Der schreckliche Verdacht: Gaslicht 50
Von Tina Lyr
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Am Morgen wurde Braen Salruan tot in einem Waldstück beim Dorf aufgefunden. Erdrosselt. Der Mörder hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihn gründlich zu verstecken. Die Leiche des alten Hirten war einfach in der Erde verscharrt worden. Reiner Zynismus? Oder ein erneuter Versuch, den Verdacht auf die Aspens zu lenken? Die Gegend geriet in hellen Aufruhr. Noch heute träume ich oft von Aspen Hall. Es sind schreckliche Träume, aus denen ich schweißgebadet erwache. Aber meine Träume sind harmlos, weil ihnen die Substanz fehlt; sie können mir keinen Schaden zufügen. Sie sind nichts weiter als der schwache Nachhall einer vergangenen Realität. Vielleicht werden meine Erinnerungen an das Schloß eines Tages verblassen, doch vergessen kann ich es wohl nie. Zu ungeheuerlich sind die Erfahrungen, die ich bei den Aspens gemacht habe. Bei ihnen habe ich das Böse kennengelernt; das Böse in Reinkultur. Es geht dabei um weit mehr als um unsere menschliche Doppelnatur, um unsere positiven wie negativen Eigenschaften. Ich spreche von einer charakterlichen Verderbtheit, die selbst für die Liebe unüberbrückbar ist; von einer abgrundtiefen Schlechtigkeit, die für die Hölle selbst steht. Natürlich ist mir bewußt, daß es auf Erden nichts Absolutes gibt. Doch die Annäherung daran liegt durchaus im Bereich unserer Möglichkeiten. Zu allen Zeiten haben unter uns Menschen gelebt, die bestrebt waren, sich im Guten zu vervollkommnen, und solche, die Perfektion im Bösen suchten. Beide Extreme sind selten, doch sie treten auf.
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Der schreckliche Verdacht - Tina Lyr
Gaslicht
– 50 –
Der schreckliche Verdacht
Tina Lyr
Am Morgen wurde Braen Salruan tot in einem Waldstück beim Dorf aufgefunden. Erdrosselt. Der Mörder hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihn gründlich zu verstecken. Die Leiche des alten Hirten war einfach in der Erde verscharrt worden. Reiner Zynismus? Oder ein erneuter Versuch, den Verdacht auf die Aspens zu lenken? Die Gegend geriet in hellen Aufruhr. Welch grauenhafter Auftakt zu meiner Hochzeit …
Noch heute träume ich oft von Aspen Hall. Es sind schreckliche Träume, aus denen ich schweißgebadet erwache. Aber meine Träume sind harmlos, weil ihnen die Substanz fehlt; sie können mir keinen Schaden zufügen. Sie sind nichts weiter als der schwache Nachhall einer vergangenen Realität. Vielleicht werden meine Erinnerungen an das Schloß eines Tages verblassen, doch vergessen kann ich es wohl nie. Zu ungeheuerlich sind die Erfahrungen, die ich bei den Aspens gemacht habe. Bei ihnen habe ich das Böse kennengelernt; das Böse in Reinkultur. Es geht dabei um weit mehr als um unsere menschliche Doppelnatur, um unsere positiven wie negativen Eigenschaften. Ich spreche von einer charakterlichen Verderbtheit, die selbst für die Liebe unüberbrückbar ist; von einer abgrundtiefen Schlechtigkeit, die für die Hölle selbst steht. Natürlich ist mir bewußt, daß es auf Erden nichts Absolutes gibt. Doch die Annäherung daran liegt durchaus im Bereich unserer Möglichkeiten.
Zu allen Zeiten haben unter uns Menschen gelebt, die bestrebt waren, sich im Guten zu vervollkommnen, und solche, die Perfektion im Bösen suchten. Beide Extreme sind selten, doch sie treten auf. Die einen verehren wir als Heilige, die anderen gelten als Sadisten und Satanisten. Während ein Heiliger wegen seines beispielhaften Lebenswandels oft bald als solcher erkannt wird, ist ein Satanist imstande, seine Umwelt lange Zeit über sein wahres Wesen hinwegzutäuschen. Er muß sich verstellen, um seine Opfer fest in seine Gewalt zu bekommen. Die Tarnung ist nicht nur zweckdienlich, sie bedeutet für ihn auch einen erheblichen Lustgewinn. Für die bedauernswerten Menschen, die nichtsahnend in seine Fänge geraten, wirkt sich die Unvereinbarkeit von Schein und Sein oft fatal aus.
Manchmal wandere ich den Hügel zum Schloß empor und durchquere wie früher den steinernen Torbogen mit den beiden mächtigen Steinlöwen, die scheinbar sprungbereit eine rauchgeschwärzte Ruine bewachen. Aspen Hall ist niedergebrannt. Rußige, mit Unkraut überwucherte Mauerfragmente künden vom Untergang eines glanzvollen Herrensitzes, der noch fünf Jahre zuvor zu den stolzesten der Insel zählte. Erhalten sind bloß die monströsen Statuen in den Gärten.
Wie immer liegt eine intensive Stille über der Szenerie. Schon zu Lebzeiten der Aspens pflegten Vögel und andere Tiere diesen Ort zu meiden, und es ist fraglich, ob sie je zurückkehren werden. Das hat nichts mit Aberglauben zu tun, sondern mit dem Gespür freilebender Geschöpfe für Unheil. Der Eindruck drohender Gefahr wirkt in der Natur sehr nachhaltig.
Fröstelnd reiße ich mich von dem gespenstischen Anblick los und betrete den unversehrt gebliebenen Familienfriedhof, der an den südlichen Park grenzt. Das gesamte Geschlecht der Aspens liegt in diesen Gräbern, angefangen bei Roderick, dem Ahnherrn der Sippe, bis hin zu Ronald, dem jüngsten Sproß. Sie sind tot, erloschen. Und mit ihnen das Böse, das von ihnen ausging. Übrig sind nur noch ihre Namen und ihre letzten Ruhestätten. Die Erinnerung an die Herren von Aspen Hall wird allerdings noch lange lebendig bleiben und eines Tages zur schaurigen Legende werden. War es das, was sie bezweckten? Ich weiß es nicht.
Vor dem Grab jener außergewöhnlichen Frau, die Aspen Village und nicht zuletzt auch mich vor einer endlosen Kette von Leid bewahrte, lege ich einen Strauß weißer Rosen nieder. Es ist eine Geste der Versöhnung. Auf diesem Grab liegen noch andere Blumengebinde; es ist das einzige, das hingebungsvoll gepflegt wird. Der ganze Ort trägt zu seinem Schmuck bei. Die Leute wissen, warum sie es tun.
Behutsam streiche ich mit den Fingerkuppen über die Inschrift auf dem schlichten schwarzen Marmorkreuz. Es sind nur vier Worte: Sie ruhe in Frieden.
Ich hoffe es aus ganzem Herzen.
*
Dampfend und pfeifend fuhr der Zug durch eine flache, nebelverhangene Moorlandschaft und rollte am frühen Nachmittag im Bahnhof von Bodmin ein. Hastig suchte ich mein Gepäck zusammen und verließ das Abteil, in dem ich seit nahezu fünf Stunden allein gesessen hatte. Es gab wenige Leute, die es Ende Februar nach Cornwall zog. Auch ich fand die Aussicht, die nächsten Monate oder gar Jahre in diesem entlegenen Teil Englands zu verbringen, nicht gerade verlockend, doch Bettler dürfen bekanntlich nicht wählerisch sein.
Ächzend kam der Zug zum Stehen.
Ich knöpfte meinen Umhang bis zum Hals zu, nahm meine Koffer und kletterte etwas steif das Trittbrett hin-ab. Dann stand ich verloren auf dem Bahnsteig und sah mich suchend um. War niemand gekommen, um mich abzuholen? Ich hatte meine Ankunftszeit doch telegrafisch durchgegeben.
»Miß Duclerque?« sagte hinter mir eine schnarrende Stimme, die einen entschieden unwirschen Beiklang hatte.
»Ja?«
Ich drehte mich um. Vor mir stand ein knochiger, klapperdürrer alter Mann in einer verschlissenen Kutscheruniform. Sein hageres, mit unzähligen Narben und Falten zerfurchtes Gesicht unter der verbeulten Mütze zeigte einen griesgrämigen Ausdruck. Verkniffene braune Augen mu-sterten mich voll intensiver Abneigung. Die schmalen Lippen wölbten sich grimmig nach unten, wie bei einem zähnefletschenden Straßenköter. Fast erwartete ich, ein bösartiges Knurren zu hören.
»Sind Sie Miß Duclerque, Master Ronalds Gouvernante?« forschte der Mann herrisch. Fast schien es, als hege er Zweifel an meiner Identität.
»Ja, ich bin Sheila Duclerque.« Herausfordernd fügte ich hinzu: »Guten Tag.«
Der Alte rümpfte die spitze Nase und erwiderte meinen Gruß mit einem angedeuteten Kopfnicken. »Ich heiße Breward Lenthcarrow«, verkündete er mürrisch und bückte sich schwerfällig nach meinen Koffern. »Wenn Sie die Person sind, die ich abholen soll, dann trödeln Sie nicht. Wir haben eine lange Fahrt vor uns.« Mit diesen Worten stapfte er los. Widerstrebend folgte ich ihm. Höflichkeit gehörte offenbar nicht zu seinen Stärken. Trotzdem wagte ich einen Versuch, ihn für mich zu gewinnen.
»Mr. Lenthcarrow?«
Der Kutscher stieß einen grollenden Laut aus, der wie eine Verwünschung klang. Offenbar war er nicht gewillt, sich mit mir auf eine Unterhaltung einzulassen.
Ich riskierte einen zweiten Vorstoß. »Wie weit ist es zum Schloß?«
»Warten Sie’s ab«, lautete die unverbindliche Antwort.
Ich gab es auf. Gegen soviel Mißmut kam ich nicht an.
Das war kein vielversprechender Auftakt für mein neues Leben als Angestellte. Hoffentlich waren die übrigen Einheimischen liebenswerter als dieser unsympathische Patron, der den Auftrag hatte, mich nach Aspen Hall zu befördern. Ein Jammer, daß Breward Lenthcarrow so wortkarg war. Sein Verhalten verbot es mir, ihm die Fragen zu stellen, die mir auf dem Herzen lagen. Fragen in bezug auf die Aspens. Ich wußte so gut wie nichts über meine zukünftigen Arbeitgeber und hätte meinen Begleiter gern etwas ausgehorcht, bevor ich in die Höhle des Löwen ging. Wie die Dinge lagen, mußte ich meine Wißbegier leider bezähmen.
Eine Information hatte der Kutscher mir allerdings doch gegeben, nämlich, daß mein Zögling Ronald hieß. Das war wenig genug.
In einer Aufwallung von Trotz schnitt ich dem Rücken des Alten eine Grimasse. Zugegeben, es war eine kindische Reaktion, doch sie tat mir wohl, weil sie den dumpfen Druck in meinem Magen löste.
Vor dem Bahnhof wartete eine altertümliche Reisekutsche, auf deren Dach der Alte meine Koffer verlud. Eine brüske Kopfbewegung forderte mich zum Einsteigen auf. Ich gehorchte wütend. Nie zuvor war ich einem so ungehobelten, sprechfaulen Menschen wie Breward Lenthcarrow begegnet. Wenn sich schon der Kutscher so ruppig benahm, wie mochte es dann um die Aspens selbst bestellt sein? Ein Herr ließ sich am besten an seinen Dienstboten messen, hieß es immer. Falls diese Binsenwahrheit zutraf, dann standen mir dornige Zeiten bevor. Mir war gar nicht wohl in meiner Haut.
Während der Wagen in südwestlicher Richtung durch eine ursprüngliche, mit Hecken und Buschwerk durchzogene Landschaft fuhr, hatte ich genügend Muße zum Nachdenken. Meine Zukunft bereitete mir Sorgen. Ob der Kutscher für die Bewohner Cornwalls beispielhaft war? Was sollte ich tun, wenn es mir bei den Aspens nicht gefiel? Was, wenn mein Zögling mich ablehnte? Weshalb mußte ein zwölfjähriger Junge überhaupt daheim unterrichtet werden? Warum besuchte er keine öffentliche Schule wie andere Kinder? Es gab