Christiane und die großen Brüder
Von Lise Gast
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Christiane und die großen Brüder - Lise Gast
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Ein bißchen viel
An einem Samstag im Juni kam Dr. Debschütz etwas früher als sonst nach Hause. Seit seine Frau im Krankenhaus lag, quälte ihn immer eine Unruhe, wenn er auswärts zu tun hatte. Wenn er sich auch sagte, daß ja die Nanna daheim schaltete und waltete und auch Christiane noch da wäre, so beeilte er sich doch, nach Hause zu kommen. Er liebte sein vor vier Jahren erstandenes Doktorhaus, als gehöre es seiner Familie schon seit Generationen. Er liebte den Garten mit den Fliederbüschen und der alten Rotbuche, den Sitzplatz vor dem Wohnzimmer und die hellen, sonnigen Räume, und jeden Tag freute er sich von neuem auf die Kinder.
Seiner Frau ging es seit zwei Tagen wieder viel besser. Nur wegen der Ansteckungsgefahr mußte sie noch im Krankenhaus bleiben. Das fiel ihr sauer genug, aber schließlich lachte sie doch darüber.
„Die schönste Jahreszeit muß ich hier vertun, murrte sie zwar, „Pfingsten, das liebliche Fest! Ist das nicht unerhört? Ich muß doch mal einen tüchtigen Arzt zuziehen, was meinst du?
Er hob warnend den Zeigefinger.
„Meine liebe Frau, viel hätte nicht gefehlt …"
„Ich weiß, ich weiß, und ich will mich ja auch bescheiden. Wirklich! Will Geduld haben und mich nach Leibeskräften erholen und schonen, wenn ich schon nichts anderes tun darf. Aber stricken darf ich dabei, Erich, oder? Na also, du bist doch der entzückendste Leibarzt der Welt. Christiane soll mir Wolle besorgen, dünne, dunkelblaue Perlwolle, sie weiß schon, welche, aber einen ordentlichen Haufen, und Nadeln dazu. Und dann soll sie — ja, sag ihr das, die Nanna vergißt es doch wieder, sag Christiane, sie soll …"
Der Doktor schüttelte den Kopf und zog sein Notizbuch. Ihm schwirrte der Kopf von all den Aufträgen, die seine Frau ihm mitgab: Stachelbeeren einkochen und Betten sommern und — und, und … Ein vom Krankenhaus aus gelenkter Haushalt ist wahrhaftig keine einfache Sache. Und bei fast allem, was sie auftrug, setzte seine Frau hinzu:
„Sag Christiane! Frag Christiane, sie wird es wissen. Und vergiß nicht, Christiane auszurichten …"
Es war ein schimmernder, schöner Tag heute. Der Doktor summte vor sich hin, als er zu seinem letzten Krankenbesuch fuhr. Samstags macht jeder Bettelmann eher Feiertag; und in dieser Jahreszeit waren nicht allzu viele Menschen krank, dazu war das Wetter zu schön. Genau wie vor Weihnachten, wenn sich kurz vor den Feiertagen alles beeilt, gesund zu werden. Auch das Krankenhaus begann sich jetzt, acht Tage vor Pfingsten, zu leeren. Womöglich war seine Frau zum Fest die einzige, die noch dort blieb.
Es tat ihm leid, daß er sie noch nicht heimholen konnte. Aber er war dankbar, daß sie ihm nicht genommen worden war — einige Tage hatte es sehr übel um sie gestanden. Der Schrecken saß ihm noch im Herzen. Kam es denn auf acht Tage an, auf ein getrennt verlebtes Pfingstfest, wenn der liebste Mensch, der beste Kamerad, dem Leben wiedergegeben war?
Der Doktor bog in den Garten ein und hupte dreimal lang und durchdringend. Hier auf eigenem Grund und Boden waren solche Lausejungenmanieren gestattet, und der Doktor erholte sich von all der Behutsamkeit und Vorsicht im Beruf gern mit mutwilligem und übermütigem Radau zu Hause. Sofort wimmelten aus allen Ecken die Kinder hervor. Dr. Debschütz lachte. Solch ein Empfang ließ ihn alle Arbeit und allen Ärger vergessen.
Das war nicht immer so gewesen. Jahrelang hatten sich seine Frau und er in Berlin gemüht, daß sie sich einmal Haus und Garten in Süddeutschland kaufen konnten. Es waren schwere und entsagungsvolle Jahre gewesen. Einmal sah es auch so aus, als habe man Unwiederbringliches dabei verloren. Das war damals, als sie Christiane, die bei den Großeltern aufgewachsen war, mit zehn Jahren in die Familie zurückgeholt hatten. Anfangs konnte sich ihr ältestes Kind gar nicht eingewöhnen, sondern wurde vor Heimweh nach den Großeltern den Eltern immer fremder. In ihrem eisernen Willen, vorwärts und zu etwas Eigenem zu kommen, hatten sie fast das Herz ihres ältesten Kindes verloren … Wie dankbar war er damals seiner Mutter gewesen, die dies mit ihren sanften und klugen Händen wieder zurechtbog und Christiane, an der sie selbst so hing, dorthin führte, wohin sie gehörte. Seine Frau hatte die Gefahr nicht so gesehen wie er; sie war so bodenständig und so frisch vergnügt, von so gesunder Art, daß sie sich gar nicht vorzustellen vermochte, daß es heimliche Wunden in Kinderherzen geben kann. Sie dachte: Wenn etwas weh tut, kommen die Kinder zu ihrer Mutter und weinen, und sie tröstet, und der Vater verarztet — basta! Daß es auch heimliche Schmerzen geben kann, ungesagte Worte, ungeweinte Tränen, das hielt sie für unmöglich.
Er hatte Christiane damals beobachtet und einiges von dem, was in ihrem Herzen vor sich ging, verstanden. Heimgeführt aber hatte sie schließlich die Großmutter. Seit dieser Zeit war ihm immer, als müsse er auf Christiane besonders achtgeben, als sei sie die Aufgabe seines Herzens, obwohl sie ein stilles und eigentlich sehr leicht zu lenkendes Kind war. In der Schule fiel es ihr leicht, mitzukommen, zu Hause war sie manierlich und höflich — die Großmutter hatte sie in aller Sanftheit und Stille ganz prächtig erzogen — und alle hatten sie gern. Aber, aber …
Er kam nicht dazu, seine Gedanken zu Ende zu spinnen, denn jetzt stürzte die Kinderschar, durch sein Hupen angelockt, herbei. Mein Gott, was bin ich reich! dachte er voller Dankbarkeit, was sind wir reich — ach, daß ich das noch sagen kann! Meine Frau lebt und wird weiterleben.
Rainer, barfuß und in Lederhose, schwang sich sofort in den Wagen; er sah wahrhaftig nicht aus, als wäre er eben erst elf Jahre geworden. Groß und mit einer hohen Stirn, mit wachen und lebhaften Augen hätte man ihn glatt für einen Dreizehnjährigen halten können. Er fuhr schon Auto wie ein Alter, baute den Vergaser aus und wechselte auch das Rad. Ein Glück, daß der Doktor noch mehr Söhne hatte, sonst würde er gewiß bedauern, wenn der Junge einmal kein Arzt werden wollte! Aber es waren ja noch zwei jüngere Buben da!
Roland oder Brüdi, wie er in der Familie noch oft genannt wurde, obwohl er sich heftig dagegen sträubte, war von anderem Schlag. Er machte dem Doktor jetzt Sorgen. Zu schnell gewachsen, war er zur Zeit blaß, meist schlechter Laune und trotz des schönen Wetters fast immer erkältet. Christiane achtete darauf, daß er sich immer warm anzog. Auch jetzt trug er einen ärmellosen Pullover über dem Hemd und feste Schuhe an den Füßen, weshalb er auch sofort maulte. Rainer dürfte immer barfuß laufen, und er nie, und …
„Warte nur, Brüdi, wenn dein Schnupfen vorbei ist, läufst du den ganzen Tag barfuß", tröstete der Vater und öffnete die linke Autotür, damit der Junge auf seinen Schoß klettern konnte. Brüdi war nicht so fix und gewandt wie Rainer, man mußte ihm immer ein bißchen helfen. Rolf dagegen, der noch nicht in die Schule ging, hatte wahrhaftig keine Hilfe nötig; er war überall und nirgends und immer vorneweg.
Heute war er allerdings nirgends. Dafür sauste etwas Rosiges, Blankes über den Sitzplatz und hopste die Terrassenstufen hinunter. Rainer erspähte das Schwesterchen zuerst und schrie: „Regine, du Lumich!"
„Was ist denn das wieder für ein Wort?" sagte der Vater lachend und gab Rainer einen Katzenkopf. Hinter dem Schwesterchen tauchte Christiane auf. Sie war etwas abgehetzt und ärgerlich, mußte aber doch lachen, als sie die Kleine sah. Sie ließ sie, gutmütig und mit einem gewissen mütterlichen Stolz, ins Auto klettern, was dem kleinen Nacktfrosch geschickt und flink gelang.
Regine war noch so ein ganz kleines ,Tier‘, das man fütterte, hübsch anzog und an dem man sich freute — von Kind zu Kind empfand man das tiefer und stärker. Das erste — du lieber Gott, das fand man mit vier Jahren schon groß, und von ihm verlangte man Verstand und Einsicht. Wieviel besser hatten es da die Nachgeborenen! Dr. Debschütz sah auf seine beiden Töchter, die vierzehnjährige und die vierjährige, und viele Gedanken gingen ihm dabei durch den Kopf.
Er liebte Christiane. Er liebte zwar auch seine Söhne und auch das jüngste Töchterchen, aber mit Christiane verband ihn eine innige und sehr scheue Liebe. Vielleicht sah er in Christiane das verjüngte Abbild seiner eigenen Mutter, an der er sehr hing und bei der Christiane groß geworden war. Vielleicht aber liebte er dieses Kind anders, weil er es erst mit zehn Jahren übernommen hatte. Damals war Christiane schon eine Persönlichkeit gewesen und kein erst noch zu formendes Wesen, über das man sich täglich ärgern mußte. Er jedenfalls empfand Christiane ganz als Menschen und fast gar nicht mehr als Kind …
Sie war jetzt bald fünfzehn Jahre alt und wirkte groß, aber durch ihren feinen Gliederbau nicht allzu groß für ihr Alter. Sie trug das braune und ein wenig wellige Haar noch immer in hängenden Zöpfen, schräg gescheitelt; das ließ sie kindlicher erscheinen als sie war. Wie sie lief und jetzt das Schwesterchen aus dem Auto hob, liebevoll ausschalt und in die Höhe hob — wie ihre braunen, schmalen Knie unter dem bunten Trachtenrock hervorsahen!
Ganz in Gedanken erlaubte der Doktor seinem Ältesten, den Wagen in die Garage zu steuern, was bei Brüdi sofort zu Wuttränen und wildem Neid führte. Ohne recht zu wissen, was er sagte, beruhigte er den Tobenden und ging mit ihm hinter Rainer her, um den Schlüssel abzuziehen und die Garage zu schließen.
Im Sprechzimmer warteten noch drei Patienten selbst am „freien" Samstagnachmittag auf ihn. Als er den letzten versorgt hatte, zog es ihn ins Kinderzimmer hinauf. Es war inzwischen sieben Uhr geworden. Die Sonne schien noch hell und munter herein, und die Tür zum Bad stand offen. Samstäglich unordentlich lagen die Wäschestücke der Kinder auf dem Fußboden, ein