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Ich habe dir nie davon erzählt: Die Geschichte einer besonderen Flucht aus der DDR
Ich habe dir nie davon erzählt: Die Geschichte einer besonderen Flucht aus der DDR
Ich habe dir nie davon erzählt: Die Geschichte einer besonderen Flucht aus der DDR
eBook304 Seiten3 Stunden

Ich habe dir nie davon erzählt: Die Geschichte einer besonderen Flucht aus der DDR

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Über dieses E-Book

Die Autorin beschreibt die mühevolle Geschichte ihrer Ausreise aus der DDR, die Schikanen der Behörden und die eigenartige Verwurzelung in einem uns heute fremden gesellschaftlichen System, in dem zusätzlich noch ihr eigener Vater tief verwurzelt ist.

Als sie all dem entkommen ist, in Kopenhagen, bricht zusammen, worauf sie ihr Leben ausgerichtet hatte. Durch die Hilfe großzügiger Menschen, die selber einmal in Not waren, gelangt sie in die Bundesrepublik Deutschland und baut sich hier eine neue Existenz auf.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum30. Nov. 2015
ISBN9783739210834
Ich habe dir nie davon erzählt: Die Geschichte einer besonderen Flucht aus der DDR
Autor

Marlis Evely Hauffe

Marlis Evely Hauffe verbrachte ihre Kinder- und Jugendjahre in Leipzig. Im Frühjahr 1977 gelang ihr die Ausreise aus der DDR. Von dort reiste sie zuerst nach Dänemark. Als sie dann in die Bundesrepublik kam, baute sie sich rasch eine eigene Existenz auf. Sie wurde von einem Exportunternehmen angestellt, in dem sie sich emporarbeitete. Als sie sich 1979 die Niederlassung in Dubai anschauen sollte, lernte sie dort ihren späteren Ehemann kennen. 1983 wagte sie noch einmal den Sprung in eine ganz neue Richtung. Fortan reiste sie mit der Deutschen Lufthansa durch die Welt. Seit 2010 unterstützt sie ihren älteren Sohn, bei der Entwicklung seines interantionalen Unternehmens in der Golfbranche. Schließlich entstand  daraus  ein  Netzwerk:  „Business to People – Netzwerk mit Herz“.  Ihre Passion hat sie damit zur Profession gemacht und verbindet Menschen. „Die  Suche  nach  der  großen  Welt“  ist ihr erstes Buchprojekt und ihr Debüt als Autorin.

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    Buchvorschau

    Ich habe dir nie davon erzählt - Marlis Evely Hauffe

    Hesse

    Kapitel 1

    Der Sommerwind rauschte in den Linden vor unserem Haus. Es war noch dunkel, aber die Vögel begannen bereits zu zwitschern. Vater schlief noch. Da meine Mutter keine Fahrerlaubnis hatte, musste er am Steuer sitzen – die ganze Strecke bis zum Balaton. Deshalb wollten wir ihm jede Minute gönnen, sich auszuruhen. Die Koffer waren bereits im Auto verstaut. Meine Mutter brühte frischen Kaffee für die rote Thermos-Kanne, in der blauen war schon Kräutertee. Im Picknickkorb lagen Brote, Brötchen mit Schnitzel, hart gekochte Eier, Obst und Gurken. Erst als der Frühstückstisch gedeckt war, die Brötchen zum Aufbacken auf dem Toaster lagen und meine heiße Schokolade auf dem Tisch stand, weckten wir ihn. 

    Er kam schleppend aus dem Bett. Die letzten Wochen waren anstrengend für ihn gewesen – die ersten Vorbereitungen für die Herbstmesse. Und er hatte alle Aufgaben seinem Stellvertreter übergeben müssen. Man duldete die sechs Wochen Abwesenheit meines Vaters. Die Bezirksdirektion für Hotel- und Gaststättenwesen hatte keinen besseren, der mit internationalen Handelspartnern den Spagat zwischen Marktwirtschaft und sozialistischer Planwirtschaft hätte meistern können. Er wurde von vielen Firmen angefordert, sie lehnten jeden anderen Verhandlungspartner ab. Deshalb konnte er sich mehr Freiheiten erlauben als viele andere. Mein Vater war bei den Kollegen beliebt, alle standen hinter ihm. Er war streng und fordernd, aber auch großzügig und ging mit allen fair um. Bei ihm zählte nur die Leistung. In anderen Dingen war er tolerant. Bei guter Arbeit und besonders guten Abschlüssen lud er die gesamte Mannschaft zum Essen ein. Und wenn die Sonne schien, wurden die Besprechungen ins Freie verlegt. Jeder brauche zum Denken frische Luft, sagte er immer. Mein Vater war ein Sonnenanbeter und ließ sich kaum einen Sonnenstrahl entgehen. 

    Ein letzter Blick auf Fenster, Türen, Schränke und Wasserhähne. Als wir losfuhren, leuchtete der Himmel im Osten rot.

    Das Schild „Hermsdorfer Kreuz". Der Weg war vertraut. Mein Vater kannte die Strecke im Schlaf. Ich saß neben ihm und unterhielt ihn. Meine Mutter lag auf der hinteren Sitzbank, eingehüllt in Decken und Kissen.

    Die Straßen waren leer. Mein Vater schaltete das Autolicht ab. Im Radio lief Musik von Daliah Lavi und Caterina Valente. Ich reichte ihm eine Tasse Kaffee und aß ein paar Schokowaffeln. Am Zigarettenanzünder zündete ich seine Lieblingssorte F6 an. Auf meinen Schoß lag die Straßenkarte. Ich verfolgte die Route. In einem Notizheft vermerkte ich die einzelnen Etappen, schrieb den Kilometerstand auf und die gefahrene Zeit. 

    Inzwischen lag bereits die tschechische Grenze hinter uns. Meine Mutter hatte davon kaum etwas mitbekommen. Ich hatte dem Beamten die Reisepapiere gereicht; er bestand nicht darauf, meine Mutter zu wecken. Der Blick auf die Rückbank genügte ihm. Der Kofferraum wurde flüchtig geöffnet. Wir hatten Glück, dass es schnell ging. 

    Unsere nächste Station sollte Prag sein. In Prag wollten wir diesmal übernachten. Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel, im Auto wurde es warm. Wir öffneten die vorderen Fenster und das Schiebedach. Ich sprach mit meinem Vater über die Schule, das Abitur und was danach kommen könnte. Ich wollte Medizin studieren. Auf der Fahrt interessierte er sich mehr für meine Belange als sonst. Nur über meine Sehnsucht nach der großen Welt konnte ich nicht sprechen. Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen: „Marlis, wo sind wir?" 

    Meine Mutter war aufgewacht.

    „Kurz vor Prag, Du kannst Dich langsam zurechtmachen."

    „Ich freue mich, dass Du wieder unter uns weilst", sagte mein Vater lächelnd.

    Ich reichte eine Tasse Kaffee und ein Waffelröllchen nach hinten.

    „O, danke, sagte sie, „ich bin einem rollenden Café!

    „Sie hatten doch einen Urlaub für Staatsfunktionäre gebucht", scherzte ich.

    Mein Vater wurde ärgerlich: „Nun ist aber gut." 

    Wir schwiegen verstimmt. Die Stille wurde drückend. Ich schaltete das Radio ein: Karel Gott sang.

    „Nun, den kennen wir doch", sagte ich.

    Meinem Vater bot ich eine Tasse Kaffee an. „Möchtest Du, dass ich eine Zigarette anzünde?"

    Kurz und knapp kam: „Ja". 

    Das Hotel „Goldene Stadt Prag lag direkt an der Moldau. Der Blick hinüber zur Burg war atemberaubend. Mein Vater bog auf den Parkplatz ein. „Wir sind da, alle aussteigen!, rief er. 

    Meine Mutter lief zum Eingang und beauftragte einen Kofferjungen, die Koffer und Taschen aus dem Auto zu holen. Sie sprach mehrere Sprachen, so dass wir überall gut zurechtkamen. Neben Russisch, Englisch und Polnisch verstand sie auch etwas Tschechisch. Mein Vater war dankbar, dass meine Mutter dolmetschte und so unkompliziert mit Menschen umgehen konnte. Er war zwar während seines Studiums in Sprachen sehr gut gewesen, jedoch hatte er Scheu, auf fremde Menschen zuzugehen. 

    Im Hotel wollte er sich Zigaretten kaufen. „Eigentlich viel zu schade, das wenige getauschte Geld dafür auszugeben", sagte meine Mutter. 

    Wir durften nur eine festgelegte Summe DDR-Mark pro Tag in Auslandswährung umtauschen. Der Betrag reichte dann entweder für das Essen oder die Unterkunft. Für das Benzin gab es Gutscheine. Um die Menge zu ermitteln, mussten wir genau ausrechnen, wie viele Kilometer wir fahren. Mein Vater hatte dann zu kalkulieren, wie schnell er fährt, damit das Benzin reicht. Die Strecke war jedem DDR-Bürger vorgeschrieben. Es durften nur diese Straßen und Autobahnen benutzt werden und keine anderen. Kontrollen gab es immer wieder. Hielt man sich nicht daran, war man nervenden Verhören wegen „Verstoßes gegen das Transitabkommen und vermeintlicher „staatsfeindlicher Umtriebe ausgesetzt. Im schlimmsten Fall konnte man sogar ins Gefängnis kommen. Der lange Arm der Staatsmacht reichte auch in die „Bruderstaaten".

    Meine Eltern hätten unter normalen Umständen den Aufenthalt im Hotel von dem offiziell getauschten Geld nicht bezahlen können. Aber ein Kollege aus Prag hatte bei einem Besuch in Leipzig von meinem Vater DDR-Geld erhalten. So konnte der Bezirksdirektor aus Prag die Stadt Leipzig von ihrer schönsten Seite kennenlernen. Es war ausgemacht, dass wir bei einem Besuch in Prag das Geld in tschechischen Kronen zurückbekommen. Solche Tauschgeschäfte zum gegenseitigen Vorteil praktizierte mein Vater öfter. Es war natürlich streng geheim. So war es immer: Einerseits genoss ich unsere Privilegien, auf der anderen Seite quälten mich die vielen Heimlichkeiten. 

    In Prag fühlten wir uns wie besondere Menschen. Das Hotel war mit mehreren Kochmützen ausgezeichnet worden. 

    „Hier wohnen oft Staatsoberhäupter", sagte mein Vater und schritt zum Fahrstuhl. Ich war beeindruckt. Wir waren schon oft in Prag gewesen. Dieses Hotel war jedoch das schönste, das ich bisher betreten hatte. Ein Portier brachte die Koffer und öffnete die Tür. Das Zimmer war hoch, die Decke mit Stuck verziert, die Vorhänge aus schwerem Samt. An den Wänden hingen alte Bilder in Goldrahmen. Sie zeigten Prag Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts. Pferdekutschen, eine alte Straßenbahn vor einem berühmten Café. Ich kannte es von einem früheren Besuch. Mein Blick fiel auf die Betten. Große wuchtige Holzrahmen mit gepolstertem Rückenteil aus Samt. Daneben stand ein kleineres Bett.

    „Das sieht ja süß aus!", rief ich. 

    Sie dachten wohl, da kommt ein kleineres Kind, denn sie hatten einen Plüschbären darauf gesetzt. Gegenüber standen ein runder Tisch und drei Sessel, auf dem Tisch eine Vase mit Rosen und Gräsern. 

    „Das ist alles sehr geschmackvoll eingerichtet, sagte meine Mutter, „man merkt sofort, dass wir nicht in der DDR sind.

    „Kannst du das bitte für dich behalten, wen interessieren Deine Kommentare", platzte mein Vater gereizt heraus. 

    Meine Mutter war wieder einmal ins Fettnäpfchen getreten. Sie sah geknickt aus. Mein Vater merkte es. Er ging auf sie zu und nahm sie in den Arm: „Entschuldige. Ich bin immer unter Spannung, muss dauernd aufpassen, das nervt auch mich." 

    Sie gab ihm einen Kuss. Die Stimmung war gerettet.

    Kurze Zeit später spazierten wir durch die Stadt. Die Straßencafés waren gut besucht. Die neuen Tatra-Straßenbahnen, die später auch in der DDR eingesetzt wurden, rauschten an uns vorbei. Auf dem Heimweg zum Hotel kauften wir Kuchen für die Weiterfahrt.

    „Rasch ins Bad, und dann schnell schlafen, sagte meine Mutter.

    „Morgen steht uns eine lange Fahrt bevor, ergänzte mein Vater, „aber vorher gibt es tolles Frühstück im Hotel.

    Auch am nächsten Tag waren die Straßen ziemlich leer. Es war Sonntag. Mein Vater wirkte müde. Ich gab mir Mühe, ein spannendes Thema anzuschneiden, um ihn wach zu halten. Mutter schlief wieder auf der Rückbank. Sie klagte, seit ich mich erinnern konnte, über Schlafstörungen. Nur im Auto schlief sie wie ein Murmeltier. Mein Vater meldete die ersten Beinkrämpfe an. Das Gaspedal unseres Autos war sehr fest. Wir kannten das schon von den anderen Reisen ins Ausland. Um Abhilfe zu schaffen, hatte er den Einfall, dass ich mein linkes Bein auf das Gaspedal stellen sollte, während er nur noch für die Bremse zuständig war. So könnte er etwas ausruhen, ohne dass wir Zeit verlieren würden. Ich fand es toll, dass mein Vater mir das zutraute. Die größte Schwierigkeit war die Übergabe des Pedals von einem zum anderen. Es durfte nicht holpern und eventuell meine Mutter aufschrecken. Wir gaben uns Handzeichen. Sie bekam in ihrem Tiefschlaf nichts mit. Wir sagten es ihr auch nicht, sie hätte sich furchtbar aufgeregt. Vater und ich hatten ein Geheimnis. 

    Ich schaute aus dem Fenster. Wälder und Felder wechselten ständig. Meinem Vater goss ich frischen Kaffee ein.

    „Nur noch 115 Kilometer, dann sind wir da", sagte er. 

    „Dann kommen wir ja noch vor der Dunkelheit an", sagte ich. 

    Ein paar Kilometer hinter der ungarischen Grenze weckte ich meine Mutter. Sie legte großen Wert auf ein perfektes Äußeres. Jede Haarsträhne musste ordentlich liegen, der Lippenstift gleichmäßig aufgetragen sein. Ich drehte die Musik lauter und rief: „Hallo aufwachen, wir sind bald am Balaton!"  

    Verschlafen schaute sie mich an. Sie konnte nicht glauben, dass sie auch diesmal die Grenzkontrolle verschlafen hatte. 

    Die Straße führte am Balaton entlang. Das Gefühl von Freiheit und Abenteuer machte sich breit. Die Freude konnte ich auch meinem Vater ansehen. 

    Meine Mutter war die Ausgeruhteste. Wenn wir angekommen sind, wird sie zu wirbeln beginnen. Eine Art Arbeitsteilung. Mein Vater beteiligte sich so gut wie nie an häuslichen Pflichten. Er war darin ziemlich ungeschickt. 

    Wie bogen in eine kleine Anliegerstraße ein. „Endstation Balaton!", rief mein Vater.

    Das schöne Haus von Anika stand unter den alten Bäumen, umrahmt von großen Büschen. Überall blühten die Blumen. Das Federvieh lief im Garten herum. Hund und Katze tobten auf der Straße. Ländliches ungarisches Leben inmitten einer herrlichen Landschaft. 

    Mein Vater öffnete die Autotür. Er streckte sich. Seine Beine drehte er hin und her und hüpfte auf der Stelle: 

    „Ach, das tut gut nach dieser langen Fahrt", stöhnte er. 

    Meine Mutter sprang wie eine Gazelle aus der hinteren Tür. 

    Anika kam auf uns zu: „ Jonapotkiwanok, schön, dass Ihr wieder da seid!"

    „Anika, Anika – o, ich freue mich, wo ist Sandor, rief ich ihr entgegen. „Er sucht seine Angelsachen zusammen und macht das Boot für die Angeltour fertig. Er will einen großen Zander für Euch fangen.

    Frischer Kuchen stand auf dem Tisch. Der Tisch stand unter einem alten Kirschbaum. „Kommt erst einmal zum Kaffee her, danach könnt Ihr auspacken."

    Meine Mutter war bereits eifrig beim Suchen. Sie wollte doch die mitgebrachten Geschenke überreichen. Diese Rituale waren für sehr wichtig.

    „Ich komme gleich!", rief sie.

    Ich sah, wie sie eine Tasche aus dem Kofferraum zog, etwas verzweifelt suchte und wieder hineinstellte. Ich bat meinen Vater, ihr zu helfen. Schnellen Schrittes steuerte er den Kofferraum an.

    „Hier sind alle Sachen. Den Rest machst Du bitte später!" 

    Als sie den Reißverschluss eines Koffers öffnete und Schleifenbändchen zum Vorschein kamen, machte sich bei meiner Mutter Erleichterung breit. Endlich saßen wir am Tisch. Dabei gab es noch ein kleines Problem: Mein Vater saß zu sehr im Schatten. Er rückte ständig seinen Stuhl und verrenkte seinen Kopf. Die Arme legte er soweit wie möglich auf den von der Sonne beleuchten Teil des Tisches. Anika kannte seine Marotte: „Wolfgang, wir stellen den Tisch in die Sonne, dann musst Du keine akrobatischen Übungen mehr machen."

    Sonne war für ihn wie ein Grundnahrungsmittel. Nun noch die genüssliche Zigarette zum Kaffee, dann fühlte er sich wie im Paradies.

    Ich lief inzwischen in den Garten. Anika hatte zwei Schweine, vier Truthähne, zwei Hähne und Hühner. Im Stall waren auch Kaninchen. Ich liebte den Geruch der Tiere, den Duft der Blumen und Gräser. In unserem Ferienhaus hatte Anika die Wände mit einer anderen Farbe gestrichen. Blumentöpfe standen auf den Fensterbänken mit Sommerblumen. Bestickte Decken dekorierten Tische, Stühle und Betten. Hier fühlte ich mich wie zu Hause. 

    Ich hörte Schritte. Es war Sandor. „Hallo Marlis, meine Liebe, schön, dass Du hier bist, lass Dich umarmen. Er war für mich wie ein Verwandter. „Du bist ja eine große Dame geworden! 

    Wir gingen gemeinsam zu meinen Eltern. Anika brachte ihren selbstgebrannten Schnaps. 

    Es war dunkel geworden. Die Luft war lau. Am Himmel die ersten Sterne. Grillen zirpten. Mein Vater hatte eine Stunde geschlafen und meine Mutter alles ausgepackt. 

    Anika bereitete das Abendessen vor. Hühnersuppe mit Nockerln und frischem Gemüse. Das Huhn hatte sie selbst geschlachtet. Der Duft des Essens stieg in meine Nase. Appetit hatte ich in Ungarn immer. Meine Eltern kamen Hand in Hand zum Tisch.

    Kurz vor Mitternacht sagte Anika: „Jetzt genießt eine erholsame Nacht. Morgen ist das Frühstück ab 8.00 Uhr für Euch bereit, wenn Ihr möchtet. Steht auf, wann Ihr wollt, schließlich habt Ihr Urlaub! Gute Nacht!"

    Ich drückte sie noch einmal und ging in mein Zimmer.

    Vor Jahren hatte ich hier schwimmen gelernt. Ich kämpfte mit dem Wasser ... Angst, Angst vor dem Wasser, vor der Tiefe, dem Versinken im Unbekannten ... „Gott hilf mir!", rief ich nach dem Helfenden, dem über alles Wachenden ... Mit Oma hatte ich immer gebetet, abends wenn die Kirchenglocken schlugen. Sonst nicht ... Verzweifelt ruderte ich, schluckte Wasser...

    Vom Ufer hörte ich die Stimme meines Vaters: „Komm, schwimm einfach! Bleib ruhig! Ich ging unter. „Falsch geatmet!, rief mein Vater von seinem Strandtuch aus, „eins und zwei, eins und zwei". 

    Bitte, wenn es dich gibt, hilf mir, lass mich nicht untergehen! 

    „Toll, bravo, weiter, es geht doch ... atmen! Beine und Arme, Beine und Arme!" 

    Danke! Danke, wem auch immer, nur: Danke!

    „Gut, komm jetzt raus, heute Nachmittag üben wir weiter".

    Dann saß ich auf dem Handtuch und ließ mich von der Sonne trocknen. Ihr Licht glitzerte auf den leichten Wellen des Balatons. Am anderen Ufer der Tafelberg, der Badascony, im leichten bläulichen Dunst... 

    Schon als Kind war ich kontaktfreudig, voller Neugierde, plauderte viel. Schnell lernte ich am Strand Leute kennen. So begegnete ich zwei Jungen aus der Schweiz und freundete mich mit ihnen an, bald auch mit deren Eltern. Unsere Familien verbrachten die Abende gemeinsam. Ferenc, so hieß der Vater von Petr und Bela, war ungarischer Abstammung. Beide konnten französisch sprechen. Der Klang fremder Sprachen beeindruckte mich. Schon damals wollte ich viele Sprachen sprechen; Menschen aus anderen Ländern zogen mich an. Gespannt lauschte ich Ferenc, wenn er von der Schweiz berichtete. Dort, so erfuhr ich, sind die Geschäfte gefüllt mit allem, was das Herz begehrt. 

    Ich wollte wissen, wo Bela und Petr wohnten. Von der französischen Schweiz mit ihren schneebedeckten Bergen und tiefblauen Seen erzählten sie! Ich träumte davon, wenn ich im Wasser planschte und über den Balaton auf die Berge mit ihren Weinhängen sah.

    „Die Fahrt zu uns ist nicht weit von Ungarn aus, sagte Petr, „Du kannst ja mal zu uns kommen, wir zeigen dir alles. Für mich stand fest: Ich wollte in die Schweiz! „Die DDR und die Schweiz haben nichts gemeinsam. Schlag Dir diese Idee aus dem Kopf. Wir dürfen in kein nichtsozialistisches Land reisen, auch nicht mit Einladung", sagte mein Vater. 

    Schon damals setzte sich in mir etwas fest. Oft dachte ich an diesen Urlaub zurück – ich hatte gelernt, auf dem Wasser zu schwimmen, mich in einer bisher unbekannten Weise fortzubewegen und damit etwas Fremdes zu beherrschen... Und es war in mir ein neues Gefühl entstanden. Erst viel später verband sich das für mich mit dem Wort „Freiheit".

    Sonniger Morgen. Ein Blau wie im Bilderbuch, als ich aus dem Fenster zum Himmel sah.

    Ich lief in das Zimmer meiner Eltern. Vater schlief noch, Mutter stand schon unter der Dusche. Den Duft ihres Duschbades liebte ich. 

    „Guten Morgen, aufstehen, rief ich, „die Sonne lacht!

    Sonne. Das war das Zauberwort! Mein Vater sprang sofort auf: „Lass uns schnell frühstücken!"

    Einige Augenblicke später saßen wir am Tisch. Anikas Marmeladen und Konfitüren waren unbeschreiblich. Ich aß sie oft mit dem Löffel wie Kompott, auch heute lag ein Löffel neben meinem Schälchen. 

    Mein Vater trieb uns an, er wollte an den Strand. 

    Wir erwarteten unsere Freunde aus der Schweiz, aus Österreich und aus Westdeutschland. 

    Es war jedes Jahr eine Freude, sie wiederzusehen. Die Frauen unterhielten sich dann über Mode und alle Neuigkeiten der Prominenten. Die Männer machten Gesellschaftsspiele. Am Balaton hatten wir einen Stammplatz für unsere Handtücher und Badeutensilien. 

    Mein Vater forderte mich erneut auf, das Frühstück zu beenden. Er ging mit den Badeutensilien zum Auto. Jeder entgangene Sonnenstrahl wäre ein Verlust gewesen.

    Meine Mutter fühlte sich immer gehetzt von ihm. 

    „Nun komm, Erika, die anderen sind bestimmt schon am Strand!"

    „Ich bin fertig", erwiderte sie.

    Der kritische Blick in den Spiegel geriet ihr zu kurz. Trotzdem sah sie gepflegt aus. 

    Mit dem Auto waren wir in drei Minuten am Balaton. Mein Vater lief eilig vor uns her. Wir waren sein Gefolge. Meiner Mutter missfiel das, aber sie hatte das in mehr als 16 Jahren Ehe nicht ändern können.

    Von weitem sah ich Nelly und die Jungs auf ihren Strandlaken sitzen. Ich rannte auf sie zu. „Grüezi, mitternand", rief ich. Den schweizerischen Dialekt konnte ich recht gut nachahmen. 

    „Grüezi, grüezi", antworteten sie im Chor. 

    Ferenc, ihr Papa, war inzwischen auch zum Strand gekommen. Die Erwachsenen gingen gemeinsam zum Lido, um auf das Wiedersehen anzustoßen. Wir gingen mit. Für uns gab es frischen Aprikosensaft.

    „Welche Überraschung", rief mein Vater plötzlich. 

    Die Freunde aus Österreich kamen zur Tür herein. Nur unsere Maintaler fehlten noch. Sie wollten in einer Woche kommen, die Schulferien in Hessen hatten noch nicht begonnen.

    Die Erwachsenen saßen lange im Lido. Ein Jahr war vergangen und es gab viel zu erzählen. Zum Glück für meinen Vater standen die Tische in der Sonne. So hatte er alle Zeit der Welt. Meiner Mutter war es zu heiß und mein Vater spielte Kavalier. Er besorgte für sie einen Sonnenschirm. Diesmal hatte er trotz der Unterhaltung mit den Herren ihre Anwesenheit nicht vergessen. Ihn fesselten die Gespräche über internationale Neuigkeiten so, dass er alles ringsum vergaß. 

    Ich dachte an Jürgen. Er war bereits in der 9. Klasse und viel erwachsener als die Jungen in meiner Altersgruppe. Er war sehr betrübt, als ich mich für den langen Urlaub in Ungarn von ihm verabschiedet hatte. Er hatte mich vom Jugendclubhaus nach Hause gebracht. Wir standen lange an der Ecke. Er war vertrauter und gesprächiger als sonst gewesen. Ob ich es ernst mit ihm meine, wollte er wissen. Ich war unsicher, was ich ihm sagen sollte. Verletzen wollte ich ihn nicht, aber über meine wahren Gefühle konnte ich auch ihm nichts sagen. 

    „Lass uns die Urlaubszeit als Probe sehen", schlug ich vor. 

    Er küsste mich spontan auf den Mund. Sehr zart, und er streifte mein Gesicht mit seinen Händen. Mein erster Kuss. 

    Am Anfang hatte es auf dem Schulhof ein zögerliches „Hallo gegeben. Ich fühlte mich von ihm angezogen. Oft hatte ich das Gefühl, als beobachte er mich. Ich wurde für die Schulbibliothek verantwortlich. Von dort konnte ich über den Schulhof bis zum Schulgarten blicken – mein Schwarm schien mich zu suchen! Es hatte sich noch nicht herumgesprochen, dass ich in den Pausen in der Bibliothek war. Als ich einmal nach der Pause zu meinem Platz kam, fand ich einen kleinen Brief ohne Absender. Meine Nachbarin stichelte: „Na, hast wohl einen Verehrer! 

    Hastig öffnete ich das Briefchen und las: „Ich habe Dich vermisst, wo bist Du, Schöne und Stolze? Weißt Du, wer ich bin? Wenn ja, dann kannst Du mich in der nächsten Pause auf dem großen Schulhof treffen. Ein Verehrer von Dir".

    Ich fragte meine Nachbarin, ob sie gesehen hätte, wer diesen Brief gebracht hatte. „Keine Ahnung, vermutlich Jürgen, der schaut doch jeden Tag hinter Dir her und Du merkst nichts."

    „Aber er hat doch eine Freundin." 

    „Das ist nur seine Partnerin beim Tanzunterricht."

    Anfangs fand ich es spannend, dann aber beschloss ich, dem Ganzen nicht so viel Bedeutung beizumessen. Ich sagte mir, dass ich mich hier nicht binden sollte. Mir schien, als würde eine Liebesbeziehung mich für immer an dieses Land ketten. Das hatte etwas von Endgültigkeit, das widerstrebte mir. Dann sollte unsere Klasse Tanzunterricht bekommen. Es gab nur 8 Jungs, der Rest der Klasse bestand aus Mädchen. Wie sollt das gehen? Ich sollte mit einem Mädchen zum Tanzen gehen. Das gefiel mir nicht.

    Nach einigen

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