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Der bittere Kuss meiner Mutter
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eBook340 Seiten4 Stunden

Der bittere Kuss meiner Mutter

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Über dieses E-Book

Jan Carroll war fünf Jahre alt, als sie in ein katholisches Internat gebracht wurde, welches sie als Tochter von wohlhabenden Eltern besuchte. Als Jans Eltern heirateten, waren sie als das goldene Paar von Sydney bekannt, die alles hatten. Jan war ihr einziges Kind. Was hätte also schief gehen können? Jahre später kehrte Jans Vater, der Sohn des Stummfilmproduzenten E. J. Carroll, vom Zweiten Weltkrieg zurück. Er hatte sich durch den Krieg völlig verändert. Ihre Mutter war eine Schönheit, die im Laufe der Zeit ihren Kampf gegen den Alkoholismus verlor.

Während andere Mädchen die Ferien mit ihren Familien verbrachten, wurde Jan bei Verwandten und Bekannten herumgereicht. In den seltenen Fällen, wo sie die Ferien zu Hause verbringen durfte, musste sie mit Chaos, Missbrauch und Vernachlässigung zurechtkommen. Sie flüchtete in das wunderschöne Prinz-Edward-Theater ihres Großvaters, um sich mit Schokolade vollzuessen und sich durch Filme in eine schönere Welt versetzen zu lassen.

Jan beschreibt ihre glücklichen Tage in der Schule und mit ihrem ersten Liebhaber in einem gemächlichen Tempo, aber sie eilt durch die letzten Kapitel, was die Leser über die Chronologie verwirrt. Wie hat sie zwei Kinder, zwei Scheidungen und einen nicht spezifizierten Job beim Gericht bekommen?
Im letzten Kapitel geht es um den Tod ihrer Mutter und die Erleichterung der Autorin darüber, dass sie sich endlich sicher fühlt.

Jan schreibt bis zur letzten Seite autoritativ und hält den Leser trotz der oben genannten Fragen bis zur letzten Seite an ihre Geschichte gefesselt. Am Ende des Buches stellt sie dann die Frage, die sich jeder in ihrer Situation stellen würde: "Was wäre aus mir geworden, wenn meine Mutter nicht ihr Leben lang betrunken gewesen wäre?" Diese Frage lässt Jan offen. Vielleicht wird sie die Antwort in ihrem nächsten Buch geben.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum26. Apr. 2020
ISBN9783752944334
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    Buchvorschau

    Der bittere Kuss meiner Mutter - Jan Carroll

    Kapitel 1

    Eileen


    Es war keine traurige Beerdigung.

    „Ich will nicht, dass jemand auf meiner Beerdigung weint", sagte sie und sah mich dabei mit ihrem durchdringenden Blick an.

    „Keine Sorge, versicherte ich ihr, „das wird nicht passieren.

    Ihre Augen verengten sich – das eine Auge war jetzt fest zugekniffen, um ihr Gleichgewicht zu halten. Ihr Gesichtsausdruck wurde noch giftiger als vorher.

    Ich war überrascht, dass sie sprachlos war, wollte aber ihren Gedankengang nicht entgleisen lassen. Der war sowieso von der Bahn abgekommen, denn der Lokführer hatte aufgegeben und seinen Posten verlassen. Ihre Gedanken saßen auf den Schienen und kamen nicht mehr vorwärts. Verschollen im Nichts. Also genoss ich schweigend ihre aufkommende Reaktion auf meine verheerende Antwort und wartete, bis sie sich wieder gesammelt hatte.

    „Oh du, du, du –", gelang es ihr zu sagen, bevor ihr wieder die Worte fehlten. Dann stützte sie sich am Schrank ab und nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Whiskey. Wie immer, schauderte sie und verzog das Gesicht.

    „Ach, sagte sie wie üblich, „ich hasse den Whiskey.

    Ich grinste hochmütig. Dies war eine besondere Liebesbeziehung. Ich liebe dich, hasse dich, liebe dich, hasse dich, aber ich will dich; bis dass sich die Welt aufhört zu drehen. Johnny Walker, ein gefragter Mann.

    Sie stieß sich von dem Schrank ab und schwankte majestätisch zu ihrem Lieblingssessel. Warum ist es, fragte ich mich, dass sie nicht ein einziges Mal mit dem Absatz an den Fransen des Casa-Pupo-Teppichs hängen geblieben war? Die Knoten waren so groß wie Walnüsse. Wenn es noch Recht in dieser Welt gäbe, hätte sie auf ihr Gesicht fallen und sich ihren verdammten Nacken brechen sollen. Aber sie erreichte den Sessel und fiel schwer hinein, bevor sie ihr Glas sicher auf den Sofatisch neben sich stellte – ohne auch nur einen Tropfen von ihrem kostbaren Getränk zu verschütten. Sie schob das Glas bis an die Kante des Tisches und streichelte es liebevoll. Ich hatte schon vor langer Zeit aufgegeben, das Glas an einen sichereren Platz zu verschieben, weil sie es jedes Mal wieder an die Kante des Tisches zurückbrachte – offenbar eine bequeme Position für sie. Es ist ironisch, dachte ich; sie will unbedingt am Rand sein, während ich versuche, sie in Sicherheit zu bringen. Wenn mein Leben am Rand ist, schiebt sie mich weiter bis zur Kante und ich muss selbst kämpfen, um meine Sicherheit zurückzugewinnen.

    Es gab nichts weiter zu sagen, also drehte ich mich um und ging auf die Tür zu. Dabei blieb ich mit meinem Absatz in den Fransen des Teppichs hängen. Mein inniges Gebet war, dass ihr das Gleiche passieren würde, als sie in ihr Bett torkelte. Ja, fall aufs Gesicht und brich dir deinen verdammten Nacken. Ja, ja, ja. Ich würde dir nicht helfen und du wärest tot, tot, tot.


    Als ich jung war, konnte ich das Problem nicht erkennen. Internat und nachlässige Eltern sorgen für eine instabile Lebensbasis. Obwohl ich mir Schlimmeres vorstellen kann, was zum Glück nicht mein Fall war. An meine glückliche Zeit im Internat erinnere ich mich gerne.

    Es war ein sehr schöner Ort, in Burradoo, in der Nähe von Bowral in den Southern Highlands in New South Wales – der kälteste Ort in der Welt nach der Antarktis, darin waren wir uns alle einig! Die Nonnen waren nicht daran interessiert, das Gebäude zu heizen, denn das wäre eine Sünde gewesen. Wir mussten durch spartanisches Leben unsere Seelen retten; die verlorene Seele eines fünf Jahre alten Kindes!


    Ich hing an der Hand meiner Mutter, als wir das erste Mal in die Central Railway Station gingen, um das Gleis für meinen Zug in die Walachei zu finden. Die Lokomotive paffte lässig vor sich hin. Die Dampfwolken aus dem Maschinenraum verströmten einen seltsamen Geruch, der meine Nase jucken ließ. Auf dem gleichen Gleis stand eine Gruppe kleiner Mädchen, die unser Kommen beobachteten. Ich war nicht überrascht, denn es passierte immer wieder, dass Leute stehen blieben, um meine Mutter anzustarren. Sie war schön und glamourös. Ich betrachtete die anderen Mütter, die dort versammelt standen. Keine war so schön wie meine. Die Mütter der anderen Mädchen sahen sehr gewöhnlich aus.

    Meine Mutter drückte meine Hand und ich blickte zu ihr auf. Wir tauschten ein verschwörerisches Lächeln aus und warteten abseits der anderen.

    Unser Chauffeur folgte uns mit meinem kleinen Gepäck. Er lud es in den Gepäckwagen und winkte mir zum Abschied kurz zu. Dann nickte er zu meiner Mutter hinüber und ging zurück ins Auto, um dort auf sie zu warten und sie dann nach Hause in Potts Point zu fahren. Dort hatten wir eine Wohnung mit einem wunderschönen Blick auf den Hafen von Sydney, den ich mir gerne stundenlang ansah. Ich beobachtete die vielen kleinen und großen Boote, wie sie kamen und gingen und die Schiffe, die zu den Heads oder zu irgendeinem exotischen Ort an der anderen Seite des Ozeans ausliefen. Dann gab es die Sutherland-Flugboote, welche in Rose Bay starteten und landeten. Das Wasser spritzte heftig auf und für kurze Momente verschwanden sie dahinter.


    Ein diensteifriger kleiner Mann näherte sich entlang der Plattform mit einer schwingenden Fahne in seiner Hand.

    „Achtung, rief er geschäftig, „alle an Board, und nochmal mit langgezogener Stimme: „aalllle an Booaard!"

    Die Lokomotive gab ein kreischendes Geräusch von sich, welches die Schar der kleinen Mädchen in Hysterie brachte. In großer Aufregung drängelten sie sich um die Zugtür herum. Meine Mutter beugte sich für einen Abschiedskuss zu mir herunter. Ich roch ihren wunderbaren Duft und fühlte das weiche Fell ihres Kragens an meiner Wange. Dann stieg ich ein und fand einen Fensterplatz, sodass ich ihr noch winken konnte. Sie war ein paar Schritte vom Zug zurückgetreten und stand dort ganz alleine. Ich setzte mich hin und wartete und als der Zug endlich losfuhr, winkten wir uns gegenseitig zum Abschied. Als ich sie nicht mehr sehen konnte, schmiegte ich mich in den großen Sitz hinein und ließ die Stadt an mir vorbeiziehen.

    Es war ein Teil von Sydney, den ich nie zuvor gesehen hatte. Meine Welt war bis dahin offensichtlich sehr klein gewesen. Wir fuhren an einer Vielzahl von hässlichen und trostlosen Gebäuden vorbei. Dann ging es weiter durch die Vororte Sydneys, bevor wir durch das südliche Hochland tuckerten und dann waren wir auf dem Land. Das war ein toller Anblick für Stadtkinder so wie mich; Kilometer von grünen Feldern und Wiesen mit grasenden Kühen, Schafen und Pferden, die sich in der Ferne erstreckten. Ich liebte die Pferde – sehr elegante Geschöpfe! Wenn sie zu nahe an dem Gleis weideten und der Zug vorbei rauschte, wieherten sie und galoppierten mit hochgezogenem Schweif davon. Einfach schön.

    Als wir in Burradoo ankamen, stiegen wir in einen Bus um, der uns durch eine wunderschöne Landschaft fuhr. Wir kamen eine lange Einfahrt hoch, gerahmt von farbenfrohen Blumenbeeten. Am Ende der Einfahrt stand ein riesengroßes Gebäude, das von den Nonnen des Ordens Sacré Coeur geleitet wurde. Es hieß das Convent of the Sacred Heart, das Kloster des Heiligen Herzen, Kerever Park.

    Ein paar Nonnen standen zur Begrüßung auf der großen Veranda. Sie trugen lange schwarze Gewänder und eine Kopfbedeckung, die, mit seltsamen Rüschen und einer weißen Haube bestehend, rund um den Kopf ging. An der Haube war ein langer Schleier befestigt. Die neuen Fünfjährigen waren beeindruckt und standen und starrten, bis wir der Reverend Mother, der Ehrwürdigen Mutter, und Mutter McGee, vorgestellt wurden. Mutter McGee war eine kleine, fröhliche und runde Frau mit einem liebevollen Lächeln − eine Mutternatur. Ich verglich sie mit einer Henne, um die sich ihre Küken scharrten. Dann wurden wir für einen Nachmittagssnack in den Speisesaal gebracht. Wir trafen einige der älteren Mädchen, die uns gleich unter ihre Fittiche nahmen und uns unsere Schlafsäle zeigten. Beim Auspacken lernten wir unsere neuen Schlafsaal-Kameradinnen kennen.

    Ich war im ersten Schlafsaal untergebracht, der direkt neben einer Kapelle lag. Es war ein schöner langer Raum mit großen Fenstern, die uns leider im Winter viel Kälte einbrachten. Von einem großen Erker konnte man über die enormen Kiefern und die endlosen grünen Felder sehen.

    Die Kiefern hatten ausreichend Platz, sich auszubreiten. Ihre unteren Äste wölbten sich bis auf den Boden um den Stamm herum, sodass ein geheimes Versteck für kleine Mädchen entstand, die dort gerne Feen spielten. Der Geruch der Kiefern erinnert mich heute noch an das Klosterinternat Kerever Park.

    Im Schlafsaal standen auf jeder Seite sieben Betten, jedes abgetrennt durch ein Nachttisch-Schränkchen, in dem wir unser Hab und Gut lagerten. Die Bettdecken waren farbenfroh. Unsichtbare Personen hatten schon unsere Koffer an unsere Betten gebracht. Irgendwann wurde mir bewusst, dass das die Schwestern waren; die Frauen des Ordens, die alle körperlichen Arbeiten verrichteten und die wir fast nie sahen. Die Situation kam mir nie komisch vor, bis viele Jahre später, als die Hierarchie geändert wurde und es keinen Unterschied mehr zwischen den Müttern und Schwestern gab.

    Andere Kinder aus anderen Teilen von New South Wales waren bereits eingetroffen – Mädchen vom Land. Etwas eingeschüchtert lernten wir uns gegenseitig kennen.

    Die ersten Tage vergingen ziemlich angenehm, obwohl wir für meinen Geschmack immer zu früh aufstehen mussten – 06:00 Uhr! Ich hatte einen besonderen Groll gegen eine Familie von Elstern, die mich fast jeden Morgen schon sehr früh mit ihrem Gezwitscher aufweckte. Ich stampfte wütend zum Fenster und schimpfte mit dem Groll eines fünf Jahre alten Kindes:

    „Du, du, du — ich werde euch umbringen, euer Piepen zu Ende bringen; ich springe aus diesem Fenster, um dich zu töten, dann wird dir dein lautes Piepen leidtun!"

    Weil mein Schlafsaal im ersten Stock war, wäre ich mit dem Sprung aus dem Fenster nicht gut davon gekommen. Noch heute empfinde ich den Gesang der Elstern sanfter als den anderer Vögel.

    Sobald wir aufgestanden waren, sprachen wir das erste Gebet. Es wurde jedes Mal von einer anderen Nonne geführt und zwar immer von der, die die Aufsicht in unserem Schlafsaal hatte und somit auch bei uns schlief. Danach war Gerangel um die Badezimmer und der Tag des Kicherns und Lachens begann. Zumindest für mich. Viele Jahre später erfuhr ich, dass nicht jedes Mädchen das Leben im Klosterinternat genossen hatte und zu meinem Erstaunen hatten es einige sogar gehasst.

    Als wir angezogen waren, geschniegelt und gebügelt, Betten gemacht und unsere eigenen Bereiche aufgeräumt hatten, marschierten wir zum Gottesdienst in die Kapelle. Nachdem ich mich daran gewöhnt hatte, betrachtete ich den Gottesdienst als eine schöne Zeremonie; die Wortphrasen lernten wir in Latein. Die Zeremonie strahlte so viel Geheimnis und Magie aus, dass sich sogar das jüngste Kind nicht ablenken ließ. Zumindest bis zur Kommunion, als die Nonnen und die älteren Mädchen ihr Abendmahl einnahmen und der Rest von uns zuschauend und glücklich auf den ungemütlichen Sitzen saß. Unsere zarten Knie bekamen endlich eine Pause von den harten Kniebänken, die nach zwölf Jahren beten tiefe Furchen in meinen Knien hinterließen. Damals gab es in unserem Klosterinternat nur polierte Böden und nacktes Holz.

    Nach dem Gottesdienst gingen wir dann, in Reihen und Stille, die prachtvolle Treppe hinunter zum Speisesaal, in dem wir unser Frühstück einnahmen. Wir lernten schnell, dass wir immer aufgereiht und in absoluter Stille von einem Ort zum anderen gehen mussten. Wir durften nur anhalten und weitergehen, wenn das Signal gegeben wurde. Es wurde von zwei Holzstücken gegeben, die die Nonne in ihrer Hand hielt. Die Holzstücke wurden so gehalten, dass ihr Daumen sie trennte und wenn sie ihren Daumen geschickt entfernte, prallten die Holzstücke zusammen und gaben ein lautes Geräusch ab. Klack – stehenbleiben, Klack − weitergehen.

    Während der Essenszeiten und nach Beendigung des Gebetes läutete eine Klingel – die Erlaubnis zum Sprechen. Das ließen wir uns nicht zweimal sagen und wir fingen alle zur gleichen Zeit an zu plappern. Neben den Manieren, die wir zu Hause gelernt hatten, lehrten die Nonnen uns, die Bedürfnisse der anderen am Tisch vor unseren eigenen zu erkennen. Außerdem zeigten sie uns, wie Gabel, Messer und Löffel zu halten sind und natürlich nicht mit vollem Mund zu sprechen. Es wurde uns auch beigebracht, gerade zu sitzen. Die Stuhllehnen waren nicht dafür da, um den Rücken anzulehnen. Eine der Nonnen hatte die Aufgabe, mit einem langen Lineal um den Tisch zu laufen und bei jedem Mädchen das Lineal zwischen Rücken und Stuhllehne durchzuziehen, um sicher zu machen, dass keines der Mädchen ihren Rücken ausruhte.

    „Sitz aufrecht, liebe Jan!"

    Jeder Tisch mit acht Mädchen hatte eine Sprecherin, auch Präsidentin genannt. Sie überwachte den Tisch und stellte sicher, dass jedes Mädchen genug Essen auf dem Teller hatte, bevor sie sich selbst bediente. Als ich das nötige Alter erreicht hatte, um Präsidentin zu sein, wollte ich besonders fair sein. Mit meinem Messer teilte ich die Butter in acht gleiche Portionen auf und reichte diese auf einem Teller herum, im festen Glauben, dass alle damit einverstanden waren. Der Teller wurde herumgereicht, aber keines der Mädchen nahm etwas davon. Sieben vorwurfsvolle Augenpaare schauten mich an, als der unberührte Teller wieder bei mir ankam. Ohne Worte glättete ich die Butterstücke zu einem Klumpen aus, bis dass keine Unterteilungen mehr zu sehen waren und reichte den Teller erneut herum. Die Mädchen lächelten mich befürwortend an und als der Teller wieder bei mir landete, fand ich genau das Stück Butter vor mir, wie ich es haben wollte. Nicht, dass ‘wollen’ bei uns auf der Prioritätenliste stand, aber es war genau so viel Butter, wie ich brauchte. Dieser Butter-Vorfall, wie ich ihn in Erinnerung habe, lehrte mir zwei wertvolle Lebensweisheiten: Erstens, versuche nicht, anderen deine Meinung aufzudrängen. Zweitens, keiner will gleich behandelt werden. Einige wollten mehr von der Butter, andere wollten weniger und zwei Mädchen wollten sogar gar keine. Bis zu meinem Vorfall hatte es niemals ein Problem mit der Butterverteilung gegeben. Die Kinder hatten es ohne fremde Hilfe gelöst und dazu noch ohne Worte. Diese Einsicht war mir mehr Wert als Lesen, Schreiben und Rechnen lernen.

    Im Winter gab es leckeren Haferbrei, in den ich genießerisch einen goldenen Sirup, bestehend aus geschmolzenem braunen Zucker, einrührte. Im Sommer gab es ein gekochtes Ei mit Toastbrot und frische Milch von den Jersey-Kühen, die dem Kloster gehörten. Die Milch blieb frisch, wenn sie drinnen gelagert wurde. Aber wenn sie im Sommer für längere Zeit in der Morgensonne stand war sie für unseren späteren Morgensnack schon angesäuert. Es bedurfte nur eines von uns, diese anekelnde Brühe zu probieren und schon bewegte sich ein Strom kleiner Mädchen mit ihren gefüllten Milchgläsern auf die Hecke zu, um dort ihre Gläser auszuschütten, was nach Jahren dieser Tätigkeit ein ziemlich großes Loch hinterließ. Danach nahmen wir unsere kleinen harten Kuchen und setzten uns auf eine Mauer, um diese zu verzerren, die wirklich so hart wie Stein waren. Als ich Jahre später den gleichen Kuchen in einem Café aß, war dieser wunderbar weich. Also nahm ich an, dass diese steinähnlichen kleinen Kuchen im Internat einen Teil unseres spartanischen Lebens ausmachen sollten. Davon abgesehen sollten diese angeblich unsere Zähne schärfen und Kiefermuskeln stärken. Gerne verfütterte ich meine Steinkuchen an die Elstern oder warf sie einfach in die Hecke, wenn gerade keine Elstern da waren, die die Krümel später aufpickten.

    Wir spielten viele Spiele; Fangen, Seilspringen und Pferde. Weil ich so gut wiehern und schnauben konnte, war ich in der Regel das Pferd. Ein Springseil wurde um mich herum gebunden, zwei Mädchen hielten sich an den Enden fest und gaben laute Anweisungen:

    „Galopp, Galopp, lauf Pferdchen lauf", und ich rannte schnaufend und kopfschüttelnd los. Bei gelegentlichem Wiehern scharrte ich mit meinen Schulschuhen in dem staubigen Boden. Wir waren total außer Atem, kicherten und keuchten und plapperten aufgeregt durcheinander. Wenn die Seile nicht für Pferdespielen im Einsatz waren, benutzten wir sie zum Seilspringen. Das machte großen Spaß, besonders wenn wir zwei lange Seile gleichzeitig durch die Luft schwangen und so viele Mädchen wie möglich versuchten, in die sich immer kreisende Schlaufe hineinzuspringen, um gleichzeitig hüpfen zu können.

    Beim Fangen rannten wir alle wild herum, um es dem Fänger zu erschweren, eine von uns zu schnappen. Weil wir aber so viele waren, griff die Fängerin einfach blindlings in die Menge und war dabei oft erfolgreich. Die gefangenen Mädchen hielten sich dann an den Händen; die Reihe wurde immer länger, bis die Freien keine Chance mehr hatten, sich vor der langen Reihe zu retten. Es war trotzdem schwierig, die letzten Mädchen einzufangen, weil die lange Reihe immer unhandlicher wurde; sie schwankte von vorne nach hinten, während die Mädchen an den Enden versuchten, die letzten freien Mädchen einzufangen. Diese schlüpften flink durch die Mitte der Reihe auf die andere Seite und entkamen somit glimpflich der Gefangenschaft.


    Es wurde angekündigt, dass ab dem folgenden Jahr Reitunterricht angeboten würde. Toll! Sollte das heißen, dass ich über diese herrlichen und temperamentvollen Wesen lernen würde? Ich konnte es kaum erwarten. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemanden gefragt hätte, aber im nächsten Schuljahr stand mein Name auf der Liste für Reitunterricht. Ich brüllte vor Freude und noch schöner war es, dass die Namen meiner besten Freundinnen auch auf der Liste standen. Der Reitlehrer kam mit seinen schon gesattelten Ponys und, bekleidet mit Reithose, Reiterstiefeln und Hut, brachen wir auf zur Weide. Vor Aufregung rannten und jodelten wir den ganzen Weg, bis wir uns ruhig neben unserem zugeschriebenen Pferd aufstellen mussten.

    Das Reiten-Lernen machte besonders Spaß, weil keine Nonne während der Reitstunden anwesend war, die Anweisungen gab, mit uns schimpfte oder das Signal gab. Es waren nur die Pferde und wir – Himmel auf Erden für kleine unschuldige Mädchen!

    Man zeigte uns, wie man die Zügel hält, die Füße in die Steigbügel steckt und aufs Pferd steigt. Die meisten schafften das ohne Problem und denjenigen, die mit dem Gesicht auf dem Sattel landeten oder auf der anderen Seite wieder herunter plumpsten, wurden von Herrn Johns geholfen. Nachdem wir die Längen der Gurte und Steigbügel richtig eingestellt und überprüft hatten, schwang er sich auf sein eigenes Pferd und ließ uns in einer Doppelreihe gemächlich hinter ihm im Laufschritt hergehen. Unsere Ponys trotteten langsam vor sich hin und wir lachten uns glücklich an – wir lernten reiten! Ich, das Stadtmädchen, lernte reiten! Okay, diese Ponys waren eindeutig nicht die herrlichen und temperamentvollen Wesen, die ich vom Zug aus beobachtet hatte, aber was blieb mir noch zu wünschen übrig? Herr Johns drehte sich hin und wieder zu uns um und trabte bis zum Ende unserer Doppelreihe, um zu checken, ob alles in Ordnung war. In den nächsten Wochen lernten wir zu traben und dann – oh Gott – im leichten Galopp zu reiten! Wenn die kleinen Ponys das Ende des Ausflugs spürten und den Hügel hoch galoppierten, um schnell zurück in ihren Stall zu kommen, flogen unsere Hüte weg und unsere Zöpfe und Haare wehten im Wind.

    Nachdem wir uns an das Reiten gewöhnt hatten, wurde von uns erwartet, vor dem Satteln und Zäumen selbst unseren Sattel und das Zaumzeug zu überprüfen. Eines Tages kam ich zu spät, denn ich hatte vorher eine überlange Klavierstunde gehabt. Ohne vorher den Sattelgurt zu überprüfen, schwang ich mich in den Sattel. Wir gingen im Trab durch die Gasse und dann durch das Tor auf die große Weide, die hinunter zum Bach führte. Als wir schräg bergab trabten, spürte ich eine Verschiebung in meinem Sattel. Ach so, beruhigte ich mich, der Sattel passt sich dem Winkel an. Es dauerte nicht lange und der Sattel gab der Neigung nach und rutschte mit mir vom Pferd herunter. Ich versuchte noch, mich mit meinen zusammengedrückten Knien am Pferd festzuhalten, aber es klappte nicht. Ich hing halb vom Pferd, als ich einen Schrei von mir gab, die Gurte losließ und mit dem Rücken auf dem Boden aufprallte. Mein Pony machte einen Satz nach vorne und stieß in das Nächste, was die ganze Reihe in Unruhe brachte. Alle drehten sich um.

    „Jan ist ’runtergefallen, Jan ist ’runtergefallen", rief Mary Sue. Ihre Schadenfreude war nicht zu überhören.

    „Ich bin nicht heruntergefallen", antwortete ich zu meiner Verteidigung.

    „Jan ist ’runtergefallen, Jan ist ’runtergefallen", rief sie noch einmal.

    Ich hatte vorher schon gemerkt, dass sie es genoss, wenn ich Probleme hatte. Jetzt hatte sie schon wieder ihren Spaß auf meine Kosten.

    „Ich bin nicht heruntergefallen, Mary Sue Swan. Nein! Der Sattel ist heruntergerutscht!"

    „Oh, der Sattel ist heruntergerutscht, lachte sie, „den solltest du vorher checken, du Besserwisserin!

    Ich schwöre, wenn der Reitlehrer in diesem Moment nicht erschienen wäre, hätte ich Mary Sue auf den Boden gezogen und ihr großes Maul mit einem gezielten Schlag gestopft.

    Wir spielten auch andere Sportarten, zum Beispiel Cricket und Tennis.

    Gottseidank nahmen wir unseren Sport nie ernst – wir spielten nur, um Spaß zu haben − also spielten wir Cricket mit einem Tennisball. Wegen meiner schlechten Wurffähigkeit wurde ich in der Feldmannschaft zum Fänger eingesetzt. Als Werfer wurden diejenigen genommen, die kräftige Arme hatten und gezielt werfen konnten. Einmal spielte ich den Fänger und Mary Sue war Schlagmann. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund benutzte Mary Sue ein anderes Mädchen, um für sie zu rennen, sodass sie nach dem Abschlag nur grinsend dastand. Sie hatte schon viele Punkte gesammelt, aber diesmal traf der Ball sie vor dem Wicket am Bein.

    „Aus!", riefen wir im Chor. Sie bewegte sich nicht vom Fleck.

    Bein vor Wicket, Sue – du bist ‘raus!"

    „Nein, bin ich nicht", sagte sie gelassen und drehte sich in Erwartung des nächsten Wurfs zu dem Werfer um. Das wütende Schimpfen der kleinen Mädchenschar ignorierte sie.

    „Na gut, dann lassen wir ihr den Vorteil des Zweifels."

    Der nächste Ball kam mit Wucht und sie versuchte, ihn abzuwehren und wegzuschlagen, aber traf daneben. Der Ball traf das Wicket und die Bails fielen herunter.

    „Du bist ‘raus", riefen wir ihr im Chor zu.

    „Nein, bin ich nicht", sagte sie.

    Jede schrie, „raus, raus, raus", aber Sue rührte sich nicht vom Fleck. Ich ging, um die Bails zu ersetzen und ließ die Stöcke provozierend vor ihrem Gesicht hin- und her pendeln. Wir starrten uns gegenseitig wortlos ins Gesicht. Sie drehte sich um und hob wieder ihren Schläger hoch – als Zeichen zum Weiterspielen. Ich ging in meine Feldspielerposition zurück. Der nächste Ball kam langsam und Sue wehrte ihn mit einem kräftigen Schlag ab. Ich brauchte mich nicht zu bewegen, sondern streckte nur meinen Arm aus, um den Ball lässig zu fangen. Die Mädchen hüpften hysterisch hoch und runter und schrieen:

    „Diesmal bist du wirklich raus! Raus, raus, raus!"

    Mary Sue rührte sich nicht. Sie war wie erstarrt. Während ich den Ball in der

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