Ein Tag ohne Nacht: und wie daraus Geschichten wurden
Von Gudrun John
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Über dieses E-Book
Gudrun John
Dr. Gudrun John studierte Germanistik, Philosophie, Sozialwissenschaften und Psychologie an den Universitäten Köln und Tübingen. Ihre Dissertation ist eine Forschungsarbeit zum Bildungswesen der Tibeter. Der höchste Würdenträger Tibets, der Dalai Lama, gewährte ihr ein einstündiges Interview im Rahmen ihrer Recherche. Schon als Jugendliche lernte sie die Faszination des Reisens kennen. Während ihrer Studienzeit verbrachte sie mehrere Monate in Vorderasien. Dies bot ihr die Möglichkeit, tief in den Kulturkreis des Islam einzudringen. Spätere Reisen führten sie in die ganze Welt, vornehmlich jedoch nach Indien und in die vom Buddhismus geprägten Länder Asiens. 1986 konnte sie, kurz nach der Öffnung des Landes, nach Tibet einreisen. 1992 gelang es ihr als eine der Ersten, Mustang zu Fuß und zu Pferd zu erkunden. Danach erschien 1993 ihr Buch "Mustang, ein wiederentdecktes Königreich in Nepal" und 1995 "Zauber Indien", welches vom indischen Botschafter persönlich auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt wurde. Zwischen 1995 und 2000 verbrachte sie mehrere Monate bei den Exil-Tibetern in Nordindien. Nach langen, intensiven Recherchen entstand das Buch "Tibetische Amulette aus Himmelseisen", das bisher einzige Sachbuch über die kleinen, geheimnisvollen Amulette der Tibeter, mit einem Vorwort des höchsten Abtes der Bon-Gläubigen. In zahlreichen Zeitungsartikeln schrieb sie über ferne Länder und ihre Bewohner, über ihre Traditionen, ihre Religionen und Rituale. Die Fotografie, als Ergänzung zum persönlich Erlebten, trat immer stärker in den Vordergrund und ergänzte als authentische Dokumentation ihre Vorträge an vielen Instituten und Universitäten. Nach langen Jahren des intensiven Reisens erzählt Gudrun John in ihrem neuen Buch von den außergewöhnlichen Erlebnissen eines Tages, die zu Geschichten wurden. Es sind spannende Geschichten, die neugierig und zugleich nachdenklich machen. Sie lässt den Leser an überraschenden Begegnungen mit bezaubernden und faszinierenden Menschen teilhaben, beschreibt ihre Feste und einzigartigen Rituale. Sie folgt dem Reiz des Verborgenen und entdeckt dabei immer wieder aufs Neue die unbekannten Wunder unserer Welt.
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Rezensionen für Ein Tag ohne Nacht
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Buchvorschau
Ein Tag ohne Nacht - Gudrun John
für meinen Mann
und alle
die dieses Buch mit Freude lesen
Inhalt
Ein Prolog – oder –
Ein Tag ohne Nacht
Ein Tag in den Hochland-Dörfern von Papua – oder –
Glück für die einen – Pech für die anderen
Ein Tag am Kailash – oder –
Der Sprung in ein neues Leben
Ein Tag in Chichicastenango – oder –
Die bunten Häuser der Muertitos
Ein Tag in Tawang – oder –
Der Traum vom Liebesnest
Ein Tag im Wadi Hadramaut – oder –
Das Steinbockfest gibt es doch
Ein Tag in Kashgar – oder –
Hier ist das Fettschwanz-Schaf der Star
Ein Tag im Dorf der tönernen Pferde – oder –
Eine verbotene Liebe
Ein Tag in der Wüste – oder –
Ein Meer aus Sand
Ein Tag in Rishikesh – oder –
Die große Nacht des Shiva
Epilog – oder –
Ein neuer Tag in Irgendwo
Ein Prolog
– oder –
Ein Tag ohne Nacht
Damals war ich gerade achtzehn geworden, war Studentin im ersten Semester, voller Lebensfreude, und einmal wieder mit meiner Schwester unterwegs in den Ferien. Diesmal hatten wir eine Freundin von ihr mitgenommen. Die Fahrt in die nordischen Länder war recht kostspielig, und zu dritt würden sich die Ausgaben für den Einzelnen in Grenzen halten. Außerdem wäre die Wahrscheinlichkeit eines erhöhten Streitpotentials bei Anwesenheit einer dritten Person geringer; das waren unsere Überlegungen.
Jede von uns Dreien hatte während unserer Reise ihre ganz bestimmten Aufgaben zu erfüllen, so war es vorher abgesprochen; wir wollten auf diese Weise jeden unnötigen Ärger vermeiden. Der fing aber schon gleich in Dänemark an. Meine Schwester fuhr ihren hässlichen blauen Kadett, das machte sie prima; ich war der Copilot und musste auf der Karte den richtigen Weg finden, was meistens auch funktionierte; die Freundin war für die Essenstasche verantwortlich, das heißt, sie musste die Vorräte verwalten, was ihr aber völlig misslang. Unter anderem hatten wir von zu Hause Rübenkraut mitgenommen, damals ein durchaus üblicher und kostengünstiger Brotaufstrich. Das Eimerchen mit dem süßen Sirup sollte eigentlich bis zum Ende unserer Reise reichen, aber ihr war wohl entgangen, dass man den Deckel nach dem Gebrauch auch wieder sorgfältig verschließen muss. Beim nächsten Essensstopp wollte sie uns dann lieber in eine Imbissbude einladen, da ahnten wir noch nichts Böses. Aber am Abend – der Blick in die Tasche – wir wussten nicht, ob wir lachen oder schimpfen sollten. Dauerwürstchen, Käse, Eier, Brot, Besteck – alles war zu einer braunklebrigen Masse verbacken, die nicht mehr zu gebrauchen war. Wir entzogen ihr daraufhin die Verantwortung für eine neue Tasche. Obwohl uns damit nicht wirklich geholfen war.
Später in Norwegen, als wir mindestens schon zwei Wochen unterwegs waren, haben wir uns fast ein bisschen für den Ärger über eine solche Lappalie geschämt. Wir fuhren damals auf einer endlos geraden Straße, ich weiß gar nicht mehr, wie lange wir immer nur geradeaus gefahren waren. Die Landschaft rechts und links war öde und leer, hügelige, mit braungrünem Gestrüpp bedeckte Wildnis, nur hin und wieder ein bunter Tupfen Heidekraut.
Dann stand da plötzlich dieser VW-Bus; aus dem Fenster hing ein Arm mit einem weißen Taschentuch. Hinter dem Steuerrad saß mit blutverkrustetem Gesicht ein junger Mann, der nur noch sagen konnte: „Helft mir! Meine Schwester hatte ein Jahr Krankenhausdienst hinter sich, deshalb war wohl auch ihr „Notfallköfferchen
mit im Gepäck. Sie wusste, was in einer solchen Situation zu tun war, und bald war er wieder einigermaßen ansprechbar. Wie er uns dann erzählte, war er wohl für einen Moment unaufmerksam gewesen und hatte mit zu hoher Geschwindigkeit eines dieser verdammten Schlaglöcher erwischt. Dabei wurde er so heftig gegen das Autodach geschleudert, dass er jetzt eine riesige Platzwunde am Schädel hatte, die unbedingt genäht werden musste. Dafür waren wir nun aber doch nicht ausgerüstet. Was also tun? Wir mussten dringend einen Arzt finden; nur wo? Auf dem Weg zurück konnten wir uns an kein Dorf erinnern, und was vor uns lag, und ob es da einen Arzt geben würde, wussten wir nicht. Unserem „Patienten" ging es wieder schlechter, und wir gerieten zusehends in Panik. Da tauchte plötzlich wie aus dem Nichts ein Mann auf, der ein Rentier an einem Strick mit sich führte. Er trug die alte Tracht der Samen, so nennt man wohl heute das Volk der Lappen – und dann dieser Elch! Für mich war es jedenfalls ein Elch, denn er erschien mir riesig und wunderschön, wie aus einem Märchen. Es gibt Momente, die irgendwann zu Geschichten werden, so ungeheuerlich brennen sie sich ins Gedächtnis. Damals habe ich das jedoch kaum als Idee wahrgenommen, damals zählte nur der Augenblick der Not und einer möglichen Erlösung.
Der Elch-Mann näherte sich nur sehr zögerlich, aber er verstand sehr bald, dass wir dringend Hilfe brauchten. Unsere Karte sagte ihm gar nichts; er zeigte immer wieder in die Ferne vor uns, und meinte, dass wir dort wohl einen Arzt finden würden. Wir packten also unseren Patienten in unser Auto und fuhren los. Die Freundin ließen wir bei seinem Auto zurück. Aber es kam kein Dorf, wir fuhren und fuhren, bald völlig verzweifelt. Dann, nach mehr als hundert Kilometern, Häuser!
Es war inzwischen zwei Uhr nachts. Für uns war es Tag – und für die anderen wohl auch. Es war ja hell, das heißt grau-hell, und gleich im ersten Haus saßen Leute auf der Veranda, die wir fragen konnten. Einer von ihnen führte uns dann auch sofort zum Arzt. Aber der wollte die Klingel nicht hören und öffnete erst, als wir heftig gegen die Tür polterten. Er machte sie einen Spalt breit auf und sagte nur: „Ich habe Urlaub!" Dann schlug er sie wieder zu. Wir polterten wieder, und wieder. Schließlich machte er doch auf. Wahrscheinlich wollte er nur sagen, dass er Urlaub hätte. Aber ich kam ihm zuvor und erklärte ihm voller Zorn, dass ich Medizin studieren würde und dass ich sein Verhalten unmöglich finden würde. Das stimmte so gar nicht, ich hatte nur einen Freund, der Medizin studierte, aber meine Worte zeigten Wirkung, und er führte uns brummig in sein kleines Behandlungszimmer, irgendwo im Keller. Ich wollte mich hier lieber nicht umsehen, er schien wohl schon länger Urlaub zu haben. Unser Patient war jedoch nach einer Weile versorgt, bekam noch eine Spritze, und wir konnten ihn wieder die endlose Straße zu seinem Auto zurückfahren. Am Morgen, der genauso aussah wie die Nacht, trennten sich unsere Wege.
Nach diesem Schrecken folgte pure Lebenslust. Auf dem nördlichen Peer-Gynt-Weg trafen wir eine kleine Gruppe Studenten, die uns gleich zu sich nach Hause einluden. Ich kann mich noch an die riesige Buttercreme-Torte erinnern, die wir gemeinsam verspeisten, und an den „verbotenen Schnaps, den wir beisteuerten, und an die verrückten Tänze, und an ihre seltsamen Lieder, die eigentlich nichts mit Liedern zu tun hatten. Sie waren den Gesängen der Samen nachempfunden, die sich „das Volk der Sonne und des Lichts
, nennen. Dazu schlug einer die mit Symbolen bemalte Schamanentrommel, wie ich sie auch schon auf Abbildungen sibirischer Schamanen gesehen hatte. Ein anderer blies auf einer Art „grünen Flöte. Sie nannten das, was sie da taten „Joik
. Und sie erklärten uns, dass dies alles ein wichtiger Teil ihrer Geschichte sei, fest verankert im animistischen Glauben ihrer Vorfahren und deren rituellen Handlungen.
Ich war fasziniert und einfach nur hingerissen von ihrem spontanen Gesang, der die raue Landschaft der vergangenen Tage wieder vor mir entstehen ließ, dazu die unerwartet eingestreuten, fröhlichen Momente der Musik, die Freude am Leben. So verbrachten wir eine lange Tag-Nacht, denn die Sonne ging einfach nicht unter – und wir nicht schlafen.
Unsere Studenten-Freunde drängten uns dazubleiben, wir aber wollten unbedingt weiter, nach Norden, zum Nordkap, dem fast! nördlichsten Punkt Europas. Dort, das hatten wir uns fest vorgenommen, würden wir uns im einzigen Postamt Europas, das nach alter Tradition Champagner ausschenkt, ganz sicher ein Gläschen gönnen. Es heißt, dass Carl Vogt, ein deutsch-schweizer Naturwissenschaftler, nach Champagner verlangte, als er es endlich geschafft hatte, 1861 das Nordkap zu erreichen. Und alle anderen haben es ihm wohl nachgemacht!
Wir fuhren und fuhren, Tag und Tag-Nacht – und waren eigentlich nie wirklich müde, eher erschöpft, aber nicht müde. Wir bauten unser Zelt auf, wann immer uns danach war und wo wir einen geeigneten Platz fanden. Manchmal konnten wir auch in einem kleinen Dorf übernachten, in einer eher privaten Unterkunft, wo wir wie eigene Kinder umsorgt wurden. Die Toiletten waren hier die völlig unerwartete Attraktion. Meist erwiesen sie sich als ein geräumiges Plumps-Klo mit zwei Sitzen nebeneinander. Vielleicht wollte man spannende Gespräche dort einfach weiterführen. Der wirkliche Sinn hat sich mir aber nicht erschlossen.
Die einzige Straße, die damals nach Norden führte, war nicht für hohe Geschwindigkeiten gebaut. Kaum gab es asphaltierte Abschnitte, aber der feine Sand-Schotter-Belag war wie von Geisterhand gesäubert und sah immer glatt und wie gerecht aus. Vielleicht war der Grund hierfür auch der wenige Verkehr, denn stundenlang begegnete uns kein Auto. Abwechslung brachten nur die kleinen, spiegelnden Seen, die den Blick für einen kurzen Moment festhielten und vom Grau-Braun-Grün-Gelb der Landschaft ablenkten. Und natürlich die Elche, für mich waren alle Rentiere „Elche". Manchmal standen sie einfach da, zu mehreren, ganz friedlich, mit ihrer beeindruckenden Körpergröße und dem Riesengehörn.
Irgendwann hatte die Straße tatsächlich ein Ende. Wir standen am Ufer des Nordmeeres, in einer kleinen Bucht, an