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Bagage Solitaire: Im Herzen des Tempels
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Bagage Solitaire: Im Herzen des Tempels
eBook244 Seiten3 Stunden

Bagage Solitaire: Im Herzen des Tempels

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Über dieses E-Book

Freundschaft,1866. Paris. Ein Waisenhaus.

Sans Abri - Ort der Tristesse, Endstation Ausweglosigkeit. Hier hat sich die »Bagage«, eine Gruppe verarmter und vergessener Kinder, ihre eigenen Gesetze geschaffen. Es herrschen anarchische Zustände. Hoffnung auf ein besseres Leben gibt es kaum. Nur einem einzigen Kind wird jährlich die Aussicht auf eine scheinbar sorgenfreie Zukunft geboten. Als Ben, der Anführer der fünf Freunde, unverhofft dafür ausgewählt wird, werden die Kinder misstrauisch. Als ein weiteres Bagagemitglied verschwindet, gibt es keinen Zweifel mehr. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt. Die Suche nach den verschwundenen Freunden entpuppt sich als eine Reise in die Vergangenheit des Waisenhauses, in die Unterwelt des sagenumwobenen Platzes. Als eine Reise, die den Kindern alles abverlangt und ihren Zusammenhalt auf eine harte Probe stellt. Tief in den Eingeweiden der Stadt entdecken sie einen uralten Tempel, das einstige religiöse und politische Zentrum des Templerordens, und stoßen auf das dunkle Geheimnis dieser heiligen Stätte …

»Bagage Solitaire« erzählt von tiefer Freundschaft, grenzenlosem Mut und blindem Vertrauen. Herbert Treutinger verlebendigt in Dickens'scher Manier realistisch und beklemmend das Armenmilieu im Paris des 19. Jahrhunderts. Verwoben mit Sagen und Legenden um die Ritter des Tatzenkreuzes schafft er eine mystische, zuweilen gespenstische Atmosphäre. Treutingers sensibler und psychologisch glaubwürdiger Schilderung der Figuren, seiner farbigen Sprache und seinem Gespür für Situationskomik verdankt sich ein Lesevergnügen auf höchstem Niveau.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum2. Sept. 2014
ISBN9783945408070
Bagage Solitaire: Im Herzen des Tempels

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    Buchvorschau

    Bagage Solitaire - Herbert Treutinger

    Herbert Treutinger

    Bagage Solitaire

    Im Herzen des Tempels

    Verlag Neue Literatur 2013

    Impressum

    Bibliografische Information der Deutschen National­bibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts ohne Zustimmung des Verlages ist unzulässig.

    © by Verlag Neue Literatur

    www.verlag-neue-literatur.com

    Illustrationen: Lea Schlau

    Cover: fotolia

    Gesamtherstellung: Satzart Plauen

    Printed in Germany

    ISBN 978-3-945408-07-0

    Inhaltsverzeichnis

    Paris, 15. Oktober 1866

    Die Bagage

    Das große Fest

    Beratungen

    Stimmen im Dunkeln

    Morgentee

    Eine Pforte im Untergrund

    Gefangen

    Zeichen an der Wand

    Im Herzen des Tempels

    Getrennt

    Einsame Vorwürfe

    Ein Lied in der Einsamkeit

    Die Stunde der Vergeltung

    Tod im Kanal

    Nachtrag

    Hintergrund

    Dankbarkeit ist das

    Gedächtnis des Herzens.

    (Jean Baptiste Massillon)

    Gabi, Sarah und Tim

    für euren Rat, Kritik und die guten Einfälle.

    Lea Schlau

    für das Ausschmücken sonst leerer Seiten.

    Anke Sommerfeld

    für die professionelle Betreuung.

    Paris, 15. Oktober 1866

    »Nun trödelt nicht so rum! Wenn ihr in dem Tempo weitermacht, ist das Frühstück gegessen, bevor ihr die Tische gedeckt habt.«

    Rosa, die Küchenchefin von Sans Abri, war ungehalten. Ihrer Ansicht nach brauchten die Kinder wieder einmal viel zu lange. Doch Rosa wetterte jeden Tag, hatte immer Sorgen und viel zu viel zu tun.

    »Die Arbeit bringt mich noch um. Und wenn nicht die Arbeit, dann diese Bälger.«

    Diesen Satz konnten die Kinder im Waisenhaus »Sans Abri« auswendig aufsagen. Denn er gehörte zu Rosa wie ihre blauweiße Schürze, die sie so fest um ihre beleibte Taille geschnürt hatte, dass man sich wundern musste, welche Belastung so ein Stoffband aushalten konnte. Sie sagte ihn mehrmals am Tag. Dabei war Rosa im Grunde ihres Herzens eine gütige Frau. Sie war die Seele des Hauses, auch wenn diese in einer verdammt rauen Schale steckte. Ja, sie war streng und niemand sollte es ausprobieren, den Küchendienst zu vernachlässigen oder gar zu versäumen. Sehr schnell machte man dann Bekanntschaft mit Rosas Leibesfülle und ihrer unüberhörbaren Stimme. Wenn sie sich mit ihren 120 Kilogramm vor einem aufbaute und dir zu verstehen gab, wie es in einer Waisen­hausküche abzulaufen hatte, rutschte einem das Herz schnell in die Hosentasche. Rosa war gerade heraus und hatte die sprichwörtlichen Haare auf den Zähnen, die bei ihr allerdings als deutlicher Damenbart gewachsen waren. Aber die Kinder liebten sie. Besonders wenn es Tränen gab. Dann wurde Rosas großes Herz so weich wie eine vergessene Butter in der Morgensonne und ihre Küche ein Platz der Geborgenheit. Da konnte noch so viel Arbeit­ vor ihr liegen, das interessierte nicht.

    »Ja, zum Donnerwetter noch mal! Was ist denn passiert? Siehst du denn nicht, dass ich zu tun habe? Die Arbeit hier bringt mich eh noch um! Und wenn nicht die Arbeit, dann solche Bälger wie du! Na, nun komm schon her und erzähl mir, was los ist. Ich krieg ja sonst doch keine Ruhe!«

    Und schon hatte sie sich auf ihr abgewetztes, abgegriffenes Sofa plumpsen lassen und den kleinen Heuler in den Arm genommen. Rosa hatte allerdings an diesem Morgen wirklich allen Grund zur Eile. Am nächsten Tag würde das alljährliche Herbstfest von Sans Abri stattfinden und es gab noch jede Menge Vorbereitungen zu erledigen.

    In diesem Jahr war die Aufregung besonders groß, denn der Präfekt der Stadt, Monsieur Haussmann, hatte sich angekündigt. Jeder war am Aufräumen, Wegräumen, Umräumen und Putzen. Dass das Stadtoberhaupt sie besuchen würde, war keine Selbstverständlichkeit, im Gegenteil. Sans Abri stand im dritten Bezirk in einer nicht gerade noblen Gegend. Der Marais, wie dieser Stadtteil im Volksmund genannt wurde, war das Armenviertel von Paris. Warum sich der Präfekt hier sehen ließ, wusste niemand, doch das war unwichtig. Es sprach sich in Windeseile im ganzen Viertel herum.

    Das Herbstfest war nicht nur für die Kinder eine willkommene Abwechslung, sondern auch ein besonderer Termin für den ganzen Marais. Die Leute aus dem Viertel ließen sich das Ereignis nicht entgehen und jeder hatte es dick in seinem Kalender angestrichen. Es war eine gute Gelegenheit, auf das Gelände des Waisenhauses zu kommen, den neuesten Tratsch zu hören und die alten Geschichten über den sagenhaften Templerschatz aufzuwärmen, der hier noch immer irgendwo versteckt sein sollte. Allein die Neugierde trieb die Leute zu diesem Fest.

    Ansonsten gab es im Jahreskreis nicht viele Attraktionen. Man war froh, dem tristen Alltag für ein paar Stunden­ entfliehen zu können. Einer geregelten Arbeit gingen die wenigsten nach. Meist war man in der Stadt unterwegs, um zu betteln, zu stehlen oder das aufzusammeln, was die Reichen irgendwo zurückgelassen hatten.

    »Ja, vor der Revolution, da war es noch anders. Was hat uns denn die Republik gebracht? Außer massenweise abgeschlagene Köpfe?«

    Rousole, der Barbier ließ keinen Zweifel aufkommen, was er davon hielt.

    »Die Guillotine ist verdammt schlecht fürs Geschäft«, schimpfte er unüberhörbar.

    Dass der Marais in der Vergangenheit schon bessere Zeiten erlebt hatte, davon zeugten die vielen Prunkbauten in dieser Gegend. Damals, im 12. Jahrhundert, gab es hier, am Nordufer der Seine, nur eine Sumpf- und Moorlandschaft. Dann machten sich die Pariser auf, sie trockenzulegen. Bald schon entdeckten die Reichen und Adligen den Marais für sich und ließen dort ihre Residenzen und Paläste bauen.

    Der Templerorden errichtete vor mehr als 500 Jahren sein religiöses und politisches Zentrum ebenfalls an jenem Ort. Als er im Jahre 1307 zerschlagen wurde, begann der langsame Niedergang des Marais. Die Revolution versetzte dem einst wohlhabenden Stadtteil den Todesstoß. Der Adel wurde vertrieben, die Häuser geplündert und man ließ den Marais verkommen und verwahrlosen. Von der großartigen Tempelanlage des Ordens blieb nur die mächtige Mauer erhalten. Sie umspannte das gesamte Areal und zog sich von der Rui de Temple im Nordwesten bis zum Conti, dem großen Marktplatz am Südende. So blieb, unbeachtet von den Irrungen und Wirrungen der Zeit, inmitten von Paris ein Flecken Vergangenheit zurück, der vor sich dahindämmerte und langsam zerfiel.

    Überall auf dem Gelände wuchsen wilde Bäume und Sträucher. Flechten und Moose machten sich auf den eingefallenen­ Wegen und Höfen breit. Zwischen den Trümmern und in den Bauruinen hausten Ungeziefer, Mäuse und Ratten. Dieser mittlerweile urwaldähnliche Park war nunmehr ein Nährboden für Legenden und Gruselgeschichten um das Treiben des Ordens in früheren Zeiten. Und unter vorgehaltener Hand erzählten die Alten über angebliche geheime Treffen und rituelle Beschwörungen, die des Nachts in unterirdischen Kammern und Räumlichkeiten stattgefunden haben sollen. Noch immer sollen dort unterhalb dieser Ruinen weitverzweigte Keller liegen, in denen die Dämonen über den Goldschatz wachten. Vielleicht war dieser hartnäckige Aberglaube auch der Grund, warum man den Square du Temple noch immer mied.

    Auch Sans Abri gehörte zu dieser großen Burganlage. Doch durch einen wundersamen Zufall blieb das Gebäude vom Zerfall verschont. Es lag am nördlichen Ende des Parks, direkt am Nordtor, dem einzigen Zugang zum Gelände. Madame Marais war dort die Heimleiterin. Solange man denken konnte, führte sie schon das Waisenhaus. Und das mit strenger Hand und eiserner Disziplin. Sie kümmerte sich auch um die Belange des Gebäudes. Und obwohl nie wirklich Gelder zur Verfügung standen, es zu sanieren, bewahrte sie das Gebäude doch vor dem Zerfall und damit vor einem ähnlichen Schicksal, wie die Ruinen in diesem wilden, struppigen Park vor ihrer Haustür.

    Schon immer war sie, Madame Marais, hier im Viertel unumstrittene Respektsperson. Wortkarg, schroff und unnahbar und geradezu zeitlos in ihrer Erscheinung. Ihr graues Haar war streng nach hinten zu einem Haarknoten gekämmt und zeigte ihr ledriges Gesicht trotz ihres Alters fast faltenlos. Ihr Blick war stechend und ihre Lippen schmal­ und blass. Madame Marais war hoch gewachsen und schlank, wirkte aber dabei keinesfalls zerbrechlich. Obwohl sie bestimmt mehrere Kleider zu ihrer­ Garderobe zählte, hatte man den Eindruck, dass sie stets gleich angezogen war. Bluse und Rock waren glatt gebügelt, ohne jede Falte und keine andere Farbe als Schwarz sah man je an ihr. Ihr tatsächliches Alter wusste niemand. Nach den Erinnerungen vieler müsste sie schon weit über neunzig sein, doch selbst die ganz Alten verstiegen sich nur in waghalsigen Vermutungen und Andeutungen, kannten letztendlich aber doch nur Gerüchte. Früher, so wollten die alten Marktweiber am »Conti« wissen, soll sie einmal anders geheißen haben. Und böse Zungen behaupteten sogar, der Stadtteil heiße deshalb Marais, weil sie hier mit ihrem Waisenhaus schon immer da war und das Viertel um sie herum erst später entstanden sei.

    Die Bagage

    Es war ein wunderschöner Herbsttag an diesem Morgen vor dem Fest und auch der nächste Tag versprach ein gutes Wetter. Die Kinder von Sans Abri waren alle voller Tatendrang und mächtig aufgeregt. Das bevorstehende Ereignis warf seine Schatten voraus. Man spürte die aufkommende Nervosität in jedem Flur des Gebäudes. Kinder kamen einem entgegen, die irgendwelche gelernten Texte aufsagten und Mädchen, die einstudierte Tanzschritte in den Gängen wiederholten. Zwei ältere Kinder fielen auf. Sie schlenderten durch das Gewusel und machten den Eindruck, als ginge sie die ganze Sache gar nichts an. Tatsächlich hatten sie am Fest keine wirkliche Aufgabe und gehörten doch zu dessen Hauptdarstellern.

    »Sieh dir nur Marie an, die stolziert hier herum wie ein Pfau, nur weil sie das Rotkäppchen spielen darf. Gut, dass sie hinter einer Wand steht und kein Wort sagen muss. Schon einen Satz auswendig zu lernen, würde ihr Erbsenhirn­ überfordern.«

    Das Mädchen, das gerade kein gutes Haar an ihrer Bettnachbarin ließ, war July. Sie war mit 15 Jahren eine der Älteren in Sans Abri und mit ihrem Freund Ben unterwegs zu einem Treffen. Mit ihrer wilden Frisur und der großen gelben Feder im Haar fiel sie besonders auf. Der Federschmuck war notwendig, um ihre lange blonde Mähne einigermaßen bändigen zu können. Ihr Gesicht war fein bemalt, ähnlich der Indianervölker Amerikas. Ihr Kleid, wenn es denn eines sein sollte, war von ihr total zerfranst worden. July wollte es so, und es wirkte keinesfalls abgenutzt oder zerschunden, sondern wild und raffiniert, weil es geschickt an den richtigen Stellen eingerissen worden war. Überall an ihr hingen verschiedenste Federn herab oder waren in das Kleid eingenäht. Große, kleine, einfarbige­ und bunte. Eine zerzauste Federboa, scheinbar als Gürtelersatz, wickelte sich um ihre schlanke Taille. July war ein hübsches Mädchen, und hätte man sie in feine Kleider gesteckt und herausgeputzt, wie die Töchter der Betuchten, wäre wohl so manch junger Bursche aufmerksam auf sie geworden.

    Ben und July gehörten einer Gruppe von Jugendlichen an, die sich die »Bagage« nannte. Ben war ihr Anführer. Er und July gaben den Ton an in dieser Bande. Zur Bagage gehörten noch Chaya, Celine und Gapp. Weil sie als Gruppe auftraten und ein freches Mundwerk hatten, wagte es niemand der Kinder, sich gegen sie aufzulehnen. Im Gegenteil, man versuchte sich mit ihnen gutzustellen und auf keinen Fall in Ungnade zu fallen, denn alle fürchteten den »Orden der Bagage« verliehen zu bekommen. Ein Kind wurde dann von ihnen bestimmt, das von nun an den Diener und Sklaven für die Bagage zu machen hatte. Dabei musste das arme Kind jeden noch so derben Spaß über sich ergehen lassen, der ihnen gerade einfiel.

    Der Alltag im Waisenhaus war eintönig und hart. Während viele Waisenhäuser von betuchten Familien oder reichen Kaufleuten unterstützt wurden, gab es solchen Luxus in Sans Abri nicht. Um über die Runden zu kommen, mussten alle mit anpacken, denn es gab kein Geld für Personal. So arbeitete im Heim neben Madame Marais nur noch Rosa, die Köchin, der Hausmeister Soussol und Charlotte, das Zimmermädchen. Wie es Madame Marais trotzdem schaffte, das Haus zu erhalten und die Arbeitslöhne zu bezahlen, blieb ihr Geheimnis.

    Sans Abri war in manch einer Beziehung anders als die meisten Waisenhäuser dieser Zeit, denn Schulunterricht gab es keinen. Es bestand einfach kein Interesse, den Kindern etwas beizubringen. Vielleicht war es aber auch dem mangelnden Geld geschuldet, das kein Lehrer hier arbeitete. Wie dem auch sei, Sans Abri war nichts anderes als eine Verwahranstalt für Waisen, die niemand haben wollte. Ausnahmslos kamen allesamt aus ärmsten Verhältnissen und wurden nur hierher verbracht, damit sie nicht in den Straßen herumlungerten. In Sans Abri angekommen, wurde ein Neuankömmling meist zum Putzdienst eingeteilt oder musste im Waschkeller mithelfen. Hatte man es einmal bis zur Küche geschafft, war man schon lange in Sans Abri. Denn der Küchendienst gehörte zu den begehrtesten Aufgaben. Hunger, ein durchaus bekanntes Gefühl bei den Kindern, gab es hier nicht. Immer fiel etwas ab oder man klaute schon beim Zubereiten der Speisen. Rosa wusste davon, doch ließ sie die Kinder gewähren und sah großzügig darüber hinweg. Ansonsten herrschte das Gesetz des Stärkeren. Die Kleinsten und Schwächsten machten die schlimmsten Arbeiten. Mit zunehmendem Alter konnte man sich mehr Freiheiten erlauben, einfach wegen der Tatsache, stärker zu sein. So sehnte jeder der Kleinen den Tag herbei, an dem er zu den Älteren gehören würde und seinerseits die Jüngeren­ in die Mangel nehmen konnte. Der Kreis schloss sich. Trotz allem waren die Kinder froh, in Sans Abri zu sein.

    Hier hatten sie ein Bett, bekamen eine regelmäßige Mahlzeit und waren beschützt. In der Gosse zu betteln, unter einem Verschlag im Freien zu übernachten oder in einer Fabrik bis zur Erschöpfung zu malochen, war das Leben, das außerhalb der Mauern auf die Kinder wartete. Jeder, der hier in Sans Abri war, wusste das oder hatte es bereits erlebt. Das war auch der Grund, warum keines der Kinder floh, obwohl es sehr einfach gewesen wäre. Hatten die Kinder ihre Pflichten erledigt, waren sie nämlich auf sich allein gestellt und konnten tun und lassen, was sie wollten. Es gab nur wenige Regeln, die aber dafür absolut einzuhalten waren. Wer einmal tagelang ohne Essen im »Loch« saß oder von Soussol mit seinem Riemen behandelt wurde, befolgte gern die Gesetze des Hauses. War man aber weiterhin nicht bereit, sich daran zu halten, wurde man vor die Tür gesetzt. Doch niemand der Kinder konnte sich je an einen solchen Rauswurf erinnern. Das Gelände zu verlassen, war ebenso verboten, wie bestimmte Bereiche im Haus zu betreten. Abends mussten alle in den Betten liegen und es wurde abgezählt. Ansonsten kümmerte man sich nicht um die Kinder. Wie sie ihr Zusammenleben regelten, war ihre Sache. Sie machten sich ihre eigenen Gesetze und Regeln.

    July und Ben hatten es jetzt eilig. Sie wollten nicht zu spät kommen. Die beiden waren auf dem Weg in ihr Hauptquartier, einem Baumhaus im Park, dass sie sich dort auf einem uralten Baumstumpf gebaut hatten. Es war ihr Treffpunkt, ihr Stück Zuhause. Hier heckten sie ihre Unternehmungen aus und entwarfen Pläne für neue Streiche, mit denen sie die kleineren Kinder im Waisenhaus beglücken wollten. Ein gewaltiger Sturm musste den Baum vor langer Zeit geknickt und gegen die dahinter liegende Wand gedrückt haben. Doch er ging daran nicht zugrunde, sondern überstand die Zeit. Halb umgerissen, an einen Mauerrest gelehnt und um seine Krone beraubt, trieb der Baum an verschiedenen Stellen wieder aus. So entstand über Jahrzehnte hinweg ein eigentümlicher, trichterförmiger Wuchs mit weit ausladenden Ästen. Irgendwann hatten sie ihn entdeckt und Ben begann daraufhin, aus alten Brettern einen Ausguck zu bauen. Dies war die Geburtsstunde der Bagage.

    Von nun an wurde gewerkelt und gehämmert. An Baumaterialien gab es am Square du Temple jede Menge. Ob verwitterte Bohlen oder alte Türblätter, von Mäusen zerfressene Vorhänge oder Bodendielen. Es gab für alles eine Verwendung und in den alten Ruinen fanden sie genug davon. So wuchs das Hauptquartier der Bagage im Laufe der Jahre immer weiter. Ständig wurde aus- und umgebaut. Es entstand ein kunterbuntes Durcheinander von Ebenen, Plattformen­ und Sitzgelegenheiten und jedes Mitglied der Bagage richtete sich dort oben seinen Lieblingsplatz ein. Hier bewahrten sie die wenigen Habseligkeiten auf, die sie besaßen. Ihr Anführer Ben thronte auf der größten Plattform. Fast 15 Fuß über dem Boden hatten sie eine alte Tür, die vor ewigen Zeiten einmal einen großen Saal verschlossen haben musste, bis zur obersten Astgabel geschleppt und zwischen drei Ästen verankert. Das Türblatt war so groß, dass eine Hälfte davon sogar Platz für eine kleine Hütte bot. Ben verwendete dafür alte Bodendielen, die er aus einem zerfallenen Haus in der Nähe geholt hatte. Statt eines Eingangs ließ er eine Seite seines Häuschens ganz offen und überdachte den übrigen Teil seiner Plattform mit einem alten, schweren Vorhangstoff, den er an Seilen in den Ästen befestigte. So entstand eine überdachte Veranda, die ihn vor Sonne und Regen schützte. Und natürlich war damit schon von Weitem sichtbar, dass hier der Anführer der Bagage residierte.

    Dorthin waren Ben und July nun unterwegs.

    »Was für ein Brimborium!«

    Ben war sichtlich genervt von all dem Trubel um das morgige Fest. Aber was ihm in Wirklichkeit Sorgen bereitete, und nicht nur ihm, war ein Ritual, das sich seit Jahren bei diesem Fest abspielte und mittlerweile zum Höhepunkt geworden war: die Lotterie!

    »Komm, trödel nicht so, die anderen sind sicher schon da.«

    »Ich und trödeln? Wer hat denn unbedingt noch ein Stück Schnitzholz suchen müssen?«

    July ließ den Vorwurf nicht auf sich sitzen.

    »Ist ja gut«, sagte Ben und beschleunigte seine Schritte.

    Endlich sahen sie den großen Baumstumpf im Park. Er stand am Rande einer großen Freifläche, die an diesem Nachmittag voller helfender Hände war. Hier sollte morgen das Fest stattfinden. Bänke und Stühle wurden in Reihen aufgestellt. Latten und Kisten herumgetragen, Stoffbahnen gespannt und allerlei Schleifen und Bänder an Zweige und Sträucher gebunden. Soussol, der Hausmeister, schleppte gerade ein paar Bretter heran. Er zimmerte damit eine kleine Bühne, auf der morgen die Kinder ihre Darbietungen zeigen würden.

    July und Ben schenkten dem Trubel keine Beachtung und hielten auf das Baumhaus zu. Tatsächlich waren Gapp, Chaya und Celine bereits da und begrüßten sie mit einem »Hallo«.

    »Du kommst spät Boss! Wohl getrödelt …«

    »Das ist meine Sache, Chaya! Hast du Papier organisieren können?«, unterbrach sie

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