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Ostpreußen: Meine Tagebuchnotizen
Ostpreußen: Meine Tagebuchnotizen
Ostpreußen: Meine Tagebuchnotizen
eBook190 Seiten2 Stunden

Ostpreußen: Meine Tagebuchnotizen

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Über dieses E-Book

Für mich als kleines Kind reichte nur die Vorstellung, der Ort Groß Dankheim, von dem meine Mutter immer erzählte, müsse außerhalb der Welt liegen, mindestens so weit weg, wie der Mond und die Sterne, die ich auch nicht fassen konnte.
Mitte Januar 2009 reiste ich in dieses masurische Dorf, jetzt polnisch Przezdziek Wielki, um meinen Traum zu verwirklichen. Ich wollte die Jahreszeiten in ihrer Stille und ihrem Wachstum erleben, wollte dem einstigen bäuerlichen Leben meiner Mutter und meiner Großeltern nachspüren, wollte sehen, wovon meine Mutter mir immer erzählte.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum13. Juni 2023
ISBN9783757840105
Ostpreußen: Meine Tagebuchnotizen
Autor

Irmgard Irro

Geboren 24. 08.1949 in Straubing, Niederbayern, verheiratet, wohnhaft im Kreis Rosenheim, eine Tochter. Veröffentlichungen: Kurzgeschichten in der Zeitschrift "Torikage" in Japan und in deutschen Anthologien, sowie Sachberichte in den Zeitschriften "DER DEUTSCHE WEINBAU" und "DER BÖHMERWALD", und in der "Preußischen Allgemeinen Zeitung". Im Eigenverlag das Buch "Pulver im Wurzelstock", Geschichte einer masurischen Familie 1927-1947.

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    Buchvorschau

    Ostpreußen - Irmgard Irro

    INHALTSVERZEICHNIS

    Der rote Koffer

    Dreißig Tage in Masuren

    Tagebuch Masuren

    Ermländisches Tagebuch

    Am Fluss Omulef in Masuren

    Spiele der Kinder

    Einführung

    Die Märchen meiner Kindheit waren die Erzählungen meiner Mutter von ihrer Kindheit und Jugend in dem masurischen Dorf Groß Dankheim, bei Willenberg, im Kreis Ortelsburg - (Przeżdzięk Wielki, Wielbark, Szczytno) - in Polen.

    Ihre Erinnerungen an diese Zeit in Masuren hatten prägenden Einfluss auf mich, so dass der Wunsch in mir wuchs, ihre ostpreußische Heimat kennenzulernen.

    Im Januar 2009 machte ich mich auf den Weg.

    DER ROTE KOFFER

    September 2008

    Meine Mutter wollte ihre Heimat nie mehr wieder sehen. Sie würde es nicht überleben, sagte sie. So starb sie dann auch, ohne jemals wieder auf dem sandigen Platz vor dem Anwesen ihrer Eltern gestanden zu sein. Doch trug sie ihre Heimat im Herzen, trug jeden Tag daran, erzählte uns Kindern jeden Tag davon. Wir wurden angesteckt von ihrer großen Liebe zu dem sehr einsam in einem großen Wald gelegenen Dorf namens Groß Dankheim, bei Willenberg, in Masuren, im früheren Ostpreußen, dem heutigen Polen. Der Krieg hatte ihr und zweieinhalb Millionen Ostpreußen die Heimat geraubt. Dieser grausame Krieg! Die Wunden sind noch immer nicht ganz verheilt. Manchmal bringt der scharfe Ostwind einen Hauch des vergangenen Leides in die Herzen der noch lebenden Vertriebenen und deren Nachkommen, welche auf der ganzen Welt verstreut sind.

    Vor vier Jahren war ich schon einmal mit meinem älteren Bruder in Groß Dankheim, jetzt Przeżdzięk Wielki. Gerhard wurde dort geboren. Das ehemalige Grundstück zu betreten, den Stall für die Tiere zu sehen, den Brunnen, den Erdkeller, sich das einst kleine masurische Haus auf einer bestimmten Grasfläche vorzustellen, aus rotem Backstein gebaut, mit Strohdach, es war nicht leicht. Ich weinte, und ich weine auch jetzt, während ich dies schreibe. Alles war mir so unendlich vertraut, obwohl ich dort nie gelebt habe; wohl, weil ich unsere Mutter so sehr liebte. Das Bild des Dorfes im Winter, in dem ich meine Mutter als Kind mit anderen Buben und Mädchen, alle in Holzpantinen, immer wieder einen Schneebuckel gegenüber der Schule hinunterrutschen sehe, will nicht von meinem inneren Auge weichen. Ich sehe sie im Sommer auf dem fein mit dem Rechen gezogenen Sandstreifen vor dem Gartenzaun mit ihren Freundinnen Kästchen hüpfen, sehe sie Gänse hüten und dabei heimlich Liebesromane lesen oder Mundharmonika spielen, sehe sie vor dem plötzlich mit Urgewalt hereinbrechenden Gewitter in panischer Angst Kühe von der Weide heimholen. Mutters Welt und ihre Sehnsucht nach diesem verlorenen Land übertrugen sich auf mich und wurden schließlich auch zu meiner Sehnsucht.

    Da kommt es mir eines Tages in den Sinn, wie schön es doch wäre, könnte ich ein Jahr in dem Dorf meiner Mutter verbringen. Ich würde die Jahreszeiten erleben, würde die Natur beobachten, würde wie in einem Traum eintauchen in das Leben meiner Ahnen, um endlich meine Sehnsucht zu stillen. Es lässt mir keine Ruhe, und ich beginne zu überlegen, wie sich mein Wunschdenken in die Tat umsetzen ließe.

    Ich erinnere mich, dass vor ungefähr dreizehn Jahren in den deutschen Medien eine Sendung über die ,Deutsche Minderheit‘ in Ostpreußen gesendet wurde. Ein Herr Walter Angrik aus Olsztyn, früher Allenstein/Ermland, rief in den 90er Jahren, nachdem die Solidarnoś-Bewegung das sozialistische System aufzuweichen begann, den ,Allensteiner Verband der Deutschen Minderheit‘ ins Leben. In seinem Haus richtete er mit seiner Frau Rosemarie ein Büro ein, in dem sich immer mehr Verbliebene einfanden, um anstehende Probleme mit der polnischen Verwaltung vorzutragen. Für die erste öffentliche Versammlung in Olsztyn wurde ein Saal gemietet und es kamen zur großen Überraschung schon mindestens zweihundert Ostpreußen, welche aus den unterschiedlichsten Gründen die Heimat nicht verlassen hatten bzw. sie nicht verlassen konnten.¹

    Während ich darüber nachdenke, beginnt eine innere Stimme mich zu überreden, dieses Wunschdenken in die Tat umzusetzen. Ich rufe in der Telefonauskunft für das Ausland an und erhalte tatsächlich auf den Namen Rosemarie Angrik eine Telefonnummer. Ich wähle sie, und da meldet sich auch schon eine weibliche Stimme mit „Słucham. Etwas irritiert sage ich „Dzień dobry, aus Niemcy. Ich lerne seit einem Jahr polnisch, was aber bei dieser schwierigen Sprache gar nichts ist. „Sprechen Sie deutsch!, sagt die Stimme weiter, mit dem herrlich gerollten „R und der harten Aussprache, und „sagen Sie mir, was Sie wollen! So direkt und unverblümt angesprochen, bin ich für einen Moment leicht verunsichert. Ich erkläre in kurzen Sätzen. Da bekommt Frau Rosemarie aber schon Interesse an meinem Anliegen und spricht plötzlich sehr eindringlich zu mir: „Also entschließen Sie sich schnell, dass Sie kommen, noch haben wir schönes Herbstwetter. Sie können auch die erste Nacht, bis wir was gefunden haben, bei mir bleiben. Ich lege den Hörer auf die Gabel, und ab diesem Zeitpunkt lassen mir meine Gedanken keine Ruhe. Soll ich oder soll ich nicht? Zwei Tage quäle ich mich damit: Soll ich oder soll ich nicht? Endlich mache ich der Qual ein Ende und entschließe mich: Ich soll!

    Ich bestelle die Busfahrkarte, rufe Frau Rosemarie an, welche mich vor Begeisterung gleich für sämtliche Nächte in ihr Haus einlädt, außerdem sich mir als geübte Reiseleiterin anbietet. „Wie erkenne ich Sie denn? fragt sie noch schnell, bevor wir unser Telefonat beenden. „Ich habe einen roten Koffer, sage ich; und schon bin ich unterwegs; zuerst in Gedanken, dann aber wirklich. Wer hätte das gedacht! Ich selbst nicht!

    In München steige ich am 11. September 2008 abends in den Bus nach Polen. Ich fahre die ganze Nacht und den ganzen Tag. Hat man sich erst einmal darauf eingestellt und begriffen, dass die großen Fahrzeuge auf den sehr schmalen Straßen, oft Alleen, sich im letzten Moment noch geschickt ausweichen werden, nachdem sie aufeinander zurasen, als wären ihre Fahrzeuglenker von Furien gejagt, dann kann man eigentlich - zweiundzwanzig Stunden lang, inclusive kurzer Pausen - die Fahrt genießen. Die polnischen Landsleute sind sehr angenehme Reisegefährten, teilen sie doch großherzig ihre Brotzeiten, wenn sie selbst zu essen beginnen. Die Tagesfahrt genieße ich mit offenem Herzen und großen Augen. Wie unberührt und ursprünglich diese Landschaft doch ist! Und gar nicht fremd. Die Häuser, die Dörfer, sie versetzen einen in die deutsche Zeit vor dem Krieg, als in diesem herrlichen Bauernland die Welt noch in Ordnung war. Die Fahrt über die beeindruckende, stählerne Brücke in Bogenkonstruktion über die Weichsel vor der Stadt Toruń, früher Thorn, ist schon für sich ein Erlebnis. Wir kommen nach Nowe Miasto Lubawskie (früher Neumark). Ich sehe einen Wegweiser nach Nidzica (früher Neidenburg). Ich drehe mich etwas in die wegweisende Richtung, lasse meinen sehnsüchtigen Blick über die entfernt liegende dunkle Waldgrenze schweifen. Ja, Neidenburg, diese Stadt hat meine Mutter oft erwähnt. Von Ostrόda (früher Osterode) bis Olsztyn ist die Landschaft ganz besonders schön. Ockerfarbene Felder liegen als Scholle da, wie Meereswogen. Kleine Seen vermitteln eine Ahnung von den ,tausend kristallenen Seen‘ in Masuren.

    Schließlich kommen wir aus dem Wald heraus und der Blick senkt sich auf Allenstein, den Türmen des Rathauses, der St-Jacobi-Kathedrale und der evangelischen Kirche, aber auch den hohen sozialistischen Plattenbauten an der Peripherie. In der Stadt kommen wir langsam voran, die Straßen können die Vielzahl der Autos nicht mehr aufnehmen. Gegen halb fünf Uhr fährt der Bus in das Bahnhofsgelände ein. Ich steige aus, stehe mit meinem roten Koffer auf der Busplattform Nr. 4 alleine da. Gut, wir hatten ja vereinbart, ich würde auf Abholung warten. Ich sehe in die Runde und stelle fest, dass alle Blicke der wartenden Menschen auf dem gegenüberliegenden Bahnhofsgelände auf mich gerichtet sind. Wir betrachten uns gegenseitig, was mir ein kleines Lächeln entlockt. Da höre ich auch schon ein „Hallo, da ist ja die Frau mit dem roten Koffer!". Ja, es ist Frau Rosemarie. Wir begrüßen uns herzlich, sind uns sofort sympathisch, spüren sogleich eine gegenseitige Zuneigung. Etwas später in ihrem Haus fühle ich mich sehr wohl, genieße die Blumen aus dem Garten, die Zeugnis geben für diesen herrlichen Flecken Erde.

    Frau Rosemarie hat schon Pläne gemacht. Ein älterer Herr, auch gebürtiger Allensteiner, stellt sich und sein Fahrzeug großzügig zur Verfügung. So fahren wir am nächsten Tag ungefähr achtzig Kilometer Richtung Süden in das Dorf meiner Mutter, das jetzt Przężdzięk Wielki heißt. Mit klopfendem Herzen betrete ich das Haus der polnischen Familie, die jetzt im Besitz des Grundstückes meiner Großeltern sind. Es ist nur die Tochter anwesend. Frau Rosemarie übersetzt mein Anliegen in die polnische Sprache. Nach einem kurzen Gespräch erfahre ich, ich könne gerne kommen. Als wir uns verabschieden, ist mir sehr zwiespältig zumute.

    Noch ist in mir das Gefühl, was kostet die Welt! Ich kann alles, wenn ich nur will. Zweieinhalb Jahre hatte ich in meinem Wohnort in Oberbayern in einer pharmazeutischen Firma gearbeitet. Ich hatte mir die Arbeit in Schicht in der Maschinenhalle selbst verordnet, um über den Tod meiner über alles geliebten Mutter (+2001) hinwegzukommen. Je schwerer ich als Maschinenhelfer (,Knecht‘ des Maschinenführers) schuftete, umso leichter wurde es mir ums Herz. Nach zweieinhalb Jahren war aus meinem großen Schmerz ein kleiner geworden, mit dem ich leben konnte.

    Ich bleibe noch ein paar Tage in Allenstein. Frau Rosemarie zeigt mir unter vielen anderen Sehenswürdigkeiten die Städte Frombork (früher Frauenburg) am Frischen Haff, Kadyny (früher Cadinen), Elbląg (früher Elbing), Morąg (früher Mohrungen), das Denkmal Grunwald (früher Grünwald)², dann den Platz auf dem einmal das Tannenberg-Denkmal stand und natürlich in Allenstein das Schloss und das Hohe Tor. Sie ist eine sehr gute Reiseführerin, kennt sich in der Geschichte des Landes sehr gut aus. Kein Wunder, dass ihr Sohn Mariusz, der ihr Herzblut für die Heimat geerbt hat, von Beruf Reiseführer ist und die deutschen Reisebusse tagelang mit äußerster Fürsorge betreut.

    Die Tage vergehen, jetzt kann ich nicht bleiben, muss wieder zurück. Ich fahre mit dem polnischen Bus einen ganzen Tag und eine ganze Nacht Richtung Deutschland. Es reisen überwiegend polnische Frauen, welche hier in der Altenpflege tätig sind. Polnische Männer sind in der Minderzahl. Alle sitzen sie versunken und schweigend in ihren Sitzen. Der Abschied von ihren Familien ist sicher nicht leicht für sie. Die Stunden vergehen schnell, denn in Gedanken durchlebe ich nochmals all das Schöne, was ich gesehen hatte, die Heimat meiner Mutter. Den roten Koffer habe ich nicht weggeräumt, denn ich hoffe, bald wieder dorthin zu fahren.


    ¹ Z.B. wollten viele Menschen ihre alten Eltern nicht alleine zurücklassen.

    ² Schlacht bei Tannenberg 1410. Der Anfang vom Ende des Deutschordensstaates.

    DREIßIG TAGE IN MASUREN

    Januar/Februar 2009

    Ich kannte das Dorf meiner Mutter von ihren Erzählungen. Ich kannte das Dorf von zwei Kurzbesuchen. Als ich im Januar 2009 in das Dorf einfuhr, um dort dreißig Tage und dreißig Nächte zu verbringen, war ich erfüllt von dem Wunsch, dem Leben meiner Mutter und meiner Großeltern nachzuspüren und dieses nachzuempfinden. Bei meiner Abreise aus Deutschland klangen noch die Sätze der Menschen in meinen Ohren nach, die einmal diese Gegend ihre Heimat nannten und noch immer nennen: „Sie haben aber Mut! Einer von ihnen schmunzelte, ja amüsierte sich fast über mein Vorhaben. Damals dachte ich noch: „Was sie nur alle haben? Ich war einfach nur neugierig auf das, was auf mich zukommen und was ich im Laufe der Tage und Wochen empfinden würde. Ich hatte keine Vorstellung, wie es sein würde, in einer polnischen Familie als zahlender Gast zu leben. Meiner gewiss, in mir selbst zu ruhen und das Erlebte literarisch zu verarbeiten, ließen mich die Sache einfach angehen. Vier Wochen, wie in Klausur, warteten auf mich in dem früheren Nachbarhaus auf dem Grund und Boden meiner Großeltern. Und sehr schnell hatte ich auch begriffen, was diese Menschen meinten, von denen ich gedacht hatte: „Was sie nur alle haben?"

    Es war ein klarer und sonniger Wintertag, als ich mich auf den Weg nach Przeżdzięnk Wielki/Groß Dankheim machte. Familie Angrik, bei der ich zuvor zwei Tage in Olsztyn/Allenstein verbracht hatte, erklärte sich bereit, mich mit dem Auto dorthin zu fahren. Hinter Szczytno/Ortelsburg änderten sich die Straßenverhältnisse. Die Schneeglätte zwang Mariusz mit dem Auto mehr zu schwimmen als zu fahren. Doch der Blick auf die hohen, weiß überzuckerten Kiefernbäume und die hellen schlanken Birken ließ mich die sehr konzentrierte und bedachte Fahrweise als angenehm empfinden. Diese herrlichen Wälder! Und diese Stille! Linkerhand unerwartet ein von Bäumen ausgesparter Parkplatz. Geht es hier zum Denkmal des russischen Generals Samsonow?³ Wie oft hatte meine Mutter von ihm gesprochen. Rechterhand ein paar einsam dastehende, kleine Häuser. Aus den Kaminen steigt Rauch auf. Wir hatten nicht mehr weit.

    Von meinen Gastgebern wurden wir schon erwartet und auch sogleich reichlich bewirtet. Dann verabschiedeten sich meine lieben Helfer. Mein

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