130. Die schottische Heirat
Von Barbara Cartland
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130. Die schottische Heirat - Barbara Cartland
I ~ 1885
Während der Zug sie durch England trug, saß Clova am Fenster und vermochte immer noch nicht zu fassen, daß die Reise kein Traum, sondern Wirklichkeit war.
Unfaßbar, daß sie noch vor wenigen Wochen in tiefster Verzweiflung gelebt hatte, voller Angst, die Mutter könnte verhungern, noch bevor die Schwindsucht sie hinwegraffte, die der Arzt bei ihr diagnostiziert hatte.
Und ihr selbst drohte das Ende in den kalten, trüben Wassern der Seine oder die Flucht ins Laster, das Paris für ein junges Mädchen in ihrer Lage als letzten Ausweg bereithielt.
Der Zug brauste dahin, und Clova stellte verwundert fest, daß sie sich gar nicht mehr daran erinnern konnte, wie grün England gewesen war, damals, als sie es zum ersten Mal gesehen hatte. Würde es ihr mit Schottland genauso ergehen? Würde es ihr fremd und unbekannt vorkommen?
Sie war siebzehn gewesen, als ihre Mutter, die schöne, ewig lachende Charlotte McBlane, ihrem Mann mit Lionel Arkwright, der wieder einmal den Großvater besucht hatte, um mit ihm in den Hochmooren Birkhühner zu schießen, davongelaufen war.
Schon als Kind fand Clova, daß Lionel Arkwright ein charmanter Mann war, witzig, heiter und sehr verschieden von ihrem Vater, der immer einen ernsten und grüblerischen Eindruck auf sie machte.
Wenn Clova jetzt an ihre Kindheit zurückdachte, mußte sie zugeben, daß sie eigentlich immer eine entsetzliche Angst vor ihrem Vater gehabt hatte.
Vielleicht hätte sich dieser Eindruck geändert, wenn sie ihn besser und länger gekannt hätte. Vielleicht war es nur seine angeborene schottische Schweigsamkeit gewesen, die sie erschreckt hatte.
Ihre Mutter - Clova konnte das verstehen - hatte ihn fad gefunden.
Allerdings erst später.
Am Anfang war der jüngere Sohn des Marquis von Strathblane der Tochter des unbedeutenden, pensionierten englischen Colonels als äußerst blendende Partie erschienen.
Und Lord Alister McBlane war fasziniert von der achtzehnjährigen Charlotte Burton — genannt Lottie —, als er ihr zum ersten Mal in die großen himmelblauen Augen blickte.
Ein Mädchen, wie er in Schottland noch keinem begegnet war.
Lord Alister war beim Lord Lieutenant von Yorkshire anläßlich der Doncaster Rennen zu Gast.
Sie trafen sich auf einem der Bälle, die man zu Ehren der Rennbesucher aus dem Süden in den großen Häusern gab. Lottie stellte, was ihr Äußeres anging, alle ihre Geschlechtsgenossinnen weit in den Schatten.
Ihre lachenden Augen, ihr goldblondes Haar und ihre traumhafte Figur zogen die Blicke der Männer magnetisch an, sobald sie den Ballsaal betrat.
Lord Alister war nicht der einzige, dem Lottie schlaflose Nächte bereitete, aber ganz offensichtlich war er der gesellschaftlich Bedeutsamste von ihnen.
Nach dem Ende der Rennen bemühte er sich ganz unverhohlen um eine Einladung bei Colonel Burton unter dem Vorwand, sich für die ziemlich mittelmäßigen Pferde zu interessieren, die dieser auf dem winzigen Anwesen hielt, das er sein eigen nannte.
Mrs. Burton geriet in Panik.
»Wie kannst du nur einen solchen Mann zu uns einladen?« fragte sie ihren Mann vorwurfsvoll. »Wir besitzen keinen einzigen Diener. Und Geld für eine vernünftige Köchin haben wir auch nicht.«
»Ich glaube kaum, daß es Seiner Lordschaft ums Essen geht«, meinte der Colonel mit einem trockenen Lächeln.
Von dem, was er auf den drei Bällen sah, die er mit seiner Tochter besuchte, wußte er, daß Lord Alister nichts anderes als seine Tochter Lottie im Sinn hatte.
Wie immer, wenn ein Mann in ihr Leben trat, war Lottie auch von diesem Verehrer hellauf begeistert. Und überraschend kurze Zeit später reiste sie nach Schottland, um in dem häßlichen, unbehaglichen Haus auf dem Besitztum des Marquis zu wohnen, das man als höchst ausreichend für den jüngeren Sohn ansah.
Lord Alister beklagte sich nicht.
Wie Lottie feststellte, war er es gewöhnt, sich mit den Brosamen zufrieden zu geben, die vom Tisch der Reichen fielen — in seinem Fall des Vaters und des älteren Bruders, der einmal der Erbe des Marquisats sein würde.
Widerstandslos schickte er sich in die Dinge, während Lottie gegen die Ungerechtigkeit aufbegehrte, die sich vor allem in dem bescheidenen Unterhaltsgeld zeigte, das der Vater seinem jüngeren Sohn zahlte. Außerdem überließ der Marquis ihm nur minderwertige Pferde, und Alister war gezwungen, sich mit ungeschliffenen und ungeschulten Dienern zu begnügen.
Wenn Clova sich zurückerinnerte — was nicht einfach war, da sie damals noch ein Kind gewesen war —, hatte Lottie dieses Leben trotz allem nicht als unerträglich empfunden. Im Gegenteil, sie hatte es genossen bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Ehrenwerte Lionel Arkwright ihren Weg kreuzte.
Zu Beginn der Moorhuhnjagd fanden sich alljährlich eine Anzahl Gentlemen auf Strathblane ein, und es dauerte nie sehr lange, bis sie allesamt im Haus Lord Alisters auftauchten. Denn ob jung oder alt, Lottie zog sie an wie das Licht die Motten.
Als Clova sieben war, passierte es immer häufiger, daß die Gentlemen, die nach Tweed und teuren Zigarren dufteten, den Arm um sie legten und zu Lottie sagten: »Sie wird einmal genauso schön werden wie ihre Frau Mama, oder doch beinahe so schön, wenn sie erwachsen ist.«
Ihre Mutter lachte dann und erwiderte: »Sie sollten dem Kind nicht den Kopf verdrehen mit Ihren Komplimenten!«
Die unvermeidliche Antwort darauf lautete: »Ich möchte nur wissen, wie es möglich ist, Ihnen den Kopf zu verdrehen.«
Wenn die Gentlemen mit ihrer Mutter sprachen, klangen ihre Stimmen dunkler als gewöhnlich und nahmen einen auffallend schmeichelnden Klang an. Dies entging Clova ebenso wenig wie die Tatsache, daß ihre Mutter den Sprecher dann aus ihren großen Kulleraugen unter seidigen Wimpern anschaute und dabei auf eine Art lächelte, die ein wenig scheu und verlegen wirkte, gleichzeitig aber etwas unglaublich Lockendes und Verführerisches an sich hatte.
Clova entging auch nicht, daß ihre Mutter in Gegenwart anderer Männer regelrecht aufblühte und noch schöner war als sonst.
Nach solchen Besuchen redete Lord Alister oft kein Wort während der Mahlzeiten, und die Mutter fragte ihn dann unwillig: »Hörst du mir eigentlich zu, Alister?«
»Ja, meine Liebe, natürlich.«
»Na schön, dann sag mir, was mit Clovas Pony geschehen soll? Sie ist inzwischen wirklich zu alt dafür. In ihrem Alter braucht sie ein Reittier, das nicht nur größer, sondern auch lebhafter ist.«
»Ich werde sehen, was ich machen kann.«
Clova wußte aus Erfahrung, daß er nichts machen konnte. Er hatte nicht das Geld für ein neues Pferd, denn er führte ein ziemlich nutzloses und untätiges Dasein.
Sein Vater — das Haupt des McBlane-Clans — erlaubte ihm nicht, irgendeine Aufgabe auf dem Gut zu übernehmen.
Was der Marquis nicht selbst tun konnte, überließ er Rory, seinem ältesten Sohn, in den er ganz offensichtlich völlig vernarrt war, während Alister ihm genauso offensichtlich gleichgültig war.
Die beiden Brüder hatten wenig gemeinsam. Auch äußerlich nicht. Rory glich seinem Vater, und Alister, wie Clova annahm, seiner Mutter, die bald nach seiner Geburt gestorben war.
Den Erzählungen nach war sie keine sehr schöne Frau gewesen, aber sie hatte eine beträchtliche Mitgift in die Ehe eingebracht und gehörte zu einem Clan, der mit den McBlanes verbündet war.
Es war Lottie gewesen, die Jahre später die Wahrheit über ihre Situation in Schottland erzählt hatte.
»Alle verachteten den armen Alister, weil er eine Landfremde geheiratet hatte — und obendrein noch eine ohne Vermögen«, sagte sie.
»Aber er liebte dich, Mama.«
»Natürlich liebte er mich. Soweit er überhaupt fähig war, einen Menschen zu lieben. Er war kein Mann mit starken Gefühlen, und oft habe ich mich gefragt, was er wohl empfunden hat, als ich ihn verließ.«
Clova konnte ihr diese Frage nicht beantworten, denn als ihre Mutter mit Lionel Arkwright Schottland verließ, hatte sie ihre Tochter mitgenommen.
»Ich werde mein Baby nicht alleinlassen«, erklärte Lottie damals in einer Anwandlung von Sentimentalität, obwohl Clova bereits sieben war. »Das Kind ist so hübsch und gleicht mir so sehr, daß die McBlanes Clova bestimmt für meine Sünden büßen lassen würden, und das könnte ich nicht ertragen.«
Aber Lottie war es, die für ihre Sünden büßen mußte.
Am Anfang war alles wundervoll. Lionel Arkwright war reich. Er nahm sie mit nach Paris, wo er ganz in der Nähe der berühmten Champs Elysees ein vornehmes Haus besaß.
Lionel hatte viele Freunde in Paris, und obwohl deren Frauen Lottie ablehnten, weil sie ihren Gatten verlassen hatte und mit Lionel in Sünde lebte, waren die Männer von Lottie begeistert. Sie wetteiferten um ihre Gunst.
Lionel Arkwright kaufte ihr Kleider, die sie noch hinreißender machten, als sie es schon war.
Wenn sie — funkelnd und glitzernd — im Glanz ihres Geschmeides Clova gute Nacht sagte, dachte das kleine Mädchen immer, daß ihre Mutter aussah wie eine Märchenprinzessin in den Bilderbüchern, aus denen ihre schottische Gouvernante ihr vorgelesen hatte.
Da die Mutter Paris entzückend fand, fühlte auch Clova sich in der Stadt wohl. Die tanzenden Brunnen auf dem Place de la Concorde, die blühenden Kastanienbäume in den Champs Elysees, die Seine, die sich wie ein silberner Mäander unter den zahlreichen Brücken hindurchschlängelte, all das sprach zu ihr mit einer Beredsamkeit, wie es Worte nicht vermochten.
Clova genoß ihre Unterrichtsstunden, die ihr neue Horizonte eröffneten, von deren Existenz sie nie etwas gewußt hatte. Denn in Schottland hatte sie nur das Alphabet gelernt, das kleine und große Einmaleins und einige Morgen-, Abend- und Tischgebete.
Sie war zehn, als das Schicksal zuschlug.
Lionel Arkwrights Vater starb, und sein Titel ging auf Lionel über. Also kehrte Lionel nach England zurück, um ein riesiges Erbe anzutreten. Obwohl er versprach, bald zurückzukommen, wußte Lottie, daß es das Ende ihrer Beziehung war.
Doch Gentleman, der er war, bedachte Lionel sie mit einem ansehnlichen Geldbetrag, der Lottie ein sorgloses Leben sicherte.
Unglücklicherweise hatte Lionel Lottie in jedem Frühling mit nach Monte Carlo genommen. Der Aufenthalt dort gehörte zum guten Ton, und der eigentliche Anziehungspunkt der Stadt war das weltberühmte Spielkasino.
Lottie fand das Roulette und die Baccarat-Spieltische unwiderstehlich, und im ersten Jahr, nachdem Lionel sie verlassen hatte, verlief der Aufenthalt in der Metropole des kleinen Fürstentums ohne Schwierigkeiten.
Unter den Männern, die sie von Paris her kannte, gab es immer genügend Bewunderer, die nur darauf warteten, Lotties Spielverluste zu zahlen, ihr das Geld für die hohen Einsätze vorzustrecken und ihr die gewonnenen Beträge zu überlassen.
Als sie nach Beendigung der Saison nach Paris zurückkehrte, mußte Lottie erkennen, daß Lionel Arkwright das Haus, in dem sie mit ihm zusammenlebte, verkauft hatte.
Einen Teil des Geldes, das ihm der Verkauf einbrachte, hatte er auf ihr Bankkonto überwiesen, aber — wie Clova traurig dachte — Geld war nicht das gleiche wie das Haus, das sie die ganze Zeit über als ihr Heim angesehen hatte.
Nun machte sie sehr bald die Erfahrung, daß es auch in Paris Orte gab, an denen gespielt wurde, und Lottie fuhr fort, sich weiterhin so aufwendig zu kleiden wie in der Zeit, in der sie mit Lionel Arkwright zusammen gewesen war.
Langsam und unvermeidbar wurden die Dinge schwieriger.
»Ich fürchte, wir werden umziehen müssen«, sagte Lottie zu ihrer Tochter.
Eine Mitteilung, die Clova auch zuvor schon gehört hatte.
»Oh, nicht schon wieder, Mama!«
»Es ist lächerlich, welch hohe Miete wir für diese Wohnung zahlen! Sie ist ihren Preis nicht wert. Viel zu dunkel und unbequem. Und außerdem liegen die Schlafzimmer zu nahe beieinander.«
Clova wußte, daß dies ungünstig war, denn sie wurde jedes Mal wach, wenn ihre Mutter spät in der Nacht nach Hause kam und der jeweilige Begleiter mit dunkler Stimme auf sie einredete.
Dann plötzlich hatte die Mutter wieder Geld im Überfluß, und in Clovas Leben gab es wieder einen neuen Gentleman, den sie »Onkel« nennen mußte.
Im Laufe der Zeit wechselten die Onkel immer rascher, und sie wurden ebenfalls immer älter.
Letzteres galt auch für Lottie, obwohl sie immer noch eine schöne Frau war. Nur zeigten sich unter ihren Augen dunkle Linien, die früher nicht dagewesen waren. Und oft war sie müde und lustlos, nicht nur am Morgen, sondern während des ganzen Tages.
»Ich glaube, du brauchst ein Stärkungsmittel, Mama«, sagte Clova dann.
Und die Mutter gab unwillig zurück: »Was ich brauche, ist Geld. Sonst nichts!«
Doch da Clova sich wirkliche Sorgen machte, hatte sie es vor ungefähr einem Jahr durchgesetzt, daß Lottie einen Arzt aufsuchte, einen Spezialisten, wie man ihn nannte.
Er untersuchte Lottie gründlich, und während sie sich wieder ankleidete, kam er zu Clova ins Wartezimmer.
»Ich muß mit Ihnen sprechen, Mademoiselle«, sagte er. »Sie müssen sehr tapfer sein.«
Clovas Augen weiteten sich vor Angst.
»Wegen Mama?«
»Ja, wegen Ihrer Frau Mutter.«
»Was ist mit ihr?«
Nur mühsam kam die Frage über ihre Lippen.
»Ich fürchte, Ihre Mutter leidet an einer Krankheit, die von Laien Schwindsucht genannt wird. Der medizinische Name dafür ist