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Für die Freiheit: Das Schicksal der Charlotte Corday
Für die Freiheit: Das Schicksal der Charlotte Corday
Für die Freiheit: Das Schicksal der Charlotte Corday
eBook449 Seiten6 Stunden

Für die Freiheit: Das Schicksal der Charlotte Corday

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Über dieses E-Book

Charlotte Corday ... eine sehr besondere Person
Die französische Adelige wächst behütet auf dem familieneigenen Landsitz Mesnil Imbert auf. „Ein sonderbares Kind“, findet ihre Tante schon bei der Taufe, und bald nicht nur sie. Charlotte schielt, sammelt alles Getier in ihrem Zimmer, verschluckt einen Ohrring und einen Kerzenstummel – genau wie ihre verstorbene Schwester. Als sie endlich Zugang zum Bücherschrank ihres Vaters bekommt, taucht sie in andere Welten ein. Ob alte Griechen oder zeitgenössische Literatur, früh begreift sie die politischen Ideale und dass diese mit dem Leben im vorrevolutionären Frankreich nicht viel zu tun haben. Immer klarer wird ihr: Sie ist zu etwas Großem bestimmt.
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum18. Jan. 2024
ISBN9783947141890
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    Buchvorschau

    Für die Freiheit - Walter Burkard

    Als die Mutter starb

    Brütende sommerliche Mittagsstille. Kein Vogelruf. Kein Lüftchen regte sich. Tiefes Schweigen waltete in dem alten Garten von Mesnil Imbert.

    Der Wipfel des Birnbaums hing schräg über dem kleinen Tümpel, den eine verwitterte Sandsteinbalustrade halb umfasste, und warf seinen gelbgesprenkelten Schatten hinunter auf den Grund des Wassers. Gleich hinter dem Birnbaum erhob sich eine beinahe undurchdringliche Heckenwildnis, die den vorderen, gepflegteren Teil des Gartens gegen die üppige Verwahrlosung hin abschloss und auch vom Gutshaus her keinen weiteren Einblick in den hintersten Winkel gestattete als bis hierher. Denn hier erhoben sich Weißdorn, Geißblatt und Brombeersträucher zu einem feindseligen, stachlig abweisenden Gerank; in wilder Verschlingung war alles Pflanzliche ungehindert durcheinandergeschossen. Nur einem mächtigen Holunderbaum war es gelungen, sich durch das Dickicht hindurchzuzwängen und sein nun in die Breite gedehntes, beherrschendes Haupt emporzurecken. Hier hinten ging auch die mannshohe Bruchsteinmauer, die um den ganzen Besitz sonst leidlich unversehrt herumführte, in einen von Ginster und Disteln überwachsenen Trümmerhaufen über; indessen war der jeglichem Verfall innewohnende Anflug von Traurigkeit insofern ins Unmerkliche gedämpft, als dem verwuchernden Steinwall ein gerade aufgeblühter Jasminstrauch entsprossen war, der diese Stätte mit seinem überschwänglichen Duft umhauchte.

    Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, diesen Teil des Gartens jemals zu betreten. Wer hätte sich auch hierher verirren sollen, da man doch zwischen dem Haus und der Hecke einen recht ansehnlichen Garten besaß. Jahrhunderte vielleicht hätte solch entfesseltes Wachstum sich allen Blicken entzogen, wären die Kinder nicht gewesen.

    Denn dies war ihr Garten. Zwischen Teich und Mauerruine lag ihr Reich, das sie Teichgarten nannten. Die Dornenhecke gewährte kniehoch über dem Boden einige kaum sichtbare Einschlupfe. Hatte man jedoch erst den dichteren Rand des Geflechts hinter sich gebracht, so gewahrte man ein Netz völlig nacktgetretener Schlängelpfade, die bei weiterem Eindringen sogar eine annähernd aufrechte Haltung gestatteten und schließlich unter dem dachartigen Wulst üppiger Verschlingung in einen turmartigen Hohlraum gründunkler Dämmerung mündeten.

    Dies war der innerste Bereich, das Allerheiligste, das man nur friedfertig betreten durfte; kein Streit, kein noch so harmloses Schimpfwort war hier gestattet; nach unausgesprochener Abmachung durfte nur geflüstert werden. Denn ringsum lagen die kleinen Hügel des Vogelfriedhofs, in denen Amseln, Meisen, Goldammern und Häher, hin und wieder auch besondere Spatzen ruhten, natürlich auch Blindschleichen, Kröten und Maulwürfe, die das Zeitliche gesegnet hatten. Ja, als die Bernhardinerhündin Bella verendet war, hatten die Kinder den kühnen Plan gefasst, den riesigen Leichnam zu entführen und im Teichgarten zu beerdigen. Sie hatten ihn schon bis zum Teich mit großer Anstrengung geschleppt, als die alte Marie, des Hauses Faktotum, den verstohlenen Leichenzug von der Treppe aus erspähte und mit ihrem Gezeter Mama aufmerksam machte, die gerade am Clavichord saß und ihren geliebten Rameau spielte, nun aber einen winzigen Moment innehielt, mit ihrer zarten und hohen Stimme nach der Scheune rief und nach kurzem, mehr geklimperten Weiterspielen unter das Vordach herausgelaufen kam. Inzwischen war auch der Vater im dunklen Loch der Scheunentür erschienen und der Mutter zuwinkend ein Stück in Richtung Garten gegangen. Mit angenommener Strenge, sozusagen mit heimlich blinzelnder Stimme – das hörten die mittlerweile in der Hecke verborgenen Übeltäter sofort heraus – forderte er sie zum augenblicklichen Rückzug mit der verlassen daliegenden Bella auf. Die Kinder trugen sie in den Obstgarten zurück, zögernd noch und in der stillen Hoffnung, Mutter würde sich entfernen und Vater ließe sich umstimmen. Doch Jean Chappe, der Kutscher, wurde beauftragt, Bella unverzüglich an der Mauer einzugraben und Mama blieb, nachdem sie ihr Klöppelzeug geholt hatte, währenddessen so eindeutig unter dem Vordach sitzen, dass die Kinder die Chance, ihr Vorhaben doch noch auszuführen, bald dahinschwinden sahen. Katzen im Dornengewölbe zu bestatten, war indessen nicht verboten. In Mesnil Imbert gab es viele Katzen – dank eines gutsherrlichen Katers namens Paschah, der nach seiner Erdenzeit auch hierher gelangen sollte.

    Aber nicht nur zu solch trauriger Zeremonie versammelten sich die Kinder im Teichgarten; hier war auch der Ort ihrer heimlichen Beratungen, etwa wenn es darum ging, dem „Storchenkopf, wie sie unter sich den Hauslehrer nannten, wieder einmal einen Streich zu spielen, oder wenn man sich der Folgen ungerechter Strafandrohung vorübergehend entziehen wollte. Alexis hatte es einmal fertiggebracht, sich einen Tag und eine Nacht im Innern der Hecke zu verschanzen, so dass Eltern und Lehrer gezwungen waren, sich mit ihm auf Verhandlungen einzulassen und ihm Straferlass gewähren mussten, sollte er überhaupt jemals wieder zum Vorschein kommen. Vor allem konnte man stundenlang einfach dasitzen oder seinen Gedanken nachhängen, ohne dass es ständig hieß: Sieh doch nur mal Charlotte an! Was hat denn nur Charlotte? Das Kind wird doch wohl nicht krank sein, so stumm, wie es dasitzt?" Es war ein wunderbares Refugium! Wie eine kühle Glocke dämmriger Stille stülpte sich der im Innern fast kahle Hohlraum über die Stätte kaum getrübtem Kinderglücks.

    Vor der Hecke, unmittelbar an den Tümpel angrenzend, befand sich der Krautgarten mit seinen abgezirkelten Beeten, den Rhabarberstauden und Johannisbeersträuchern, mehreren Apfel- und Kirschbäumen und einer sich an der linken wohlerhaltenen Mauerseite hinziehenden, schmalen Rasenfläche, die als Bleiche diente und meist auch mit Wäschestücken belegt war. Die rechte Mauer war bis zur Hälfte mit aufgestapeltem Holz für Küche und Kamin bedeckt. Etwa von der Mitte dieses ganz der Nützlichkeit anheimgegebenen Teils führte ein ziemlich breiter roter Steinfliesenweg über eine flach ansteigende Treppe in den um einen Meter höher gelegenen Rosengarten, der das eigentliche Prunkstück des Gartens war. Hier verwandelte sich der Weg in einen noch breiteren Laubengang, eine Pergola mit ehedem weißgestrichenen Holzsäulchen, wie sie ein noch so bescheidener Landsitz nicht entbehren wollte.

    Wo der Ziergarten und mit ihm die mit schottischen Heckenrosen umrankte Laube endete, trat die Mauer weit nach außen hin zurück und umfasste eine geräumige Hoffläche, in deren Mitte das langgestreckte, einstöckige Gutshaus stand, das seine trotz einer beginnenden Verwahrlosung schöne, vielfenstrige Vorderseite zum Garten hinkehrte.

    Ein von dürren besenhaften Pappeln umsäumter, befestigter Fahrweg durchzog den Hof, erweiterte sich vor dem einfachen, überdachten Portal des Wohnhauses zu einem mit niedrigem Buchsbaum eingefassten Platz und bog um das Gebäude herum zum Hinterhof mit seinen Stallungen und Schuppen. Dahinter erhoben sich die bleigrauen Stämme eines Buchenwäldchens von geringer Tiefe, dessen sichelförmige Ausläufer in die das Anwesen umgebenden Weideflächen hineinstrebten.

    Charlotte saß in der Nähe des Tümpels auf einer in die Gartenmauer eingelassenen Steinbank. Sie saß schon sehr lange da; seit dem Morgen, als man sie früher als sonst geweckt, hastig mit einer Schnitte Brot in den Garten geschickte hatte. Manchmal strich sie das tiefbraune Haar, das in der Sonne kastanienrot schimmerte, über die Schulter zurück; dann neigte sie auch den Kopf ein wenig zur Seite, als ob sie nach dem stillen Haus hinüberlausche. Aber es war nichts zu hören.

    Ihr Blick ruhte auf einer zartgrünen Smaragdeidechse, die reglos auf dem glatten glühheißen Steinvorsprung verharrte. Eindringlich betrachtete sie die durch die kleine Wendung des schlangenhaften Köpfchens hervorgerufene Halsbeuge, wo unter der pergamenten gestrichelten Haut das winzige Herz pochte.

    Jetzt hob Charlotte den Kopf; sie glaubte, aus dem Innern des Hauses einen unbestimmten Laut vernommen zu haben. Mit ängstlicher Gespanntheit blickte sie zum Portal hin, dessen hohe Doppeltür weit geöffnet war. Durch die braune Dämmerung des Flurs schimmerte eine offenstehende Eichentür als verschwommener Fleck. Auf der obersten Stufe der mit geschweiftem Geländer unter das Vordach hinaufführenden Treppe saß eine Katze in feierlicher Langweile. Die gelben Vorhänge der schmalen, fast bis auf den Boden gehenden Fenster waren zugezogen. Alles war wieder still.

    Charlotte seufzte. Ihre Hände lösten die Brustschleife des steifleinenen Kittels und banden sie wieder - unablässig. Eine schreckliche Unruhe hatte von ihr Besitz ergriffen. Sie spürte, dass diese Stille eine schlimme Bedeutung haben müsse.

    ‚Was mag da drinnen nur geschehen? Es ist etwas, wobei man Kinder nicht brauchen kann! Gestern hat Tante Ivette Bruder Alexis und den kleinen François mitgenommen nach Bissière. Und heute Morgen kam sie schon wieder zurück und lief gleich in Mamas Zimmer. Die arme Eleonore muss sogar bei der komischen Tante Bretteville in Caen bleiben! Und mich schicken sie den ganzen Tag in den Garten. Als ob ich nicht wüsste, dass Mama krank ist, sehr krank sogar. In letzter Zeit ist sie doch fast immer krank und liegt sehr oft im Bett. Heute Morgen durfte ich zum ersten Mal nicht zu ihr hinein, nur von der Tür aus kurz ins verdunkelte Zimmer blicken. Papa saß am Bett und bemerkte mich gar nicht. Ganz ruhig lag sie da und sagte mir nicht einmal Guten Morgen. Ob’s diesmal wirklich sehr schlimm ist? Marie sagt, es wäre sehr schlimm. Aber darauf gebe ich nichts, die hat ja schon vor einem Schnupfen Angst und wickelt uns in ihre scheußlichen heißen Tücher. Ach Gott, Mama! Liebe Mama! Wie hab ich dich so lieb! Wenn du auch eine sehr merkwürdige Mama bist!

    Wie streng sie oft ist! Dann duldet sie es nicht, dass wir sie umarmen und küssen. Ganz ernst wird sie da und schiebt einen zur Seite. Als fürchte sie sich vor etwas. Ich glaub, sie mag es nicht, wenn man ihr sehr nahe kommt. Neulich bei unserem letzten Spaziergang hab ich es deutlich beobachtet. Wir gingen alle in Richtung La Ronceray, und da, wo es ein bisschen ansteigt, reichte Papa ihr den Arm. Ganz genau hab ich gesehen, dass sie es nur ungern geschehen ließ, obwohl sie das Gehen sehr anstrengte. Die ganze Zeit hielt sie ihren Arm so, dass Papa ihr nicht näher kommen konnte als unbedingt notwendig. Und küssen tun sie sich nur ganz selten. Höchstens flüchtig auf die Stirn. Das verstehe ich aber sehr gut. Von einem Mann will ich nämlich auch nicht geküsst werden.

    Mama liebt uns trotzdem. Jawohl, ich weiß es ja sogar ganz genau, dass sie uns Kinder sehr lieb hat. Noch nicht lange, da lag ich abends noch wach im Bett, als sie hereinkam. Ich schloss schnell die Augen, und gleich darauf fühlte ich einen Kuss auf meiner Stirn. Über jedes Bett neigte sie sich und küsste die Schlafenden ... Warum weint sie nur so oft? Manchmal steht sie plötzlich auf, geht in ihr Zimmer und kommt nach zehn Minuten wieder heraus. Ich sehe ihr aber an, dass sie geweint hat. Ihre Augen sind so schön! Sie ist überhaupt schöner als alle anderen Frauen. Am schönsten sieht sie aus, wenn sie am Clavichord sitzt und ihren geliebten Rameau spielt und dabei lächelt. Jeden Mittag im verdunkelten Salon beim matten Schein der beiden Leuchter. Manchmal, ganz selten, nimmt sie mich mit hinein, weil ich doch auch schon spiele, nur nicht so gut. Dann spielt sie immer das eine Menuett, als gäbe es nichts anderes als Philipp Rameau. Neulich hat mir Tante Ivette mit ihrer Krähstimme etwas aus „Iphigenie" vorgesungen. Mama darf das nicht wissen. Ich glaube, sie ist Gluck böse, weil er es doch war, der ihren Rameau in Paris entthront hat. Alle Welt, sogar in Caen, schwärmt von Gluck, nur Mama nicht. Gestern hat sie zum ersten Mal ihr Menuett nicht gespielt. Und heute auch noch nicht. Lieber Gott, lass sie doch gleich zu spielen anfangen!‘

    Eine schlimme Ahnung durchzuckt das Kind im gleichen Augenblick, als vom Haus her aus dem Buchenwäldchen ein kühler Luftzug zu wehen beginnt. Gleichzeitig, als sei es von diesem Wind herangetragen, erscheint das zweirädrige Wägelchen des Doktors im Hoftor, zum zweiten Male heute schon. Charlotte bemerkt es mit wachsender Unruhe. Auf einmal überfällt sie panische Angst. Sie springt auf und läuft den Laubengang entlang auf das Haus zu. Da trägt der kleine Luftzug die ersten Takte des Menuetts herüber.

    ‚Endlich! Endlich! Sie spielt wieder ihren Liebling! Mama ist wieder gesund!‘

    Doch an der Treppe bleibt sie stehen, lauscht erneut.

    ‚Das ist nicht Mama! Nein! Das ist gar nicht Mama!‘

    Unsicher und schwerfällig holpert die Melodie dahin, wird abgebrochen, fängt wieder von vorne an, wird langsamer, stockt.

    „Mama!, schreit das Kind auf und noch einmal, hoch und schrill, ,,Mama!

    Mühsam fängt das Spiel noch einmal von vorne an, quälend langsam, seelenlos. Die linke Hand bricht ab; wieder, zum vierten Mal wagt es die rechte Hand, ganz langsam im Takt, damit die linke mitkommt. Charlotte, unten an der Treppe, rührt sich nicht, in der entsetzlichen Stille, die nun eintritt.

    ‚Nein! Nein! Das ist nicht Mama!‘, denkt sie immer wieder in der lastenden Stille. ‚Und wenn sie noch so krank wäre, so fürchterlich könnte Mama niemals spielen.‘

    Kein Ton mehr. Eisige Stille entströmt dem Zimmer, dass der Atem des Kindes stockt. Aus der Tiefe des Flurs kommt die alte Dienerin. Sie wischt sich die Augen, hält den Finger an den Mund, führt das Kind bis an den Tümpel in den Garten zurück, unablässig redend, leise.

    Ja, ja, der Vater habe gespielt, obwohl er doch gar keine Übung habe. Sie wollte es noch einmal ... sie wollte es hören, weil sie zu schwach sei, selbst zu spielen.

    ,,Du musst im Garten bleiben!, sagt sie beinah barsch, damit Charlotte ihre Unruhe nicht bemerken soll, ,,du darfst nicht hereinkommen, das ist nichts für Kinder! Man wird dich schon rufen! Doktor Neri ist ja da!

    Charlotte setzt sich wieder auf die Bank; sie starrt angsterfüllt auf das stille Haus. Ein nie gekannter Schreck sitzt ihr im Herzen.

    Nach zwei Stunden wird es lebendig. Die Magd kommt heraus. Weit hält sie den schweren Eimer von sich und schüttet ihn vorsichtig aus. Sie steht da und hält sich die Schürze vors Gesicht. Sie geht am Haus entlang auf die Scheune zu, deren Tor offensteht, ruft etwas hinein, mit unterdrückter Stimme. Gleich darauf erscheinen die beiden Knechte und Jean Chappe, der Kutscher, und sehen zur Magd hin, die ihnen zunickt und langsam zum Haus zurück geht. Hinter ihr setzen sich die drei in Bewegung. Unten an der Treppe ziehen sie ihre Stiefel aus, stellen sie umständlich nebeneinander auf die unterste Stufe, bevor sie steifbeinig, einander den Vortritt lassend, unter dem Portal verschwinden. Das Fenster wird geschlossen. Nach fünf Minuten kommen die Knechte wieder aus dem Haus, zögernd, mit verschlossenen Gesichtern, gehen hintereinander die Treppe hinab, steigen nacheinander in ihre Schaftstiefel und ziehen sich, einer hinter dem anderen, vorsichtig auftretend in die Scheune zurück, während das Fenster wieder geöffnet wird ...

    Eine namenlose Angst packt das Kind. Aber es rührt sich nicht vom Fleck.

    Nun tritt ein beleibter Mann – es ist Doktor Neri – unter das Vordach. Er bleibt einen Augenblick unschlüssig stehen. Hinter ihm auf der Schwelle erscheint Charlottes Vater, ein hochgewachsener Mann in einem apfelgrünen Flauschrock. Er lehnt sich an den Türrahmen und blickt über den Doktor hinweg in den Garten. Die Katze unter dem offenen Fenster erhebt sich und streicht um Doktor Neris Beine. Er bückt sich, um sie zu streicheln, tut es aber nicht. Eine Weile stehen sich die beiden stumm gegenüber. Schließlich hebt er bedauernd die Schultern, wendet sich zur Treppe, geht halb seitwärts hinab und ohne sich umzublicken zum eingespannten Pferdchen, tätschelt es, hebt gleichzeitig die andere Hand nach hinten zum Haus, klettert in die quietschende Kutsche und fährt davon.

    Der Vater kommt die Treppe herunter, geht langsam durch den Krautgarten auf Charlotte zu. Wie im Traum, wenn etwas Grauenvolles herankommt und man am Boden festgewachsen ist, sitzt sie auf der Bank, während der Vater wortlos, unerbittlich näherkommt. Schwer geht sein Atem, sein Mund zuckt. Es sieht einen Moment so aus, als ob er lächeln wolle. Ein schriller Schrei stößt in die Stille:

    „Vater!"

    Er legt seine schwere Hand auf ihren Kopf und sagt mit viel zu lauter Stimme, die aber beruhigend wirken soll:

    „Komm, Charlotte!"

    Als etwa zehn Jahre später der Name Marie Anne Charlotte de Corday d’Armont in aller Munde war und die Gemüter ihrer Zeitgenossen mit Bewunderung und Abscheu erfüllte, da, auf dem Wege zur Guillotine, während der Karren mit der Unglücklichen im roten Hemd der Mörderin vom wütenden Pariser Straßenpöbel umwogt wurde, als unerwartet die Todesangst dennoch nach ihrem Herzen griff, da ging plötzlich für alle Teilnehmer dieses düsteren Schauspiels eine unerklärliche Veränderung mit der Delinquentin vor. Ihre etwas vornüber geneigte, im Gerüttel des Wagens schwankende Gestalt richtete sich auf. Ihr starr auf die armselige Mähre gesenkter Blick glitt über die Menge; lauschend hob sie den Kopf zur Seite, dann schräg nach oben zu den kleinen Fenstern der Häuserfront hin. Das Geschrei der Gasse verebbte, und dann hörten alle, was nur dieses eine Ohr durch das Lärmen der Besessenen vernommen hatte, als der Karren gerade in die Rue Saint-Antoine eingebogen war.

    Aus einem der oberen Stockwerke schwebten die leichten, hüpfenden Klänge eines Cembalos; jemand spielte Rameaus Menuett. Es gab eine Verzögerung, der Karren blieb stehen. Nun hörten es alle, da auch der Lärm über dem Schacht der Straße ins Stocken geriet. Charlotte blickte hinauf, ihre fest geschlossenen Lippen lösten sich kaum wahrnehmbar zu einem kleinen, ungläubigen Lächeln; ihre Hand umfasste mit heftigem Druck das Ambrafläschchen, das sie seit dem Tod der Mutter immer bei sich trug und das ihr der Gefangenenwärter nicht weggenommen hatte; sie blickte zum Fenster hinauf, wo das Spiel jetzt überlaut und dennoch unwirklich immer mehr anschwoll; und ihre großen, etwas schräg zueinanderstehenden Augen versprühten in diesem Augenblick ein solches Feuer, dass die abgebrühte Menge der gewohnheitsmäßigen Gaffer einen Augenblick erstarrte.

    „Mama!, sagte sie, und die dicht um den Todeskarren Gedrängten hörten deutlich ihre Stimme, „Es ist gut, Mama, dass du da bist!

    Schon ruckte der Karren wieder an; einer der Knechte stieß die Zurückfallende vorwärts; die Menge schrie erneut auf, böse, mit jäh hereinbrechendem Hass, böser noch, weil sie einen Moment ihre Wut vergessen hatte. So schrie sich der Zug durch die Straßen von Paris, immer lauter, immer wütender, je näher er der Richtstätte kam, bis über den Köpfen das Schafott auftauchte, bis der Elendskarren den Platz erreichte, wo das Geschrei der Herankommenden von einem noch wütenderen Geschrei und höllischen Gekreisch ausgelöscht wurde. Als Charlotte die roten Stufen hinaufstieg, lächelte sie nicht mehr, aber das Feuer ihrer dunklen Augen war auch jetzt nicht ganz erloschen.

    Eine Corday schielt nicht

    Eines Tages, lange vor ihrem Tod, hatte Madame de Corday ihre Besorgnis über das Wesen Charlottes ihrem Mann anvertraut. Sie, die beinahe wie eine Fremde im Hause lebte und ihre Gefühle so meisterlich zu beherrschen verstand, dass man sie – sehr zu Unrecht – für gefühllos hätte halten können, gerade sie schien zu ahnen, dass die Besonderheit ihrer Tochter zur Beunruhigung Anlass bot. Natürlich war es auch Messire Corday nicht verborgen geblieben, dass die kleine Charlotte sich in vielem von anderen Kindern ihres Alters unterschied; dies aber zumeist in vorteilhafter Weise, entschied er. Ihr stundenlanges In-der-Ecke-Sitzen und, wie es schien, teilnahmsloses In-die-Luft-Starren, nun ja, es kam ihm nicht ganz geheuer vor, aber das werde sich schon geben.

    Begonnen hatte es bereits bei der Tauffeier. In seinem ganzen Leben würde er es nicht der Patin, Tante Ivette, verzeihen, dass sie, wenn sie von Charlotte sprach, vor allen Ohren ständig die Formulierung „ein sonderbares Kind" gebrauchte. Was das zehntägige winzige Geschöpf auch tun mochte, ob es schrie oder schlief oder nur dalag, es gab ihr augenblicklich Anlass zu dieser Feststellung. Sie sagte es weder fragend noch nachsinnend; nein, sie sagte es mit ihrer lauten, burschikosen Stimme, als verkündige sie Selbstverständliches, das keiner näheren Erläuterung bedurfte. Einmal, als sie das Kind aus der Wiege nahm und zu Madame de Corday hinübertrug, hielt sie es lange mit ausgestreckten Armen in die Höhe und betrachtete es eindringlich, bevor sie es der ängstlich gewordenen Mutter stumm in den Schoß legte.

    „Was ist denn nun wieder, Ivette?", fragte Madame de Corday.

    „Nichts, nichts! Was soll denn sein?, entgegnete diese etwas allzu obenhin. „Es ist eben ein sonderbares Kind! „Nein, weiche mir nicht aus; du hast etwas gesehen, sag‘ es mir! „Es ist gar nichts Beunruhigendes, nicht der Rede wert! Das Kind hat einen sonderbaren Blick! Mit steigender Unruhe forschte die Mutter in Charlottes Augen. Ja, die Schwester hatte recht, nun sah auch sie es ganz deutlich: mit den Augen stimmte etwas nicht. Schon blickte sie zur Tafel hinüber, um den Vater zu rufen, der mit einem seiner Gäste in ein hitziges Gespräch über die gerechte Erbteilung der Adelsgüter geraten war. Tante Ivette befürchtete aber mit Recht einen heftigen Auftritt des vom Calvados und seinen Ideen erregten Hausherrn, und es gelang ihr wenigstens für den Augenblick, die Mutter zu beschwichtigen.

    „Im Übrigen, Juliette; ein sonderbares Kind muss auch einen sonderbaren Blick haben!"

    Hinter dem Rücken ihres Mannes ließ die Mutter Doktor Neri kommen, und es stellte sich heraus, dass das Kind einen leichten Augenfehler hatte, der nach Meinung des Arztes durch eine teilweise Versteifung des äußeren Muskels des linken Auges hervorgerufen wurde. Er verstand es jedoch, die Mutter zu beruhigen. Solch geringe Augenschäden regulierten sich bei Säuglingen in den meisten Fällen in kurzer Zeit von selbst.

    Außerdem empfahl er ihr, jeden Tag etwa eine halbe Stunde lang die Kleine zu veranlassen, immer wieder von rechts nach links zu blicken. Aber wie das denn zu machen sei? Doktor Neri ließ sich eine Kerze bringen, hielt sie mit der rechten Hand in einiger Entfernung vor Charlottes Gesicht und führte sie langsam von rechts nach links an ihr vorbei. Mit einer bei seiner Leibesfülle erstaunlichen Gewandtheit brachte er es ohne Hilfestellung fertig, die brennende Kerze hinter seinem Rücken mit der linken Hand entlangzuführen und an die rechte zu übergeben, worauf diese sie wieder langsam an den gehorsam folgenden Augen des Kindes vorbeiführte und abermals hinter seinem breiten Gesäß verschwinden ließ. Dreimal vollführte er nicht ohne Stolz dieses Kunststück, das er schon mit Erfolg angewandt zu haben versicherte. Er bat jedoch ausdrücklich darum, Madame möge den magischen Kreis zunächst ohne brennende Kerze üben oder die Hilfe der alten Marie in Anspruch nehmen, die hinter ihr stehen und die Kerze in Empfang nehmen könne. Er ging, Zuversicht und augenblicklichen Tätigkeitsdrang der Mutter entzündend und höchst zufrieden mit seinem ärztlichen Ingenium; da er sich aber niemals entfernte, ohne noch einmal zurückzukommen, um noch etwas zu sagen, so wurde er auch jetzt von der bereits den Kerzenkreis vollführenden Madame mit Nachsicht erwartet. Zur Tür hereinblickend sagte er nach einem Wort des Lobes über so viel Gelehrigkeit: „Sollte aber, meine verehrteste Madame de Corday, unsere, wie ich sehe, mit so viel Eifer betriebene Manipulation nicht von Erfolg gekrönt sein, sollte der kleine Muskel auf seiner leidigen Schwäche insistieren, nun denn, so ist auch nicht viel verloren, vielleicht sogar etwas gewonnen; denn, meine verehrte Madame Corday, diese minimale, kaum messbare Unstimmigkeit in der beseelten Harmonie des Augenpaares, die uns beim Säugling als ungeistige Starre erschreckt, sie könnte einmal dieses Mädchen mit dem unvergleichlichen Reiz eigentümlicher Apartheit ausstatten. Ich empfehle mich!"

    Messire Corday, der, wie erwähnt, von alldem nichts ahnte, wunderte sich nicht wenig, als er wenige Tage später beim Öffnen des Kinderschlafzimmers seine Gemahlin in einer feierlich-steifen Verrenkung inmitten der langsam kreisenden Kerze vor dem in der Sofaecke mit Hilfe einiger Kissen gestützten Kind vorfand. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen, noch weniger aber den Ohren, da ihm nun während des gewissenhaft fortgeführten Rituals die Ursache der Unternehmung enthüllt wurde. Herrn Cordays Gesicht rötete sich. Sie habe sich entschlossen, suchte die Gattin ihn rasch zu besänftigen, auf Grund der Zwiespältigkeit der Nerischen Diagnose die Kerzentherapie auf ein geringes Maß zu beschränken. Da platzte es aus ihm heraus: „Eine Corday schielt nicht! Das solltest du dir merken, Juliette", und damit verschwand er hinter der knallend zugeschlagenen Tür.

    So kam es, dass Charlotte Corday ihren kleinen Augenfehler behielt, und dass - nach Doktor Neris Worten - diese minimale Unstimmigkeit in der beseelten Harmonie ihres Augenpaares sie mit dem unvergleichlichen Reiz eigentümlicher Apartheit ausstattete.

    Zwar enthielt sich die Mutter von nun an aller diesbezüglichen Bemühungen, umso mehr aber war Charlotte der Gegenstand ihrer ständigen Sorge. Tante Ivette hatte die Formel gefunden, gegen die sie machtlos war, und das „sonderbare Kind bemühte sich nach Kräften, seinem Ruf gerecht zu werden. Wahrscheinlich benahm es sich in Wirklichkeit gar nicht viel anders als ihre Altersgenossen, aber das einmal geprägte Wort verpflichtete alle, auch das ganz normale Tun und Lassen des Kindes mit dem Ruch des Absonderlichen zu umgeben. Da hieß es: „Was, sie krabbelt schon den ganzen Gang entlang? Unglaublich, Charlottchen spricht ja schon in Sätzen! und so weiter.

    All dem setzte Madame de Corday ein gezwungenes Lächeln entgegen. Was jede andere Mutter entzückt hätte, erfüllte sie mit Schrecken. Sie fürchtete eine ähnliche Entwicklung wie bei Charlottes um drei Jahre älterer Schwester, die nach einer kurzen Zeit sehr früher Entfaltung der mannigfachsten Gaben allmählich zu verkümmern begann und deren geistiges und leibliches Wachstum seit geraumer Zeit zum Stillstand gekommen war. Zu allem Unglück gab es einige Übereinstimmungen in dem Verhalten der Schwestern: Beide liefen lange vor der Zeit, beiden war es gelungen, die Katzenschüssel leerzuessen und jeweils einen Ohrring und einen Kerzenstummel zu verschlucken; beide waren einmal nach stundenlangem Suchen um Mitternacht in der Hundehütte gefunden worden, und schließlich – und  dies war das allerbedenklichste – waren beide Kinder beim Kirschenessen von einer Wespe etwa an der gleichen Stelle oberhalb der Schläfe gestochen worden. Von diesem Tage an, so behauptete die alte Marie, sei es mit dem armen Schwesterchen bergab gegangen. Sie machte sich die bittersten Vorwürfe und klagte sich aufs Heftigste bei ihrer Herrschaft an, dass sie bei Charlotte nicht besser achtgegeben habe, da sie doch hätte wissen müssen, dass die Wespen des Calvados sich verschworen hätten, auch die kleine Marie-Charlotte zu stechen.

    So waren etwa im fünften Lebensjahr des Kindes alle Voraussetzungen erfüllt, die, nach allen vorangegangenen Erfahrungen, zum Stillstand seiner bis jetzt recht glücklichen Lebensregungen führen mussten.

    Die fromme wie abergläubische Marie hatte dem seit Jahren erworbenen Zittern ihres Kopfes nun ein leichtes Tremolieren ihrer Stimme beigesellt, das sich immer dann teilnahmsvoll verdoppelte, wenn von „dem armen Kindchen" die Rede war. Sie behielt das Kind unverwandt im Auge und flehte von Zeit zu Zeit die Heilige Ottilie um Beistand an.

    In diesem Zustand teils ergebener, teils gewappneter Unglücksbereitschaft tat das Kind genau das, was von ihm erwartete wurde, vielleicht sogar, weil es von ihm erwartetet wurde. Seit Wochen spürte es die Aufregung, sah sich im Mittelpunkt des Geschehens. Sie erkannte eines Tages die Gelegenheit, diese ganze seltsame Welt der Erwachsenen hinters Licht zu führen; vielleicht auch glaubte sie, den Großen damit einen Gefallen zu tun.

    Charlotte saß auf ihrem Schemel in der Ecke und gab mit einem Male keine Antwort mehr, verweigerte zunächst das übliche Essen und nach einigem Bedenken sogar ihre Lieblingsspeise, gezuckerte Kirschen, die ihr von Marie mit beachtlichem Tremolo angepriesen wurden. Es gab keinen Zweifel mehr: Sie stagnierte.

    Messire de Corday, von einer Reise nach Rouen zurückgekehrt, betrat sein Haus mit dem heiteren Gefühl eines Menschen, der sich soeben in seiner Außerordentlichkeit bestätigt gefunden hatte. Es war ihm nämlich gelungen, einen – wenn auch obskuren – Verleger von der Bedeutsamkeit seines Traktates „Über die Gleichheit der Erbteilung oder eine Ergänzung zum System der Gleichheit" zu überzeugen. Er stand im Begriff, der in seinem Arbeitszimmer zu versammelnden Familie seinen Triumph mitzuteilen, als ihm schon im Flur die bedrohliche Desolatheit des gesamten Hauswesens in Gestalt des achtjährigen Alexis entgegentrat, der ihn weinend umklammerte und sich von dem nun erregt Vorwärtsstürmenden nicht abschütteln ließ. Da trat ihm Madame de Bretteville todernst, ihren dürren Zeigefinger über die Lippen pressend, aus dem Kinderzimmer entgegen. Während er noch den Ärger über die seinem Vorhaben so abträgliche Situation niederzukämpfen bemüht war, vernahm er die säuerliche Stimme der Bretteville: Sie habe es ja schon immer gewusst und nun sei es so weit, und man wisse nicht, ob das Kind den Zustand der Stagnation überleben werde. Aus dem Kinderzimmer ertönte gedämpftes Gewisper und brüchiges Geplapper, antiphonisch gemischte litaneiartige Anrufungen, ein unheimliches Geflecht aus Madames Schicksalsergebenheit und dem harten Jammerton der Magd. Herr von Corday schüttelte Alexis mit Gewalt von sich, schob die ihn strafend anblickende Bretteville zur Seite und stand mit zwei Schritten vor Charlottes Lager.

    Das Gesicht des Kindes war hochgerötet und schweißbedeckt. Der Atem ging heftig. Aber – höchst merkwürdig – ihre Augen hatten etwas Strahlendes, und als der Vater sich nun forschend über sie beugte und besorgt ansah, glaubte er einen Anflug von scheuer Spitzbübigkeit, einen sich flüchtig vorwagenden Verständigungsversuch zu entdecken. Das Geraune hinter seinem Rücken verstummte. Er drehte sich um. Auch die Beterinnen waren schweißbedeckt. Das ganze Zimmer war von weißlichen Schwaden erfüllt. Da dampft doch etwas, dachte Herr von Corday und spürte gleichzeitig heiße Feuchtigkeit an seinen Beinen hinaufkriechen, die ihn dazu veranlasste, sich zu bücken und unter Charlottes Bett zu blicken. „Hinaus, schrie er, „hinaus! Auch du, Juliette!, und zog eine flache Kupferwanne mit dampfendem Wasser unter dem Bett hervor. Alleingelassen begann er die zahllosen Kissen und Decken, die sich über Charlottes Körper türmten, zu entfernen. Er sagte kein Wort, schaffte die Wanne vor die Tür. Seine Wut verrauchte infolge der Tätigkeit. Er setzte sich an Charlottes Bett. Das Kind beobachtete ihn unablässig, halb ängstlich, halb neugierig. Ihre Züge lösten sich, das Spitzbübische verbreitete sich zusehends und wurde unter des Vaters Blicken, die alle Strenge zu verlieren begannen, immer offenkundiger. Da der Vater in seiner Wortlosigkeit verharren wollte, wurde der kindliche Drang, ihm alles zu erzählen, von Minute zu Minute stärker. Wollte er denn gar nicht wissen, wie interessant das alles war, wie Marie alle möglichen Vorbereitungen traf und die Mutter für sie betete und wie die Tante so wichtig herumstand und Alexis, der sich schon erwachsen vorkam, wegen ihr heulte.

    Da streichelte der Vater scheinbar unabsichtlich und gedankenverloren ihre nunmehr aus anderen Gründen glühenden Wangen. Charlotte schlang in einem jähen Gefühlsausbruch ihre Arme um ihn und sagte mit allen Anzeichen einer seltenen Glücksempfindung:

    „Papa, ach, das war ja so schön!"

    Die Frage Madame Brettevilles, ob eine exemplarische Züchtigung Charlottes etwa nicht vorgesehen sei, verneinte Herr von Corday freundlich, aber bestimmt. Darauf erklärte sie, in einem Hause, indem die Grundprinzipien der Pädagogik so sträflich missachtet würden, nicht länger verweilen zu können. Anscheinend betrachtete sie es als persönliche Kränkung, dass das Kind der Strafe entging. Innerhalb einer Stunde verließ sie das Haus, nicht ohne gegen Madame Corday im Abgehen einige Unheilsankündigungen zu äußern: Macht nur so weiter. Ihr werdet schon sehen, was aus diesem Kind wird!

    Am Abend dieses Tages, den Monsieur de Corday in ungewohnter Heiterkeit verbracht hatte, geschah es nun, dass die Mutter endlich ihre schon lange gehegte Sorge ihrem Mann anvertraute. Behutsam begann sie, da sie einen heftigen Auftritt befürchtete. Da dieser aber ausblieb, rückte sie mit der beklemmenden Vermutung heraus, sie halte Charlotte für nicht normal.

    Der Verfasser des Traktats „Über die Gleichheit der Erbteilung" sah sie eine Sekunde mit spöttischem Ernst an und brach dann in lautes Lachen aus.

    „Nicht normal!, rief er ein über das andere Mal, „das ist es ja gerade! Sie hat eben das Besondere aller echten Cordays. Bin ich denn etwa normal? Ich würde mich bedanken, so zu sein wie meine Adelsgenossen! Und sag‘ mir, Juliette, du hältst doch nicht etwa meinen Ahnherrn Corneille für normal? Oder Rascine oder Pascal oder den Herrn Voltaire! Nicht normal, das ist ja die höchste Auszeichnung, die du deiner Tochter da widerfahren lässt!

    Was sollte Madame darauf antworten? Er hatte die Sache zu einer Angelegenheit des Hauses Corday gemacht, und da gab es, wie sie aus hundert Gesprächen wusste, keine Verständigungsmöglichkeit. Sie schwieg eine Weile, zeigte ihre Freude über die baldige Drucklegung seiner Gedanken, die er nun ausführlich als eine Folge Cordayschen Nicht-normal-Seins hinstellte, und kam schließlich doch auf ihre Bedenken hinsichtlich Charlotte zurück.

    „Mag sie auch", sagte sie,

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