Hexenjagd: Gaslicht 60
Von Tina Lyr
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»Was geht hier vor?«, fragte Samantha scharf. »Bitte, Mutter Hubbard, ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren.« Die Greisin wand sich vor Verlegenheit. Sie musste jedes Wort einzeln abringen. »Es … geht um …, um die Hexe«, stieß sie mit erstickter Stimme hervor. »Um die Hexe?« Das klang nach einer faustdicken Lüge! »Ja, um Tabitha Shelby«, bestätigte Mutter Hubbard. Was es mit Tabitha Shelby auf sich hatte, sollte Samantha nicht mehr erfahren. Pechvogel Tony hatte soeben zu seinem neuesten Schlag ausgeholt. Im dichtbesiedelten Osten der Vereinigten Staaten gibt es abgelegene kleine Orte, die ihren traditionellen puritanischen Charakter bis heute bewahrt haben. Eine solche Gemeinde ist Heaven's Glory im Bundesstaat Connecticut. Moderne Geistesströmungen finden hier keinen Widerhall. Die Menschen halten sich an die Regeln, die ihre Vorväter vor rund dreieinhalb Jahrhunderten aufgestellt haben. Oberstes Gesetz sind die Zehn Gebote, höchste Instanz ist die Bibel. Über Tugend und Sittsamkeit wacht Tobias Amsdale, der Pfarrer, dessen Einfluss bis in die Ehebetten reicht. Eine ganze Schar von Zuträgern ist ihm zu Diensten.
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Hexenjagd - Tina Lyr
Gaslicht
– 60 –
Hexenjagd
Unveröffentlichter Roman
Tina Lyr
»Was geht hier vor?«, fragte Samantha scharf. »Bitte, Mutter Hubbard, ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren.« Die Greisin wand sich vor Verlegenheit. Sie musste jedes Wort einzeln abringen. »Es … geht um …, um die Hexe«, stieß sie mit erstickter Stimme hervor. »Um die Hexe?« Das klang nach einer faustdicken Lüge! »Ja, um Tabitha Shelby«, bestätigte Mutter Hubbard. Was es mit Tabitha Shelby auf sich hatte, sollte Samantha nicht mehr erfahren. Pechvogel Tony hatte soeben zu seinem neuesten Schlag ausgeholt. Mit einem ohrenbetäubenden Knall flog der Schuppen in die Luft …
Im dichtbesiedelten Osten der Vereinigten Staaten gibt es abgelegene kleine Orte, die ihren traditionellen puritanischen Charakter bis heute bewahrt haben. Eine solche Gemeinde ist Heaven’s Glory im Bundesstaat Connecticut. Moderne Geistesströmungen finden hier keinen Widerhall. Die Menschen halten sich an die Regeln, die ihre Vorväter vor rund dreieinhalb Jahrhunderten aufgestellt haben.
Oberstes Gesetz sind die Zehn Gebote, höchste Instanz ist die Bibel. Über Tugend und Sittsamkeit wacht Tobias Amsdale, der Pfarrer, dessen Einfluss bis in die Ehebetten reicht. Eine ganze Schar von Zuträgern ist ihm zu Diensten. Wer strauchelt – und sich dabei ertappen lässt, wird am Sonntag von der Kanzel herab zurechtgewiesen. Das ist demütigend, beschämend. Es hat sich also wenig geändert seit den Zeiten, da ein Missetäter auf dem Pranger zur Schau gestellt und vom Volk begafft wurde. Barmherzigkeit sei ein Privileg Gottes und Züchtigung die Aufgabe seines Dieners, meinte Reverend Amsdale. Die Bigotterie treibt Blüten.
Auch äußerlich widerspiegelt das Ortsbild etwas vom Geist des frühen siebzehnten Jahrhunderts. Wie in vielen neuenglischen Gemeinden scharen sich die ältesten, noch aus der Siedlungszeit stammenden Häuser um den ehemaligen Dorfanger. Eines davon ist das alte Magistratsgebäude, heute Amtssitz von Bürgermeister Forbes. Davor steht, noch gut erhalten, der Pranger. Aus der gleichen Epoche stammen die Apotheke, die einstmals ein Barbierladen war; die Grundschule, das Gerichtsgebäude, die Polizeiwache, die Häuser der Marshalls, Fotheringhams, Hubbards und anderer, die zu den ersten Siedlerfamilien zählen.
Eine imposante Kirche im neogotischen Stil ist das größte und wichtigste Gebäude im Ort. Wie schon der Name Heaven’s Glory (Himmelsruhm) besagt, waren die Gründerväter gottesfürchtige Leute, die ihr Dorf in den Dienst des HERRN stellten. Auch ihre Nachfahren sind – von einigen Ausnahmen abgesehen – fleißige Kirchgänger. Trotzdem nimmt ihre Zahl ab. Viele junge Leute sind nicht mehr gewillt, sich in eine starre überholte Ordnung zu fügen, sie brechen aus und suchen ihr Glück woanders. Zuzüge sind selten, sie sind auch nicht erwünscht. Fremde gelten als Unruhestifter und werden weitgehend gemieden. Senta Marshall, die Mutter des Arztes, könnte ein Lied davon singen. Obwohl sie seit vierzig Jahren in Heaven’s Glory ansässig ist und überall mitmischt, haben die Alteingesessenen nicht vergessen, dass sie aus New York stammt und eigentlich nicht dazugehört.
Andersdenkende haben es in Heaven’s Glory sehr schwer. Unangepasste werden als Ketzer gebrandmarkt. Intellektuelle Freiheit passt nicht in eine Einheitsschablone. Die geistige Entwicklung der Jugend wird nach Kräften unterdrückt. Die Zwänge beginnen schon im Kindergarten.
In einer solchen Atmosphäre gedeiht ein besonderer Menschenschlag: er ist streng, freudlos, gefühlsarm, intolerant und selbstgefällig. Heuchelei ist den Leuten von Heaven’s Glory zur zweiten Natur geworden. Ihr rechtschaffenes Gebaren überdeckt eine gute Portion Grausamkeit, und hinter den sorgsam verputzten Fassaden der altehrwürdigen Häuser tut sich erstaunlich viel Hässliches.
Da ist Reverend Amsdale, ein engherziger religiöser Eiferer, der seine Pfarrkinder zu Spitzeldiensten anhält und den Abtrünnigen mit ewiger Verdammnis droht. Er predigt den rächenden Gott des Alten Testaments und kennt weder Liebe noch Vergebung.
Da ist Martha Haysmith, die Besitzerin des Supermarktes. Sie ist die ehrgeizigste Informantin des Pfarrers. Ihre bösartige Zunge hat schon viel Unheil und Verzweiflung angerichtet.
Da ist Bürgermeister Forbes, der sich immer auf die Seite derer schlägt, die besonders laut beten. Das Recht bleibt dabei oft auf der Strecke.
Da ist Giles Fotheringham, der tyrannische Patriarch seiner Sippe. Er gilt als achtbarer Mann, doch charakterlich ist er eine wahre Pest. Am liebsten umgibt er sich mit Duckmäusern. Wer nicht kuscht, wird kurzerhand verstoßen. Seiner Tochter ist es so ergangen.
Die Geschichte von Heaven’s Glory ist reich an geduldetem Unrecht, an ungesühnter Schuld. Lauterkeit ist eben ein Begriff, der sich wie Kaugummi dehnen lässt. Nur Verstöße gegen die Keuschheit werden als Sünde geahndet.
Das ist vor einhundert Jahren nicht anders gewesen.
Damals sind jene, die das Unglück auf Captain’s Fancy verursacht haben, straflos ausgegangen. Sie hatten den Pfarrer auf ihrer Seite. Noch heute gilt die Tragödie als »Gottesurteil«, der Überfall auf wehrlose Frauen und Kinder als »ein Gott wohlgefälliges Werk«. Der Acker des HERRN, heißt es, wurde von Disteln gesäubert.
Frömmigkeit hat manchmal ihren eigenen Zynismus.
Die Leute von Heaven’s Glory haben nichts dazugelernt. Sie sind stolz auf die Bluttat ihrer Vorfahren.
Für sie ist Captain’s Fancy ein unheiliger Ort, ein Schandfleck, der für immer von der Erde getilgt werden müsste.
Es gibt einige, die gegen den Strom schwimmen. Leute wie Dr. Marshall und seine Mutter. Sie stehen auf der Seite der Schwachen, der ewig Unterlegenen, der Opfer. Dieser Standpunkt war seit jeher unpopulär.
*
An einem Hügel östlich des Ortes, weit von den übrigen Häusern abgesetzt, erhebt sich Captain’s Fancy, ein romantisches rotes Backsteingebäude aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Der Volksmund nennt es »das Hexenauge«, nach einem mit farbigem Glas eingelegten Rundfenster, das wie ein großes schillerndes Auge über dem mit Efeu umwucherten Frontportal sitzt. Das kostbare Fenster war das Hochzeitsgeschenk von Kapitän Nathaniel Shelby, dem Erbauer des Hauses, an seine haitische Frau Tabitha. Bei einer gewissen Sonneneinstrahlung beginnt das Fenster zu glühen; seine kunstvolle Ornamentierung bricht sich auf dem gepflasterten Rondell vor dem Haus. Die idyllische Szenerie vermittelt den Eindruck von Ruhe, Wohlstand und Geborgenheit.
Das Bild täuscht.
Captain’s Fancy hat keinem seiner Herren Glück gebracht. Wer immer hier lebte, lernte Hass, Verzweiflung und Bitterkeit kennen. Das liegt nicht an dem Haus, sondern an der Gemeinde, zu der es gehört.
Schon für seine erste Herrin, Tabitha Shelby, war Captain’s Fancy kein behagliches Heim, das ihr das Gefühl von Sicherheit und Wärme gab. Vielmehr war es für sie ein unentrinnbares Ghetto, aus dem sie sich nicht herauswagen durfte. Sie war »anders« als ihre Nachbarn, das genügte für Hetzreden und Verteufelung. Eines Nachts zog eine Meute von Frömmlern los, um das Böse mit Stumpf und Stiel auszurotten. Das Ergebnis war grauenvoll. Tabitha Shelby, ihre beiden jüngeren Kinder und einige haitische Mägde verloren dabei das Leben.
Tabithas Erben kamen wieder und hielten die Stellung – trotzig, herausfordernd, verbittert. Zwei Generationen harrten in Captain’s Fancy aus, immer bemüht, in den Einheimischen so etwas wie Gewissensbisse zu wecken. Ein erfolgloses Unterfangen. Die Shelbys hätten ebenso gut an die Einsicht von Sonne und Mond appellieren können.
Seit etwa einem halben Jahr steht Captain’s Fancy leer. Ned Shelby, Tabithas Urenkel, hat die Gegend verlassen und das Anwesen zum Verkauf ausgeschrieben. Natürlich ist die Annonce nicht im Lokalanzeiger erschienen, denn kein Einheimischer wäre bereit, seinen Fuß ins »Hexenauge« zu setzen. Über das Haus sind wilde Geschichten im Umlauf.
Es soll dort nicht mit rechten Dingen zugehen. Tabitha Shelby sei zurückgekehrt, um ihr ruchloses Treiben fortzusetzen, heißt es. Auch der Tod habe ihre teuflische Macht nicht gebrochen.
Kein Wunder also, wenn die Einheimischen um den Hügel einen großen Bogen schlagen.
Neuerdings unterstützt selbst Mutter Hubbard, die uralte Hebamme des Ortes, das Gerede über den Spuk. Die Greisin gilt als glaubwürdige Zeugin. Sie ist eine der wenigen, die das Haus von innen kennt. Außerdem kümmert sie sich um die Pflanzen, die auf der Veranda von Captain’s Fancy wachsen.
Reverend Amsdale hat das Anwesen zwar nie betreten, doch er hält die Gerüchte für