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Die Stille und das Pferd: Pilgerreise zum Rande der Welt
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eBook346 Seiten4 Stunden

Die Stille und das Pferd: Pilgerreise zum Rande der Welt

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Über dieses E-Book

Wenn Du bei Dir bist, kannst Du nicht verloren gehen.

Als Andrea und ihre Stute Lady aufbrechen, um eine Woche lang durch die Eifel zu wandern, da erfüllt sich ein großer Traum für die beiden. Sie wollen "auf Abenteuer gehen", die menschenleere Weite der Eifel durchmessen und jeden Abend woanders Herberge nehmen. Während Andrea anfänglich mit Karte, Kompass und kruden Kreuzungen zu kämpfen hat, spürt sie irgendwann, dass es der innere Faden ist, dem sie eigentlich folgen. Lady übernimmt die Führung und die beiden gelangen an einen Ort, wo die Stille ihnen die Geheimnisse des Lebens zuflüstert.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum8. Feb. 2017
ISBN9783734589034
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    Buchvorschau

    Die Stille und das Pferd - Andrea Klasen

    Von Schwerte-Ergste nach Kelberg

    Am Anfang sind Wünsche ganz klein. Sie sind nichts mehr als winzige Hoffnungen, die manchmal aufblitzen und ein leichtes Beben in unseren Herzen auslösen.

    Das Schöne an den Wünschen ist, dass sie größer und größer werden, je mehr Raum wir ihnen geben. Und eines Tages sind sie so groß, dass wir sie unmöglich weiter übersehen können. Wie Granitblöcke stehen sie dann vor uns und lassen sich nicht mehr wegschieben.

    Das ist der Moment, in dem man sein Pferd von der Wiese holt, auf den Hänger führt und losfährt.

    Lady und ich, wir machten uns am 14. Juni 2015 auf den Weg. Unser Ziel: die menschenleere Eifel. Menschenleere war uns wichtig, weil wir beide aus einer Gegend kommen, die dünn besiedelt ist und viel Raum zum Atmen lässt. Gerne wären wir in unsere Heimat zurückgekehrt, um dort einen Wanderritt zu machen, aber die Menschen in Wittgenstein sind Fremden gegenüber karg und mürrisch, und es wäre vermessen gewesen, sie um Kost und Logis zu bitten.

    Die Eifel bietet beides: Menschenleere und Gastfreundschaft.

    Ein Netz von Wanderreitstationen zieht sich über das große Gebiet, das im Westen an Belgien und Luxemburg grenzt, im Süden Rhein- und Moseltal berührt, sich im Osten an die niederrheinische Bucht schmiegt und in nördlicher Richtung Aachen tangiert.

    Lady und ich, wir wollten uns aus Schwerte kommend, über die A 1 der Eifel nähern. Tatjana, eine Stallkollegin, hatte sich bereit erklärt, Lady und mich dorthin zu bringen. Nun saß ich in ihrem bequemen Geländewagen. Lady hinter uns wissend.

    Tatjana ist eine sehr gute Fahrerin, und ich wusste Lady bei ihr in sicheren Händen. Sie selbst war unzählige Male mit ihren beiden Pferden und ihrem Mann in die Lüneburger Heide gefahren, um Ferien zu machen. Dort hatten sie lange Ritte unternommen und Tatjana erzählte mir auf unserer Fahrt, wie sie sich einmal in einem Moor so sehr verirrt hatten, dass sie und ihr Mann sich nicht mehr zu orientieren wussten. Es wurde dunkel und sie lenkten ihre Pferde spürbar im Kreis. Bis Tatjana merkte, dass ihr Tinker-Wallach den Weg hinaus aus der Endlosschleife wusste.

    „Okay, Wicklow, dann geh", forderte sie ihn auf, und legte die Zügel auf seinen Hals. Als erstes drehte sich der große kaffeebraune Schecke in die entgegengesetzte Richtung, wartete, bis sein Pferdefreund Kilkenny sich auch ausgerichtet hatte, und marschierte dann los. Wicklow wählte den direkten Weg, durch dichte Kiefernwälder, er durchschritt weite Sandkuhlen, einen Bach mit steil abfallender Böschung und plötzlich stand er auf einem Wanderweg, den Tatjana und ihr Mann wiedererkannten.

    Tatjana streichelte ihrem großen Kaltblut den Hals. Nun würden sie den Rest des Weges hin zum Ferienstall gut finden.

    Sie wandte den Kopf zu mir: „Andrea, wenn Du zweifelst, höre immer auf Dein Pferd."

    Wie recht sie haben sollte.

    Ich packte meine Brote aus und bot Tatjana eine Stulle an. Es ist eine Angewohnheit aus Kindertagen, dass ich schon in der ersten Reisestunde mindestens die Hälfte meines Proviants vertilge. Ich wusste ehrlich gesagt gar nicht, wie ich das während meines Wanderrittes machen sollte; morgens würde es Frühstück geben, für den Tag ein Lunchpaket und erst am Abend eine warme Mahlzeit. Ich bin ein Mensch, der stets mittags warm isst. Seit ich nicht mehr zuhause lebe, koche ich mir jeden Mittag etwas Frisches, und wenn ich bis 14 Uhr nichts zu essen bekommen habe, kann es passieren, dass sich schlechte Laune in mir breit macht. Wie sollte ich lediglich mit belegten Broten über den Wandertag kommen? Bäckereien würde es am Wegesrand wohl kaum geben. Ich würde also jeden Morgen so viel wie möglich frühstücken, um einen Energievorrat anzulegen.

    Lady hatte es da einfacher: als Pflanzenfresserin kann sie immer Brotzeit machen, denn Gras und Kräuter wachsen überall. Ich hatte mir vorgenommen, Lady alle zwei Stunden ausgiebig fressen zu lassen, denn wenn Pferde über vier Stunden ohne Nahrung sind, übersäuern sie und bekommen Magenschmerzen oder sogar Geschwüre.

    Ich knabberte weiter an meinem Käsebrot. Es würde schon alles gut werden, und ich war ja auch bereit, geliebte Gewohnheiten über Bord zu werfen.

    Lady und ich, wir würden in der kommenden Woche jeden Tag woanders übernachten. Für mich hatte ich bei jeder unserer sechs Stationen ein Drei-Gänge-Menu am Abend gebucht, Frühstück und Lunchpaket, und für Lady Heu und Kraftfutter. Ich war sehr gespannt, wie meine Gastgeber kochen würden, denn sie waren ja keine Profiköche. Die Philosophie des Vereins „Eifel zu Pferd", in dem die dreiunddreißig Wanderreitstationen organisiert sind, ist es, für den Wanderreiter so zu kochen, als kämen Freunde zu Besuch, die man verwöhnen möchte.

    Eine Stallkollegin, die schon mehrmals Urlaub bei Julia Braun in Odesheim gemacht hatte, meiner dritten Station, schwärmte mir von ihrem phantastischen Essen vor. Ich fand die Idee, dass die Hofbesitzer für ihre reitenden Gäste kochen, sehr reizvoll, ungewöhnlich und spannend.

    Für Lady hatte ich an jeder Station einen Weidepaddock gebucht. Also eine kleine Koppel, wo sie nach Herzenslust fressen, sich wälzen und bewegen kann. Ganz so wie sie möchte. Noch nie musste Lady in einer Box hausen. Seit ihren Kindertagen lebt sie unter der Weite des Himmels, auf riesigen Wiesen. An ihrem Geburtsort, wo sie ihre ersten zwölf Lebensjahre verbracht hat, habe ich sie kennen gelernt.

    Ihre Vorbesitzer hielten es so, dass die Pferde nur in Nächten, in denen es ununterbrochen schneite, für ein paar Stunden in den Stall kamen. Die Boxen dort hatten keine Gitter und waren recht geräumig, aber Lady konnte diesen kurzzeitigen Verlust ihrer Freiheit kaum ertragen. Nach ein paar Stunden warf sie sich mit voller Wucht gegen die Boxentür und sie hätte Schrammen und Prellungen in Kauf genommen, nur um ihre Freiheit wieder zu erlangen. Lady tut die Dinge mitunter mit entschiedener Kompromisslosigkeit.

    Nach solchen Schneenächten fuhr ich am Morgen ganz früh zu ihr und befreite sie. Tänzelnd lief sie dann auf dem Weg zur Wiese neben mir her, blies ihre Atemluft in weißen Wölkchen durch ihre großen Nüstern, zerknirschte den Schnee unter den Hufen, und während der Himmel noch zwischen rosa und hellblau wählte, und die Welt in ein weiches Pastell färbte, stob Lady in wilder Freude galoppierend bis ans Ende der Koppel davon. Eingehüllt in eine flirrende Schneewolke.

    „Wo habt Ihr Euch eigentlich kennengelernt, Lady und Du?", riss Tatjana mich aus meinen Gedanken.

    Ich sah zu ihr hinüber.

    „Das erste Mal sind wir uns an einem wirklich kalten Wintertag begegnet", begann ich, und ich war froh, gedanklich auf jener Wiese bleiben zu können, auf der Lady gerade noch durch den gold schimmernden Pulverschnee galoppiert war.

    „Es war der 8. Dezember 2007 gegen 13:30 Uhr", erzählte ich mit pathetischer Stimme, und Tatjana musste über die genaue Zeitangabe schmunzeln. Der Begegnungstag mit seinem Pferd wird in den meisten Mensch-Pferd-Ehen zelebriert wie ein Hochzeitstag.

    Ich hatte mir damals endlich ein Herz gefasst und Tessa Blomberg, die junge Frau, die meinen Eltern neben ihrer Anstellung als Industriekauffrau im Haushalt half, gefragt, ob ich sie einmal zu ihren Pferden begleiten dürfe. Ihre Eltern besaßen einen Bauernhof und mehrere Pferde. Durch mein Studium und eine Kräfte raubende Beziehung hatte ich eine lange Pferdepause einlegen müssen. Tessa sagte Ja und so stand ich in eisigem Wind der Dunkelfuchsstute gegenüber, die kurze Zeit später mein Leben retten sollte.

    Mit Eiszapfen im Fell stand Lady da, etwas abseits von den anderen. Ihre Mähne war lang und verfilzt. Sie bewegte sich nicht, doch in ihren meerestiefen Augen schimmerte die ganze Welt. Ihr Blick traf mich mitten ins Herz, und ich blieb ehrfürchtig einige Meter vor ihr stehen.

    Lady ist „ein Kind der Liebe". Ihre Mutter war ein Haflinger namens Flora gewesen. Eine eingetragene Zuchtstute, die jedes Jahr ein Fohlen bekam. Ein Haflingerfohlen natürlich.

    Anders entwickelten sich die Dinge, als Little, ein Araber-Morgan-Mix, als Pensionspferd zu den Blombergs kam. Der schmucke Braune war vor einem halben Jahr kastriert worden, und so ließ man ihn ohne Bedenken zu den Stuten. Merle, eine weiße Reitponystute und Flora, Ladys Mutter, ließen sich von Little umgarnen. Und obwohl kastriert, beherrschte er noch immer die ganze Kunst der Verführung und beglückte erst Flora und dann Merle.

    Elf Monate später, als Little den Hof längst wieder verlassen hatte, kam im März 1996 ein kleines Stutfohlen zur Welt: mit dunkelroter Farbe und einem weißen länglichen Abzeichen im Gesicht, das mit einer Schnippe auf der Oberlippe endet. Genau wie ihr Vater hat Lady hinten rechts eine weiße Fessel.

    Mit wachen Augen, einem Seepferdchenkopf und noch feuchtem Fell schaute sie sich in jener Nacht um.

    Als die Blombergs in den Stall kamen, blickten sie voller Verwunderung auf das rote Fohlen. Sie hatten mit blondem Nachwuchs gerechnet. Dieses kleine Knäuel mit den noch wackligen Beinen sah einem Haflinger so gar nicht ähnlich, und sofort fiel der Verdacht auf Little. Und als ein halbes Jahr später eine kleine hellere Fuchsstute mit breiter Blesse auf die Welt kam, da waren die Blombergs noch mehr verwundert, dass ein kastrierter Hengst gleich zweimal erfolgreich Papa werden konnte.

    Lady wurde Ruths Pferd, Ruth ist Tessas Schwester, und die beiden verbrachten eine herrliche Jugendzeit miteinander. Bis für Ruth die Jungs interessanter wurden, und Ladys Mähne zu verfilzen begann.

    Scarlett, Ladys später geborene Halbschwester, war das Pferd von Tessa, die ein Gleichgewicht zwischen Jungs und ihren Pferden herstellen konnte.

    Lady kümmerte sich um ihre inzwischen alte Mutter Flora, räumte ihr den Weg zum Futter frei und passte auf sie auf. Als Flora mit fünfunddreißig Jahren starb, und Ruth ihre Lady noch nicht einmal mehr begrüßte, wenn sie sie sah, da fühlte sich Lady oft wie das fünfte Rad am Wagen. Sie hatte keine Bezugsperson mehr.

    Bei unserer ersten Begegnung an jenem kalten Dezembertag, wirkte Lady auf mich sehr ruhig, so, als habe sie sich in ein Schneckenhaus zurückgezogen. Nachdem ich eine ganze Weile vor ihr gestanden hatte und in ihren meerestiefen Augen versunken war, näherte ich mich ihr vorsichtig, und in ihrem Inneren musste ein Feuerwerk explodiert sein, als sie meinen Geruch, der über die Jahrhunderte unverändert geblieben war, in ihre wartenden Nüstern aufsog. Denn wir kennen uns schon viele Leben. Sie beobachtete mich genau, blieb jedoch äußerlich weiterhin bewegungslos. Später erzählte sie mir, dass sie gelernt hatte, brav zu sein, die Dinge zu tun, die von ihr verlangt wurden. Mehr nicht. Eigeninitiative war nicht erwünscht.

    An unseren ersten Ausritt kann ich mich kaum erinnern. Ich weiß nur, dass ich mich auf Ladys Rücken sehr wohl fühlte, und nach zwei Stunden trotz der schneidenden Kälte nicht mehr absteigen wollte. Ich hatte meinen Platz gefunden.

    Von nun an fuhr ich jedes Wochenende zu ihr ins dreißig Kilometer entfernte Wiesenhausen, einem Ort in meiner Heimat Wittgenstein im Rothaargebirge. Anfangs begleitete mich Tessa bei unseren Ausritten, dann ließ sie mich endlich allein gehen. Ich genoss es sehr, mit Lady stundenlang durch verschneite Fichtenwälder zu streunen, an immer derselben Stelle den vier Hirschkühen zu begegnen, und im Frühjahr durch einen langen Tunnel aus hellgrünen Buchen zu reiten.

    Lady wurde immer unverzichtbarer für mich. Egal wie kalt es war, egal wie dick die Eisschicht auf den Straßen war, und egal, dass ich nicht wusste, was mein Freund in dieser Zeit machte, - jeden Samstag und Sonntag fuhr ich zu ihr.

    Noch immer war sie verhalten, doch ihr Blick wurde weicher.

    Da Ruth mit Lady die meiste Zeit in vollem Galopp durch den Wald geprescht war und irgendwann gezwungenermaßen bremsen musste, trug Lady ein Pelham, eine recht scharfe Zäumung mit zwei unterschiedlichen Hebelstärken. Nach ein paar Ritten schnallte ich die Zügel in den ersten oberen Ring, um die Hebelwirkung auszuschalten. Doch selbst das tat mir noch weh. Die starre Gebissstange lag noch immer auf Ladys Zunge und ihrem Zahnfleisch. Über dem Zahnfleisch der Pferde befindet sich lediglich eine dünne Schleimhaut, darunter liegen gleich die Nervenknospen. Metall im Pferdemaul ist für mich schlicht Tierquälerei.

    Lady war ein „heißes" Pferd, das meist tänzelnd durch den Wald lief, immer in Erwartung eines erleichternden Galopps. So gerne ich selber galoppiere, ich wollte, dass Lady entspannen lernt, und ritt sie deshalb ein halbes Jahr lang nur im Schritt am langen Zügel durchs Gelände. Sobald ich die Zügel etwas aufnahm, wollte sie losschießen. Mit großer Geduld erklärte ich ihr immer wieder, dass sie atmen solle, ich einen ruhigen Schritt wolle und sie wirklich entspannen könne. Ladys Oma, eine weiße Araberstute, war als Rennpferd gelaufen, und Lady schien zu jeder Zeit sämtliche Geschwindigkeitsrekorde brechen zu wollen. Sie war und ist unglaublich schnell.

    Irgendwann, als sich das Laub für einen goldenen Herbst schmückte, schnaubte Lady am langen Zügel, senkte Hals und Kopf nach unten, und atmete tief ein und aus. Ich hatte sie überzeugt, dass auch in einer gemächlicheren Reisegeschwindigkeit eine gewisse Art der Schönheit wohnt, auch wenn man mit großen Nüstern und sehnigen Beinen auf die Welt gekommen ist.

    Immer mehr wuchsen wir zusammen und die Stunden mit Lady waren mir alles.

    Und dann passierte das Unvorstellbare: Mein damaliger Freund Andreas verließ in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar 2008 diese Welt. Seine zerrissene Seele war durch die Ecke zweier Außenwände unseres Schlafzimmers geschlüpft, und ich starrte auf seine zurückgelassene Hülle. Ein so vertrauter Körper, der mich nachts gewärmt hatte und in dessen Duft ich ertrunken war.

    Am Bett stehend rief ich immer wieder seinen Namen, doch so laut ich auch schrie, die Lider über den panthergrünen Augen hoben sich nicht mehr. Als ich seine rechte Schulter berührte, drang zum ersten Mal in meinem Leben das blanke Entsetzen in mich ein. Sein Körper war wie steif gefroren und unbarmherzig kalt. In diesem Moment begriff ich das Wesen der Ohnmacht und das der Endgültigkeit.

    Fünf Tage nach Andreas’ Tod, als mein Mund wieder Worte formen konnte, bat ich meinen Vater, mich zu Lady zu fahren. Ich selber war nicht in der Lage, ein Auto zu steuern. Viel zu ängstlich war ich und der Schleier vor meinen Augen hatte alles in ein gleichförmiges Grau getaucht. Nach endloser Fahrt kamen wir endlich an ihrer Koppel an, und als ich ihr dunkelrotes Fell sah, wusste ich, dass ich weiterleben möchte.

    Lady war bereit, mich durch die brennende Hölle zu tragen. Dieses Versprechen gab sie mir an jenem Tag. In ihren tiefen Augen sah ich die weit entfernte Zukunft schimmern. Und den langen verschlungenen Pfad dorthin. Lady war genau zur richtigen Zeit wieder zu mir gekommen. Wenn ich nachts mit dem Leben haderte und in die sehr sichtbare einladende Hand des Sensenmanns nur hätte einschlagen müssen, dann spürte ich die Wärme meiner Katze und stellte mir vor, wie ich auf Lady zulaufe und der Schmerz mit jedem Schritt, der mich näher zu ihr bringt, weniger wird.

    Anfangs hatte ich kaum Kraft, mich auf Ladys Rücken zu halten.

    Nach unseren Ausritten konnte ich mich nicht von ihr trennen und stand stundenlang neben ihr, um ihre Mähne zu entfilzen. Haar für Haar ordnete ich sie, und darunter fand ich ein goldenes Pferd mit glänzenden Augen, dass nun immer öfter meinen Handrücken sanft mit seinen Lippen berührte.

    Meine Katze Gawan schnurrte mich mit gurrender Melodie in den Schlaf und bewachte meine dunklen Träume.

    Gawan und Lady woben in dieser Zeit gemeinsam an jenem seidenen Faden, an dem ich in den kommenden fünf Jahren hängen sollte.

    Nach einem halben Jahr hatte Lady den Mut, mir ihr Herz ganz zu öffnen. Ich schmiss das Pelham weg und ritt sie gebisslos.

    „Du bist lebensmüde!, wurde ich gewarnt, aber Lady und ich, wir waren in einen ruhigen Dialog getreten und hatten begonnen, uns mit immer feiner werdenden Hilfen zu verständigen. Wir begannen, mit Gedanken und Bildern zu kommunizieren, die wir uns „schickten. Außerdem atmeten wir gemeinsam. Für Pferde ist das Atmen eine Sprache.

    Mir war klar, dass ich ohne Lady nicht mehr sein wollte. Ich wusste aber auch, dass ich den Ort, an dem ich mit Andreas gewohnt hatte, verlassen musste, weil mich die Erinnerungen Nacht für Nacht einholten. Ich würde also mit Lady gemeinsam weggehen müssen.

    Bei einem Ausritt sagte ich Tessa, dass ich Lady kaufen wolle, und sie mir ein Angebot machen solle.

    „Ich gebe Lady nicht ab!, sagte sie. „Und wenn Du wegziehst, wird sie ein anderer reiten, teilte sie mir auf meine erneute Anfrage eine Woche später hin mit. Ein brennender Stich durchfuhr mein Herz.

    Doch ich dachte mir, dass Menschen sich irgendwann mit Gedanken anfreunden. Und so wiederholte ich wieder und wieder, Woche für Woche: „Tessa, ich möchte Lady kaufen. Bitte mach mir ein Angebot."

    Im Sommer 2009, ein ganzes Jahr später, sagte sie Ja. „Aber sie bleibt dann hier", versuchte sie ihre Zusage an Bedingungen zu knüpfen. Ich widersprach. Zähneknirschend gab sie sich geschlagen. Wir schlossen auf meinen Wunsch hin einen Vertrag ab, und Lady wechselte das erste Mal in ihrem Leben den Eigentümer. Freude und Sorge mischten sich in meinem Herzen. Würde ich alles richtig machen mit Lady? Würde ich wissen, was wann zu tun wäre? Ich war noch nie alleine verantwortlich gewesen für ein Pferd.

    Kurz nach dem Kauf holte ich sie in meine Nähe, und endlich hatte ich das Gefühl, wirklich ein eigenes Pferd zu haben. Sechsunddreißig Jahre lang hatte ich auf die Erfüllung dieses Traumes gewartet.

    Im März 2010 verließen wir die Gegend, an der mich alles an Andreas und unser gemeinsames Leben erinnerte, und zogen nach Herdecke. Ganz in der Nähe von Schwerte fand ich einen Offenstall mit einer Stutenherde für Lady. In einem Offenstall leben die Pferde in einem Herdenverband, ohne Boxen. In den Sommermonaten kommt zum groß angelegten Paddock noch der meist ganztägige Weidegang dazu.

    Da Lady ein gut sozialisiertes Pferd ist, und zudem mit Vorsicht und Weitsicht agiert, fand sie schnell ihren Platz in der Rangordnung der Herde.

    Wir richteten uns in unserem neuen Leben ein. Das Gut, auf dem Lady stand, war ein wunderbarer Ort, an dem sie mit einigen Stuten Freundschaft schloss und ich mich den Menschen wieder annäherte. Auf diesem Hof hat jeder seine eigene Philosophie die Pferde betreffend, und in dieser Vielfalt lernte ich eine Menge und entwickelte auch meine eigene Sichtweise auf die Pferde weiter.

    Das Band zwischen Lady und mir wurde immer enger. Lady entfaltete sich und zeigte immer mehr ihre clowneske Seite. Sie hat eine Menge Schabernack in sich, den wir gemeinsam ausleben. Mit mir habe sie gelernt, was es bedeutet zu leben, mal übermütig zu sein und Quatsch zu machen, sagte sie später einmal.

    Unsere Verbindung wurde so eng, dass es für mich plötzlich möglich war, Ladys Gedanken zu verstehen. Allzuoft wird man als Pferdeliebhaber von Außenstehenden gefragt, ob man denn nun „Pferdeflüsterin" sei. Meist lachen die Fragenden schon, während sie die Frage stellen. Die Wahrheit ist: Pferde flüstern nicht einmal, sie sprechen noch leiser.

    Ihre Gefühle drücken sie über ihre Mimik und ihre Körpersprache aus. Ein Pferdemaul erzählt etwas über die Zufriedenheit des Tieres. Im Auge des Pferdes kann man erkennen, ob es geliebt wird oder sich missverstanden fühlt. Ein ständig schlagender Schweif - es sei denn Stechtiere ärgern das Pferd - deutet auf eine seelische oder körperliche Verspannung oder beides hin.

    Ein Pferd mit hoch erhobenem Kopf - so haben sie statt der sonst 340-Grad-Sicht eine 360-Grad-Rundum-Sicht - ist fluchtbereit und versucht abzuwägen, ob es sein Leben retten muss oder nicht.

    An der Körperhaltung kann man erkennen, wie es dem Pferd geht. Ob es Schmerzen hat oder entspannt ist.

    Mit einem aufgestellten Hinterfuß, von dem viele Nichtpferde-Menschen glauben, das Pferd wolle sie damit treten, entlasten sie Hüfte und Bein einer Körperseite.

    Durch ihre Bewegungen drücken Pferde zudem ihre Gefühle aus: will ein Hengst eine Stute beeindrucken, so wölbt er den Hals und schwebt umher. Ein Pferd, das ein Rangniedrigeres verscheuchen will, um beispielsweise an die Tränke zu gelangen, geht zielstrebig auf es zu, und strahlt dabei gerade so viel Energie aus, dass das andere Pferd Bescheid weiß und den Platz räumt. Sehr ranghohe Pferde müssen nur leicht ihr Ohr nach hinten legen, um den Anderen in seine Schranken zu weisen.

    Die Ohren - ich würde sagen, sie erzählen uns das meiste. An ihnen kann man kleinste Regungen und Gefühlsveränderungen ablesen. Die Ohren sind immer auf Empfang und nehmen alles wahr. Sogar wenn ein Pferd im Stehen döst und weit entfernt scheint, sondieren seine Ohren die Umgebung, filtern und ordnen ein. Nehmen sie etwas Besorgniserregendes wahr, so kann ein Pferd, das gerade noch friedlich schlief, im nächsten Moment zu einer wilden Flucht aufbrechen.

    Die Pferde einer Herde sind untereinander eng vernetzt. Es scheint oft so, als seien ihre Nervensysteme miteinander verbunden. Gefühle und schnelle Entscheidungen teilen sie sich im Bruchteil einer Sekunde mit. Pferde sind unglaublich schnell in ihren Reaktionen. Nur so können sie überleben. Diese unglaubliche Sensibilität macht es so reizvoll mit ihnen zusammen zu sein. Es ist unfassbar schön, das Wesen der Pferde zu ergründen. Als Mensch, der mit ihnen arbeitet und zusammen ist, müssen wir allerkleinste Zeichen ihres Körpers lesen können, verstehen und darauf reagieren. Dann weiß das Pferd, dass wir seine Sprache sprechen und fasst Vertrauen.

    Ein Pferdeflüsterer ist somit ein Mensch, der dem Pferd zuhört und der das Pferd versteht, wenn es ihm etwas zuflüstert. Und einige Pferdeflüsterer können eben auch die Gedanken ihrer Pferde lesen.

    Pferde sind wachsame Fluchttiere und gleichzeitig Energiesparer, die gerne entspannen und sich sicher fühlen möchten. Als Mensch sollten wir ihnen immer diese Sicherheit ermöglichen. Einem Menschen, der ruhig, fair, berechenbar und zuverlässig ist, dem schließen sie sich an.

    Niemals sollten wir versuchen, einem Pferd etwas vorzuspielen. Tun wir fröhlich, obwohl wir eigentlich traurig sind, tun wir stark, obwohl wir unsicher sind, dann entlarven sie diese falschen Gefühle, weil sie die Wahrheit kennen.

    Bin ich mal traurig, dann stehe ich in der Gegenwart eines Pferdes zu diesem Gefühl. Lady freut sich über diese Ehrlichkeit und bewertet dieses Gefühl nicht, sondern nimmt es wahr und geht damit um. Bin ich innerlich konfus und reite in der Halle, ohne wirklich Richtung und Ziel zu haben, dann spiegelt mir Lady meine nicht präsente Eindeutigkeit und läuft Schlangenlinien. Sie ermuntert mich dann: „Hey, gib uns wieder eine Richtung. Die braucht es im Leben. Und schon werde ich mir meiner - auch inneren - Orientierungslosigkeit bewusst, und beginne, symmetrische Linien in der Bahn zu reiten, die Anfang und Ende haben. Und Lady atmet erleichtert auf: „Ah, mein Mensch ist wieder bei sich. Weiter so!

    Bei unserem gemeinsamen Zusammensein lasse ich Lady alle Freiheiten, weil ich weiß, dass sie meine Grenzen akzeptiert. Sehr häufig lädt sie mich zu gemeinsamen Meditationen ein. Ich setze mich dann vor ihre Vorderbeine und lehne mich daran an. Ladys Kopf hängt dann über mir und ich spüre die unendliche Ruhe und Kraft, die Lady durchströmt. Lady ist heute ein Pferd, das vollkommen in sich ruht. „Alles ist himmlisch gesteuert", so ihr Lebenscredo. Während dieser Meditationen nimmt sie mich mit in ihre Welt, wo ein herrlicher Frieden herrscht. Oft reiten wir dabei durch die mongolische Steppe, wo die weite Landschaft in gelb, blau und grün vor uns liegt. Ich vermute, dass Lady und ich dort einmal gelebt haben.

    Lady lässt durch diese Reisen den See meines Herzens ruhig und klar werden. Es sind oft die Pferde, die die Führung übernehmen, um uns Dinge zu zeigen. Manchmal kommt es vor, dass Lady während einer solchen Meditation ihre Nüster an meine Nase legt und tief hinein atmet. Dann ist es so, als berühre mich eine göttliche Kraft.

    Pferde leben im Augenblick und sie laden uns Menschen dazu ein, dies auch zu tun. Pferde lassen Gefühle und Situationen wie Wolken heranziehen, sie betrachten sie, ziehen ihre Schlüsse, fressen entweder weiter oder fliehen, und lassen die Wolken dann weiterziehen. Ihr Geist bleibt nie an etwas hängen.

    Während unserer gemeinsamen Meditationen höre ich die Greifvögel am Himmel, ich spüre, wie der leichte Wind durch die Gräser streicht, ich fühle Ladys Atem an meinem Hals, ihre Lippen auf meinem Kopf, ich höre entfernt Hunde bellen und bin nur noch ein Atemzug. In jedem Moment ein neuer.

    So dasitzend komme ich jedes Mal vollkommen zur Ruhe und ich bin Lady so dankbar für diese Ausflüge. Sie hüllt mich dabei vollkommen in ihre Liebe ein. Ihre Zärtlichkeit ist so sanft und so vertraut.

    Dass Lady in der Gestalt eines Pferdes lebt und ich den Körper eines Menschen habe, ist unerheblich. Sie ist meine beste Freundin, meine Gefährtin.

    Nach fünf Jahren der Trauer, hatte Lady es geschafft, auch mein Herz wieder zu öffnen, und Kai, ein schüchterner Mann mit ruhigen Bewegungen und türkisfarbenen Augen, die die ganze Welt kennen, öffnete vorsichtig die Tür und kam herein: Kai ist das genaue Gegenteil von Andreas und wunderbar.

    Es gibt eine zweite große Liebe. Sie ist nur anders. Man achtet mehr auf seine Konturen und verbrennt nicht mehr. „Die erste Liebe ist das Versprechen, das andere halten werden", hatte Senta Berger einmal gesagt.

    Im Frühsommer 2013 konnte Lady plötzlich nicht mehr laufen. Sie hatte starke Schmerzen in den Sprunggelenken, und unsere Tierheilpraktikerin Martina Holler testete sie positiv auf Borrelien. Borreliose kann ein Todesurteil für ein Pferd sein.

    Martina erklärte mir, dass diese Zeckenbelastung schon lange in Lady geschlummert haben könnte, denn ein Körper kann diese Bakterien sehr lange speichern, ehe es zum Ausbruch einer Borreliose kommt. Wenn es überhaupt dazu kommt.

    Ich wusste, was mir Lady mit dieser Krankheit sagen wollte: Seit drei Jahren wohnte ich im Haus mit schrecklichen Vermietern, die mir das Leben zur Hölle machten. Ich lief auf Zehenspitzen durch die Wohnung, denn ging ich normal, klopfte meine Vermieterin mit einem Besenstil auf den Fußboden, der meine Zimmerdecke war, und ich

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