brachte das Geld ein. Anne verdiente auch; auch Merle – wie es gerade kam. Jetzt also lernte Gina erst einmal Merle kennen. Das lohnte sich, fand sie.

    Frau von Koerber – die von diesen drei kleinen Buchstaben ›von‹ außer bei amtlichen Anlässen wenig Gebrauch machte – nahm Gina sogleich verwandtschaftlich-freundlich in die Arme und an ihr Herz. Sie war groß, üppig, ohne dick zu sein, und hatte jene schönen, ausgewogenen Bewegungen, an denen man ihren Beruf sogleich erkannte. Sie ging in Gesundheitssandalen und trug lange, fließende weiße Hosen und dazu einen indischen Kittel. Ihr Gesicht, von weißem Haar umlockt, war weich und voll strahlender Freundlichkeit, man sah, daß sie gern und viel lachte. Ihr war noch jenes stillvergnügte, weiche, dunkle Lachen eigen, das manche junge Frauen haben. Jetzt, als sie Gina aus der zärtlichen, sehr angenehmen Umarmung entließ, lachte sie richtig.

    »Entschuldigung, aber ich habe eben telefoniert ...«

    »Etwas Erfreuliches?« fragte Gina und sah zu ihr auf.

    »Etwas Herrliches. Ich wollte meine Schwiegertochter sprechen. Da meldete sich deren kleine Tochter. ›Nein, Maman ist nicht da, sie hat sich über Vater geärgert und war ganz böse. Und dann ist sie mit dem Auto weggefahren und hat gesagt, sie kommt nie wieder. Erst hat sie aber noch sein Bild auf die Erde geschmissen und drauf rumgetrampelt, bis es ganz kaputt war, das Glas und der Rahmen und alles –‹«

    »Und? Da lachen Sie?« staunte Gina.

    »Ja, warum nicht? Sie hat ein hinreißendes Temperament, diese meine Süße. Ich liebe sie heiß, wie meine Tochter.«

    Gina kam so schnell nicht mit. Später lernte sie, daß Merle wirklich das meinte, was sie sagte. Sie fand es nun einmal herrlich, solch ein Temperament zu haben, und verstand sich mit ihrer Schwiegertochter ausnehmend gut.

    »Komm rein, du bist Gina, ich weiß, wie nahe oder wie entfernt wir verwandt sind«, sagte Merle jetzt, »komm, wir trinken einen Tee miteinander, du bist ja ganz unterkühlt. Ich habe eine wundervolle Mischung aus indischen Kräutern. Atme mal richtig durch, ja, Bauchatmen, nochmal. Wunderbar kannst du das, bist eine Naturbegabung, die meisten Menschen müssen Atmen erst lernen.«

    Der Oberstock des Häuschens bestand aus einem einzigen Raum mit, wie Gina schon von außen gesehen hatte, beiderseits schrägen Wänden. Der Raum war nicht tapeziert, sondern hell getäfelt. Eine Hälfte war vollgepfropft mit tausenderlei Dingen. Da gab es Kommoden und Tischchen, eine Liege, einen Ofen mit Sims, auf dem Kinderspielzeug, Nippes, geschnitzte Pferdchen, Ebenholzelefanten und Scheußlichkeiten aus Blech einander bedrängten, einen Glasschrank mit altertümlichen Tassen und Gläsern, Schals, die drapiert von der Wand herabhingen, Bilder, einen Hermeskopf, eine riesige Kuhschelle und getöpferte Schälchen.

    Die andere Hälfte, die nach Süden lag, war leer. Auf der Erde lag ein dicker, weißer, wunderschön flauschiger Teppich, auf dem barfuß zu gehen ein Genuß sein mußte, an den Fenstern zurückgezogene Gardinchen, weiß, durchsichtig, an der Decke eine Holzleuchte mit indirektem Licht. Der Gymnastikraum! Gina verspürte sofort Lust, die Schuhe auszuziehen und hineinzuspringen in diesen Raum, sich zu dehnen, zu drehen, sich langzulegen und wieder aufzuspringen, den ganzen Körper zu spüren, daß es eine Lust war.

    »Wir turnen dann – ein wenig. Aber erst –« Merle hantierte mit Tauchsieder und Kanne, und ein süßer aromatischer Duft erfüllte das Zimmer, als sie den Tee aufgegossen hatte. »Ja, meine kleine Enkelin ist einmalig, wenn sie mir Bericht erstattet. Also Maman hat sich wieder einmal über meinen Herrn Sohn geärgert. Er ist ihr zu still, zu beherrscht, ihr Funkenregen prasselt auf ihn herab, aber er explodiert nicht. Gut so. Was geschähe, wenn zwei solcher Dynamit-Packungen aufeinanderprallten! Komm, nimm Zucker, es ist brauner, er schmeckt besser. Na, wird dir warm?«

    »Danke, ja wundervoll.« Gina rührte in ihrer Tasse. Merle sprach weiter.

    »Du hast also dein Abitur gemacht und radelst nun durch Deutschland? Das gefällt mir. Am liebsten führe ich mit. Zu meinem Sechzigsten haben mir die Kinder nämlich ein neues Fahrrad geschenkt, ein holländisches, siebenmal verchromt, läuft wie ein Auto. Vielleicht begleite ich dich damit ein Stück, wenn du weiterfährst, aber erst bleibst du mal bei uns. Wir haben gerade keinen Besuch, also!«

    Gina hatte nichts dagegen. Merle holte einen Teller mit selbstgebackenen Schrotbrötchen, holte Butter und Honig – Gina gefiel es immer besser. Später kam Michael und brachte die Post, brauchte Geld, Merle suchte, die Sonne schien herein und fiel auf einen geschnitzten Frauenkopf, der auf dem oberen Bord stand und herunterlächelte, jung, weich, lieblich.

    »Das hat mein Mann gemacht, als ich einmal vor den Kindern ausgerückt war, die Stehleiter hinauf. Ich hatte an der Lampe etwas in Ordnung gebracht, und die Leiter stand noch da. Die Kinder zerrten an mir, als ich wieder herunterkam, so daß ich erneut hinaufkletterte, um mich vor ihnen in Sicherheit zu bringen. Da kam er zufällig herein und sah mich da oben sitzen. Er war Bildhauer, wie du vielleicht aus der Familienchronik weißt. Im Gegensatz zu der modernen Entwicklung in der Kunst fand er es angemessener, jemanden darzustellen, wenn er nicht gerade in Wut verzerrt oder in Gram versteinert ist oder einen fingerdünnen Hals und gewaltige, ausladende Schenkel besitzt. Anatomisch ist das ja völlig falsch, aber solch eine Skulptur, meint man heute, ›sagt etwas aus‹. Er modellierte mit

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