Alles ändert sich - Sybille und Matthias
Von Lise Gast
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Buchvorschau
Alles ändert sich - Sybille und Matthias - Lise Gast
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Die Reiter kamen schräg auf Annette zu hinter einem Waldstück hervor. Sie hatte sie vor einer Weile schon gesehen, als sie noch sehr viel weiter entfernt waren, klein, filigranzart gegen den Himmel – wie Spielzeug, wie Bleisoldaten. Annette war neulich mit ihrer Klasse in einem Museum gewesen, da hatten sie unter einer Glasplatte eine Schlacht bewundert, Hunderte von winzigen Figuren, fast nur Reiter, aufgestellt in einer Landschaft aus Gips und aus mit Sand bestreuter Pappe. Daran hatte sie denken müssen, als sie diese lebendigen Reiter vorhin sah, flüchtig, kaum bewußt. Jetzt kamen sie näher, man unterschied Einzelheiten: schwarze Kappen, Jacketts, Pullover, auch ein wenig von den Gesichtern konnte man erkennen.
Gerade fielen die Pferde in Galopp. Jetzt, zur Zeit der geschnittenen Wiesen, war ihre gute Zeit, die beste – außer dem Herbst natürlich, der klassischen Jahreszeit des Reitens. Annette war stehengeblieben und beobachtete, wie der Pulk sich auseinanderzog. Erst war die Gruppe dicht und breit gewesen, jetzt wurde sie immer länger. Der erste Reiter sprang; es mußte dort ein Hindernis liegen, nicht hoch, vielleicht nur ein dicker Baumstamm – man sah es von hier aus nicht. Hopp und hopp und hopp – es wirkte, als ahmten die Folgenden den ersten nur nach. Unwillkürlich zählte Annette: elf – zwölf – dreizehn –
Dreizehn, natürlich. Alle vorherigen waren glatt hinübergekommen, Nummer dreizehn hatte Pech. Annette sah, wie der Reiter ein wenig abgehoben wurde – er ging nicht mit in der Bewegung des Pferdes, er sprang nicht, sondern wurde gesprungen –, und schon war die Einheit, die Pferd und Reiter bilden müssen, zerstört. Sie trennten sich, das Pferd sprang, der Reiter räumte den Sattel. Danach sprangen noch einige, vielleicht vier oder fünf – Annette zählte nicht mehr. Sie war, eigentlich ohne es selbst wahrzunehmen, losgelaufen, sehr schnell. Blitzstarts waren immer ihre Stärke gewesen. Außerdem trug sie, wie meist jetzt in der heißen Jahreszeit, kurze Hosen und Turnschuhe – so war sie eher bei dem Gestürzten als dessen Reiterkameraden, die ja ihre Pferde erst im Tempo einfangen und wenden mußten.
Er lag ganz still, seitlich, die Wange am Boden, die schwarze Kappe noch auf dem Kopf. Einen Augenblick lang glaubte Annette, es sei eine Frau. Das weißblonde Haar, dick aus dem Kragen herausquellend, sah sehr nach Dauerwelle aus. Aber das schmale Gesicht war jünglingshaft streng, die Augen geschlossen; abweisend sah es aus und etwas hochmütig, obwohl die eine Wange, schmutzig und aufgeschrammt, bereits anzuschwellen begann. Annette kniete bei dem Liegenden und versuchte, seinen Kopf vorsichtig ein wenig zu wenden, die Schultern anzuheben, damit man den unter dem Körper liegenden Arm hervorziehen und bequemer legen konnte. Er war so merkwürdig abgewinkelt, sicher gebrochen. Jetzt faßten auch andere Hände mit zu, behutsam, geschickt. So, nun lag er besser.
Er? Doch eine Frau.
»Sie wird gleich wieder, es ist nur der Schock. Da – na, Blanche, wieder da? Wer macht denn solchen Quatsch? Bei der Höhe dieses Hindernisses auszusteigen! War’s schlimm?«
»Woher denn! Aber blöd von mir. Moritz war hibbelig, er wollte verweigern. Ich hab es gemerkt, schon vorher. Und ich wollte – Pech. Tut aber weh, entschuldigt.«
Das schmale Gesicht war dunkelrot geworden, jetzt ebbte die Farbe wieder ab, die Augen schlossen sich. »Gebrochen, sicherlich. Liegen lassen.«
Der Reiter, der die Gestürzte vorhin mit zurechtgelegt hatte, sah Annette an. Er war älter als die anderen, hatte ein glattrasiertes Gesicht und ruhige braune Augen. »Sind Sie hier bekannt? Kann man irgendwo –«
»Telefonieren? Ja, vom Hof aus. Der liegt -«
»Könnten Sie mich hinbringen?«
»Natürlich. Arzt? Oder Krankenhaus? Oder?«
»Am besten Krankenwagen. Ich komme mit.«
»Gut.«
Annette war aufgestanden und sah zu ihm auf. Gerade wurde Moritz herangeführt, das Pferd der Verunglückten; Annette schaute hinüber. Tiefschwarz war es, klein, mit einer lustigen Nase und munteren Augen, ein Pferd zum Verlieben.
»Reiten Sie auch?« fragte der ältere Herr, als er Annettes Blick sah.
Annette zuckte die Achseln.
»Ein wenig.«
Sie hatte manchmal auf Humus gesessen, auf Onkel Herberts Wallach. Reiten konnte man das nicht nennen, wahrhaftig nicht. Aber hier –
»Wir wären schneller dort. Ich nehme ihn an den Zügeln, wenn Sie es möchten. Es wäre die beste Möglichkeit, schnell ans Telefon zu kommen.«
»Na schön«, sagte Annette rasch entschlossen. Sie hob den linken Fuß in den Bügel, zog sich am Sattel hoch. Der Mo ritz war, wie sie schon gesehen hatte, klein – sie merkte es beim Aufsteigen, kein Vergleich zu Humus. Aber drahtig war er und wollte losgehen, man fühlte es genau …
»Dort hinaus. Ja, wir können abkürzen, die Wiese ist geschnitten. Aber bitte, ich möchte nicht unbedingt-« Sie lächelte entschuldigend. Ihr Begleiter machte eine beruhigende Geste. »Jedes neue Pferd ist eine Aufgabe. Aber ich paß schon auf.« Er hatte Moritz’ Zügel in der rechten Hand und lenkte ihn neben sein Pferd. Annette hob sich in den Bügeln, sie war schon manchmal leicht getrabt. Freilich, Humus und dieses Pferd – das war ein Unterschied wie Tag und Nacht. Ganz leicht und schwebend ging, nein tänzelte das Pferd unter ihr dahin; sie hatte das Gefühl, es kaum zu berühren und ihm doch verbunden zu sein, sooft sie das Sattelleder streifte. »Jetzt links, da kommen wir auf einen Feldweg, ja, dort! Und nun geradeaus.«
Da war schon der Hof. Wie gut – und doch: wie schade eigentlich. Sie hätte noch kilometerweit so getragen werden mögen …
Da stand ihr Bruder Matthias und sah sie kommen. Bei Matthias merkte man nie, ob er sich wunderte, jetzt aber wunderte er sich bestimmt. Daß seine Schwester reiten konnte – es sah wirklich so aus, als könnte sie, auch wenn der Herr neben ihr Moritz am Zügel führte.
»Darf ich – würden Sie die Pferde halten? Ich möchte dringend telefonieren, ein Unfall.«
Matthias hatte sogleich zugegriffen und stand nun, beide Pferde am Zügel haltend, und sah zu Annette auf. Die hob das rechte Bein über die Kruppe und stieß sich vom Pferd ab, während sie heruntersprang.
»Gut, nicht? Das ist aber auch ein Pferd, ich sage dir! Geht wie ein Traum!«
»Schlimmer Unfall?« fragte Matthias.
»Weiß nicht. Eine Frau. Ja, doch. Wahrscheinlich das Bein gebrochen und noch was dazu. Matthias, also ich kann dir sagen …«
»Ich habe den Krankenwagen hierher bestellt, es ist wohl am günstigsten so«, sagte der Reiter, zurückkommend, und schob seinem Pferd die Bügel hoch.
»Ich glaube, wir lassen die Pferde am besten hier. Haben Sie Platz im Stall oder in einer Scheune, oder stellen wir sie einfach auf die Koppel? Zu zweit werden sie ja wohl vernünftig sein und keine Panik machen.«
Er griff unter das Sattelblatt und öffnete den Gurt, hob den Sattel herunter. Annette tat dasselbe bei Moritz. Matthias zog beide Pferde um das Haus herum zu der kleinen Weide, auf der Humus manchmal stand, ehe Onkel Herbert wegritt.
»Schieb die Stange zurück, ja so. Hier haben sie es gut. Halfter herunter? Sind sie gewöhnt, so zu laufen?« fragte er über die Schulter zurück. Der Reiter nickte. Matthias schnallte die Kehlriemen auf und zog die Halfter über die Pferdeköpfe herunter.
»Lauft, ihr beiden Hübschen!«
Sehr schnell war der Krankenwagen da. Der ältere Herr – Lorenz hieß er, er hatte sich vorhin vorgestellt – stieg hinter Annette ein. Annette hatte sich immer gewünscht, einmal mit Tatütata und Blaulicht zu fahren, hier aber schwieg die Fanfare, und Kreuzungen, die man mit Rotlicht überfahren durfte, gab es im Wald auch nicht. Als sie am Unfallort ankamen, war die Reiterin bei Besinnung.
»Ja, der Arm ist bestimmt gebrochen, ich kann ihn nicht bewegen«, sagte sie, »Gottlob der linke. Aber mein eines Bein macht mir auch Sorge!«
Die beiden Träger hatten die Bahre neben ihr abgesetzt. Sie versuchte sich aufzurichten.
»Halt, nein, liegengeblieben! Wozu sind wir denn da!« Annette stand dahinter und sah zu, wie die zwei Männer geschickt und ruhig zupackten. Dann wurde die Bahre angehoben und in den Wagen geschoben.
»Fahren Sie mit?« fragte Herr Lorenz. Annette stieg vorn ein. Sie hörte noch, wie einer der draußen stehenden Reiter zum anderen sagte: »Und ausgerechnet Blanche! Wer hätte das gedacht!«
»Kann jedem passieren«, sagte der andere achselzuckend. Annette aber kam plötzlich eine Idee: Blanche, das war doch …
Auf der Rückfahrt vom Krankenhaus fragte sie Herrn Lorenz dann. Und es stimmte! Sie hätte es sich denken können. So mußte Blanche einfach aussehen!
Es gab in der Stadt eine Boutique, die alle jungen weiblichen Augen anzog, vielleicht nicht nur die jungen. »Chez Blanche« stand in Popbuchstaben über der Ladentür. Dort gab es Dinge, die einem das Herz schneller schlagen ließen, die einen sehnsüchtig machten: Röcke und Hosen in allen Variationen, superlang oder ganz kurz, aus Leder oder anderen kostbaren Materialien und in traumhaften Farben: Rostrot bis Tiefbraun, Beige in den tollsten Abstufungen, Frechgrün neben einem nebelhaften Blau. Westen waren da und Jacken, Stiefelchen, rustikal oder verspielt, Sandaletten, Schmuck, Schals – das alles gab es bei Blanche, traumhafte Dinge, erlesen, einmalig. Dort einmal kaufen zu können … Es war natürlich Traumtänzerei, auch nur daran zu denken, daß man das einmal könnte. Im vorigen Herbst, als Annette ein paarmal tanzen gewesen war, hatte sie natürlich auch die andern Mädchen, die in jenen Lokalen aus und ein gingen, angesehen. Eine junge Dame kam einmal, die war angezogen, als habe sie sich bei Blanche eingekleidet. Lange Hose aus weichstem Leder, Weste mit Verschnürung, Bluse wie ein Traum und dazu modernen Schmuck, barbarisch und trotzdem geschmackvoll bis ins letzte.
»Die trägt ihre zweitausend Mark auf sich spazieren«, hatte Günter, Annettes Tänzer, nach einem kurzen abschätzenden Seitenblick gesagt. Annette wußte es noch wie heute, ob- wohl sie nicht besonders gern an damals dachte – vor allem nicht an Günter.
Aber jetzt, jetzt hatte sie Blanche kennengelernt, ihr helfen können, sogar ihr Pferd geritten! Sie bezeichnete es bei sich als Reiten, wenn sie auch im untersten Fach ihres Gehirns genau wußte, daß es nur ein Draufsitzen gewesen war. Auf jeden Fall aber hatte sie jetzt die Gelegenheit, der Verunglückten einen Besuch zu machen. Nach ihr zu sehen, im Krankenhaus. Hurra, das würde sie tun! Das erforderte die Höflichkeit, zum mindesten, aber auch Herz und Gemüt! Annette war sehr für Höflichkeit und Herz und Gemüt, für alles, was sie früher wahrscheinlich hochmütig abgelehnt hätte, wenn sie nur dadurch mit Blanche in Kontakt kam. Endlich! Endlich blendete das Leben auf!
Es war auch gar zu triste gewesen in letzter Zeit, fand Annette, als sie später im Bett lag und noch einmal die letzten Monate überdachte. Mutter war noch immer nicht ganz auf der Höhe nach ihrem Krankenhausaufenthalt, obwohl – o ja, etwas Auftrieb hatte ihr die Sache schon gegeben. Jene Sache mit dem Preisausschreiben. Mutter töpferte, und einmal beteiligte sie sich an einem Wettbewerb, eigentlich mehr aus Zufall. Eine Fluggesellschaft suchte ein Modell für ein kleines, hübsches, praktisches Kaffeegeschirr, ein Einmanngeschirr sozusagen. Mutter hatte es eingeschickt oder vielmehr einschicken lassen, der Vater von Annettes Freundin Sybille hatte es für sie getan. Annette erinnerte sich noch genau an den Tag, als die Antwort der Jury bei ihnen eintraf …
Es war im Februar dieses Jahres gewesen, kalt, kein Schnee. Mutter mühte sich in der Küche, die Trommel aus der Waschmaschine herauszubekommen; ein Wäschestück war danebengefallen und mußte sich verklemmt haben. Die Maschine war ein unpraktisches Modell, sie hatten sie gebraucht gekauft. Immer wieder kam es vor, daß die Trommel nicht fest schloß, und dann verklemmte sich, was herausfiel, und man konnte von Glück sagen, wenn es keinen Kurzschluß gab. Diesmal hatte Mutter es rechtzeitig genug gemerkt, um abschalten zu können, aber heraus bekam sie die Trommel nicht, sosehr sie sich auch mühte. Matthias war nicht da, und Heidel und Annette hatten sich beide schon daran versucht. Da kam Kay herein und krähte: »Post!«
Er trug die Zeitung und ein paar Briefe in der schmutzigen kleinen Hand.
»Leg sie hin, ich muß erst die Maschine in Ordnung haben«, sagte Mutter halb verbissen, halb resigniert; sie bekam es ja doch nicht fertig. »Es muß heraus, wir können ja sonst morgen auch nicht waschen und übermorgen!«
Sie zog und zerrte.
»Soll ich mal Onkel Herbert rufen?« fragte Heidel schließlich. Mutters Bruder, der den Hof bewirtschaftete, konnte ja, so fand sie, auch ein einziges Mal als hilfreicher Engel erscheinen. Mutter wandte sich um.
»Onkel Herbert? Nein, lieber nicht. Er sagt schon immer, bei uns geht nichts in Ordnung. Immer ist was, immer hakt es irgendwo, wo es bei andern Leuten automatisch glatt läuft. Tante Gretas Waschmaschine funktioniert immer.«
»Kein Wunder, die ist neu«, sagte Annette wütend.
»Und unsere stammt aus der mittleren Steinzeit und zerreißt auch noch die Wäsche, wenn sie wirklich einmal läuft.«
Sie hatte gerade erleben müssen, daß ihr einziges wirklich hübsches Nachthemd zerrissen aus der Wäsche kam. »Lieber eine Waschmaschine, die funktioniert, und die auf Raten, als so ein unmögliches Ding wie unseres, das doch nicht läuft.«
»Auf Raten – das wär das letzte«, sagte Mutter und gab es auf. »Vater hat nie – er sagte, man darf